Ängste und Bedürfnisse junger Menschen Jugendforscher: "Ich habe nicht damit gerechnet, dass es der Regierung so egal ist"
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13. Oktober 2024, 05:00 Uhr
Junge Menschen stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Ihre Gegenwart ist geprägt von Krisen, Kriegen oder dem Klimawandel. Die Generation Z fühlt sich aber weder gehört noch ernstgenommen. Das könnte drastische Folgen haben und etwa in einer stillen Revolution enden, warnt ein Experte – und das 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution.
- Die Probleme: Inflation, Krieg, Migration, Altersarmut.
- Verständnis für Rechtsruck bei Landtagswahlen in Ostdeutschland.
- Gibt es Parallelen zur Friedlichen Revolution?
- Überhört: Die AfD gibt sich als Kümmerer für die GenZ.
"Das ist der aktuelle, soziale Sprengstoff: Eine große Gruppe junger Menschen fühlt sich finanziell abgehängt", sagt Jugendforscher Simon Schnetzer. Die sogenannte Generation Z (GenZ) ist die erste Generation seit Jahrzehnten, denen es wirtschaftlich wahrscheinlich schlechter gehen wird als ihren Eltern. "Sie merken, bei uns reicht es nicht mehr für so viel. Wir müssen Verzicht üben und das tagtäglich."
"Das ist schon fast wirtschaftliche Ungerechtigkeit", so empfindet es Ida Grandi. Die junge Mutter aus dem Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt arbeitet in Vollzeit – und dennoch: "Alles wird teurer, das Geld knapper. Ich muss überlegen, ob ich meinen Sohn oder mir etwas zum Anziehen kaufe." Grandi ist 1994 geboren und zählt damit theoretisch nicht mehr zur sogenannten GenZ, denn dazu gehören per Definition nur Menschen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren (geboren zwischen 1995 und 2010).
Doch die Übergänge sind ohnehin fließend und die Probleme sowie deren Umgang damit betreffen weitaus mehr Menschen. So waren nach einer repräsentativen Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach Ende vergangenen Jahres 57 Prozent der unter 30-Jährigen der Ansicht, dass "wir gerade ziemlich schwierige Zeiten durchmachen". Die ältere Bevölkerung beurteilt die Lage deutlich negativer. Bei den über 45-Jährigen sind mehr als ein Dreiviertel dieser Ansicht.
Die Probleme: Inflation, Krieg, Migration, Altersarmut
Die Sorgen sind zahlreich: "Inflation, Krieg, der knappe, teure Wohnraum, die Spaltung der Gesellschaft und Zuwanderung", sagt Schnetzer. Der selbstständige Jugendforscher veröffentlicht seit 2010 die Studie "Jugend in Deutschland", eine der umfassendsten zur GenZ. Hinzu kommt für junge Menschen noch die drohende Altersarmut. "Das sind drei sehr große Themen, die direkt mit Geld zu tun haben."
Die wirtschaftlichen Entwicklungen betreffen alle, doch die jungen Menschen besonders – da kurz- und langfristig. "Die steigenden (Konsum)Preise bestimmen maßgeblich das alltägliche Leben und dessen Ausgestaltung", sagt die 26-jährige Lilly aus Weimar in Thüringen. "Trotz hoher Gehaltsstufe im öffentlichen Dienst sind vielerlei Ausgaben und Unternehmungen kritisch zu überdenken."
Es passieren ungeheure Generationen-Ungerechtigkeiten.
Alle junge Menschen in diesem Text sind Mitglieder bei MDRfragt. Ihre Antworten decken sich mit dem, was Jugendforscher Schnetzer herausgefunden hat: Die junge Generation ist pessimistischer geworden. Das steht in der jüngsten Trendstudie "Jugend in Deutschland 2024", die Schnetzer und zwei Kollegen erstellt und im April veröffentlicht haben. Es ist eine der umfassendsten Analysen zu Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland.
Laut Studie stieg bei 2.042 befragten 14- bis 29-Jährigen die mentale Belastung. Sorgen um den Wohlstand führten demnach zu hoher politischer Unzufriedenheit und einem deutlichen Rechtsruck.
Verständnis für Rechtsruck bei Landtagswahl
Das haben die unter 30-Jährigen in den vergangenen Monaten auch zum Ausdruck gebracht – vor allem in Ostdeutschland. So haben in dieser Altersgruppe bei den jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen über 30 Prozent die AfD gewählt – und damit teils sogar mehr als andere Altersgruppen. Die Partei ist in zwei Ländern als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und in Brandenburg ein rechtsextremer Verdachtsfall.
Das so viele Menschen die AfD wählen, war über eine lange Zeit abzusehen und politisch wurde nichts dafür getan, dem entgegenzuwirken.
Für den Rechtsruck "kann ich nur mein vorsichtiges Verständnis ausdrücken", sagt Emil Schüller aus dem sächsischen Vogtlandkreis. Wobei der 22-Jährige der Auffassung ist, dass rechts besser von rechtsextrem abgrenzt werden müsse. "Nicht jeder der AfD wählt ist ein Nazi und nicht jeder der eine grundsätzlich rechte Einstellung hat, ist gleich rechtsextrem. Für eine ausgewogene Demokratie brauchen wir eine Rechte ebenso wie eine Linke und Liberale."
Dass so viele Menschen die AfD wählen, "diese Tendenz war über eine lange Zeit abzusehen und politisch wurde nichts dafür getan, dem entgegenzuwirken", sagt Schüller. Es fehle eine Politik für den einfachen Bürger und die breite Masse.
Ihn bewegt, dass der ländliche Raum gegenüber den Großstädten abgehängt sei: "Schlecht aufgestellte Feuerwehren, wenige Polizeistreifen, aussterbende Ortskerne und damit verbunden immer weniger Arbeitsplätze stimmen mich zunehmend missmutig", stellt Schüller fest. Auch die Themen Migration und Sicherheit spielten für ihn eine große Rolle. Auch er mache sich große Sorgen um die Zukunft.
Expertin: Arme Kinder haben andere Ängste
Der Frust steigt bei jungen Menschen: "Es gibt einfach einen unglaublich hohen Anteil an Kindern, die Eltern haben, die wenig Geld haben", sagt Politikwissenschaftlerin Nina Kolleck. Laut der Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam haben die Jüngeren auch gerade angesichts der Inflation und etwa einer Preissteigerung von 30 Prozent bei Lebensmitteln "natürlich auch noch einmal ganz andere Ängste".
Wenn man sich die Zahlen anschaut, wäre das Grund genug für eine Revolution.
Das sucht sich ein Ventil: "Die AfD wird vor allem von jungen Menschen gewählt, die eher ärmlich aufwachsen", beschreibt Kolleck. Dagegen würden etwa die Grünen eher von Kindern aus gutbürgerlichen Familien gewählt. Die AfD werde tendenziell eher von Menschen gewählt, die sich als Verlierer einer Gesellschaft fühlen.
"Es passieren eigentlich ungeheure Generationen-Ungerechtigkeiten", sagt Forscher Schnetzer. Es werde etwa wenig für ein intaktes Klima investiert. Es fehle angesichts der demografischen Entwicklung eine nachhaltige Finanzierung der Rentensysteme. "Wenn man sich die Zahlen anschaut, wäre das Grund genug für eine Revolution."
Die junge Generation hatte bereits versucht, bei einer der wichtigsten Fragen ihrer Zukunft etwas grundlegend zu verändern. Die "Fridays for Future"-Bewegung hat mit den Klimaprotesten auch in Deutschland Millionen junge Menschen mobilisiert und politisiert. "Sie haben aber auch durch die Corona-Pandemie unglaublich an Einfluss verloren", sagt Schnetzer. Hinzu kamen sicherlich noch Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.
Gibt es Parallelen zur Friedlichen Revolution?
Eine der Generationen vor der GenZ hat eine Friedliche Revolution erfolgreich durchgeführt, wenn auch unter anderen ganz Umständen und Bedingungen. Vor 35 Jahren, am 9. Oktober 1989, erlebte diese in Leipzig einen Schlüsselmoment, als 70.000 Menschen – darunter viele junge – auf die Straße gingen.
Aktuell gebe es ebenfalls große strukturelle Probleme, findet auch Luise Anter aus Dresden. Doch sie sehe "wenig Parallelen zwischen heute und 1989", so die 28-Jährige. "Meine Eltern sind damals selbst auf der Straße gewesen – es wäre absolut anmaßend, wenn ich jetzt die Notwendigkeit einer neuen friedlichen Revolution auch nur andeuten würde." Für sie bedeutet Revolution: "Die grundlegende Veränderung eines politischen Systems und dafür sehe ich […] keine Notwendigkeit".
Ich bin sehr, sehr froh, in einer parlamentarischen Demokratie mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben zu dürfen.
Es würden zwar finanzielle, steuerliche und wirtschaftliche Änderungen benötigt, argumentiert Anter. "Aber! Ich bin sehr, sehr froh, in einer parlamentarischen Demokratie mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben zu dürfen." Auch wenn an der Demokratie noch etwas verbessert werden könne, etwa durch die stärkere Einführung von Bürgerräten oder indem die Schweiz als Vorbild diene.
Hinzu kommt: "Ich würde mich auch dem großen Lager jener zurechnen, die unzufrieden mit der aktuellen Bundesregierung sind und die ein Problem damit haben, dass konservative und rechte Positionen per se als minderwertig im Vergleich zu progressiven, linkeren erachtet werden." Doch Anter fügt hinzu, dass es eher diskursive und parteipolitische als systemische Änderungen brauche.
"Im Gegenteil, ich würde mich durchaus als 'Verfassungspatriotin' bezeichnen", so die Dresdnerin. "Entsprechend macht es mir große Sorgen, wenn ich sehe, wie die AfD in Thüringen die Rechte der Parlamentarier mit Füßen tritt." Sie befürchtet, dass sich die AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gerade als neue Volkspartei etabliere und das keine "Phase" im Leben von jüngeren Menschen sei. Dem müsste entgegengesteuert werden.
Junge Menschen haben in der Corona-Pandemie besonders gelitten
"Die jungen Menschen sind die Zukunft der Gesellschaft. Dies verdrängen anscheinend viele", sagt Professorin Kolleck. "Junge Menschen spielen eine viel zu geringe Rolle für die demokratischen Parteien und in unserer Gesellschaft insgesamt." Der Fokus liege klar auf den Interessen der Erwachsenen. "Das spüren Kinder." Dabei macht die GenZ - die 14- bis 29-Jährigen – mit knapp 14,4 Millionen fast 17 Prozent der Bevölkerung aus.
Womit ich nicht gerechnet habe: Dass es der Regierung so egal ist.
"Das große Versäumnis der Politik ist Beteiligung", sagt Schnetzer. Ein Beispiel dafür sei aus Sicht des Jugendforschers: "Wir machen die Schulen dicht bei Corona und sagen: 'Junge Leute kommt klar mit eurem Leben.'" Doch wenn es darum geht, was die Schule macht, dann hätten die Betroffenen jungen Menschen nicht mitzureden. Professorin Kolleck ergänzt dazu die Sichtweise junger Menschen: "Die Älteren haben uns den Klimawandel gebracht, den demografischen Wandel verantwortet und jetzt haben sie die Migration nicht im Griff."
Überhörte Generation: Die AfD gibt sich als Kümmerer für die GenZ
Jeder zieht daraus eigene Schlüsse: "Deutschland, so wie es gerade läuft, gefällt mir nicht mehr und das macht mir auch Angst", sagt Ida Grandi, die ledige Mutter aus dem Burgenlandkreis. So wie ihr, gehe es vielen.
"Wenn Menschen das Gefühl bekommen, keine Perspektive zu haben, dann können sie sich dem Land oder dem System entziehen", warnt Schnetzer. Das könne etwa geschehen, indem nichts mehr in ein Rentensystem eingezahlt wird, von dem die GenZ ohnehin befürchtet, in Zukunft nicht davon zu profitieren. "Es wäre eine stille Revolution."
Das Zauberwort dagegen lautet Beteiligung, empfiehlt Schnetzer: "Wir bekommen als Reaktion auf unsere Studien hundertfach zu hören: 'Danke. Endlich hört uns mal jemand zu. Hoffentlich bringt es was.'" Das sei auch ein Ziel der Studie: Die Ängste und Bedürfnisse junger Menschen aufzuzeigen, sodass die Politik, die Bedürfnisse aufgreifen könnte.
"Womit ich nicht gerechnet habe, dass es der Regierung so egal ist", kritisiert Schnetzer. Stattdessen greife vor allem die AfD gern die Studie auf und stelle sich so als Kümmerer für die GenZ auf. "Auch so kommt es, dass sie als beliebteste Partei bei den Jungen dasteht."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 07. Oktober 2024 | 08:51 Uhr