Junge Menschen mit Schwalbe und Simson auf einer Altstadtstraße in Tangermünde in Sachsen-Anhalt
Junge Menschen mit Schwalbe und Simson auf einer Altstadtstraße in Tangermünde in Sachsen-Anhalt Bildrechte: imago images/Jürgen Ritter

MDRfragt Ost-West-Debatte spaltet: Hälfte der Befragten hält sie für notwendig, andere für nervig

02. Oktober 2024, 03:00 Uhr

35 Jahre nach dem Mauerfall hält jeder und jede zweite Befragte eine Diskussion darüber weiterhin für notwendig, was Osten und Westen verbindet und unterscheidet. Beide Teile Deutschlands entfernten sich jedoch aktuell eher voneinander, als zusammenzuwachsen, finden sieben von zehn Befragten. Bei den 16- bis 29-Jährigen haben vergleichsweise viele diesen Eindruck. Das zeigt das aktuelle MDRfragt-Stimmungsbild aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit mehr als 24.000 Befragten.

Pierre Gehmlich
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"Absolut nervig" findet MDRfragt-Teilnehmer Andy (29) aus dem Landkreis Bautzen die anhaltende Diskussion über Osten und Westen. "Es nervt, ständig Aussagen zu hören wie: In der DDR war das und das und das besser. Da hat das und das super funktioniert." Besonders jüngere Menschen bis 30 hätten nichts mehr mit Ost und West am Hut. Aus Sicht von Jannes (25) aus Magdeburg dagegen unterscheiden sich die Einstellungen in den beiden Teilen Deutschlands weiter deutlich, denn "sonst ergäben sich schließlich gar keine Gelegenheiten mehr zu solcherlei Debatten." Mit ihrer Sicht stehen die beiden nach dem Mauerfall geborenen MDRfragt-Teilnehmer stellvertretend für zwei ähnlich große Lager in der aktuellen Befragung zur Deutschen Einheit. Eine Hälfte der Befragten (50 Prozent) hält den Ost-West-Diskurs für notwendig. Ähnlich viele (48 Prozent) sind von der Debatte genervt.

Ost-West-Debatte
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Bei Jüngeren halten vergleichsweise viele die Ost-West-Debatte für notwendig

Der Vergleich der Altersgruppen bei dieser Frage zeigt: Bei den 16- bis 29-Jährigen halten im Vergleich mit älteren Altersgruppen sehr viele (71 Prozent) die Diskussion über Ost und West weiter für notwendig. Lukas (27) aus Leipzig beschreibt in seinem Kommentar, wie hin- und hergerissen er bei der Frage ist: Diese Auseinandersetzungen "sind theoretisch notwendig, um die Probleme zu beleuchten, aber man muss sie dann auch angehen. Sie sind praktisch absolut nervig, weil die Probleme schon seit Jahren bekannt sind, es sich nichts ändert und auf den Osten eher negativ herab geschaut wird." Luise (28) aus Dresden findet: "Wir müssen diskutieren, warum der Osten anders ist (und siehe Steffen Mau: bleiben wird)." Sie wünsche sich aber eine weniger hysterische und weniger westdeutsch geprägte Debatte. Die problematisiere und exotisiere den Osten immer noch. "Kernproblem ist für mich das weitgehende Fehlen 'ganz normaler Ostdeutscher' in der Debatte und in wichtigen gesellschaftlichen Institutionen", schreibt Luise.

Kernproblem ist für mich das weitgehende Fehlen 'ganz normaler Ostdeutscher' in der Debatte.

MDRfragt-Teilnehmerin Luise (28) aus Dresden

Auch der Vergleich nach der Herkunft der MDRfragt-Teilnehmenden zeigt Unterschiede: Die Hälfte der in der DDR Geborenen sind von der Ost-West-Debatte genervt (50 Prozent). Bei denjenigen, die in der BRD vor dem Mauerfall geboren wurden, sind es dagegen sechs von zehn Befragten (58 Prozent). In sehr vielen Kommentaren haben Befragte darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht schon das ständige Sprechen über Osten und Westen ein Zusammenwachsen behindere. "Ein wichtiger Punkt ist, nicht in Ost und Westdeutschland explizit zu unterscheiden. Es ist Deutschland", schreibt Alexandra (48) aus Nordsachsen. Aus Sicht zahlreicher MDRfragt-Teilnehmer betonen Politiker und auch Journalisten eher Unterschiede, als Gemeinsamkeiten zu betonen.

Große Mehrheit sieht kein Zusammenwachsen, sondern Auseinanderdriften

34 Jahre nach der Deutschen Einheit sind die Deutschen bisher nicht zu einer Nation zusammengewachsen, finden sieben von zehn Befragten (71 Prozent). Oliver (52) aus Leipzig geht von einem noch sehr langen Weg aus: "Ein automatisches Zusammenwachsen wird es sicher irgendwann geben. Ohne weiteres Zutun jedoch wohl nicht mehr zu meinen Lebzeiten." Tom (28) aus dem Vogtlandkreis sieht einen Grund, warum es weiter Trennlinien zwischen Ost und West gibt: "Viele Menschen in den alten Bundesländern haben es bis heute nicht geschafft, überhaupt mal eine Region bei uns zu besuchen und sich eine eigene Meinung zu bilden." Aus der Sicht von Jürgen (37) aus Weimar müssen die Menschen in Deutschland gar nicht zu einer Nation zusammenwachsen: "Wir sollten dennoch zusammengehören und keine entfallene Grenze mit der Thematik Ost/West aufrechterhalten."

Ein automatisches Zusammenwachsen wird es sicher irgendwann geben. Ohne weiteres Zutun jedoch wohl nicht mehr zu meinen Lebzeiten.

MDRfragt-Teilnehmer Oliver (52) aus Leipzig

Der Blick auf das Zusammenwachsen hat sich seit der letzten Befragung vor einem Jahr kaum verändert. Im September 2023 ging nur jeder und jede Vierte (25 Prozent) von einem Zusammenwachsen aus. Das sehen in der aktuellen Befragung 27 Prozent der Teilnehmenden so – und damit kaum mehr als im vergangenen Jahr.

Zusammengewachsen zu Nation - Zustimmung
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Sieben von zehn Befragten (71 Prozent) haben den Eindruck, dass Osten und Westen sich aktuell eher entzweien, als weiter zu vereinen. Eine von ihnen ist Karina (47) aus Gera. Sie bedauert: "Man war auf einem guten Weg zusammenzuwachsen. Aber die Einstellung und Undankbarkeit vieler Menschen hier lässt uns hart auseinanderdriften. Der Schaden, der durch starke AfD-Ergebnisse entsteht, kann von der Politik nicht kompensiert werden."

Besonders stark empfinden diese Bewegung offenbar die Jüngeren: Bei den 16- bis 29-Jährigen stimmen acht von zehn Befragten (79 Prozent) der Aussage vom Auseinanderdriften von Osten und Westen zu und damit deutlich mehr als in den anderen Altersgruppen. Sonja (29) aus Leipzig geht von einem "absoluten Auseinanderwachsen" aus: "Vor allem im Hinblick auf die Wahlen. Bei mancher Berichterstattung war ich wirklich schockiert, wie in den Medien von den 'Ostdeutschen' gesprochen wird... von Menschen, die die Teilung nicht mal erlebt haben!" Thomas (43) aus Dresden dagegen findet: "Ich hab' den Eindruck, dass man im Wechsel mal ein Stück zusammen kommt und sich dann entfernt, vermutlich biografisch bedingt als Reaktion auf politische Umstände."

Große Mehrheit spürt weiter Ost-West-Unterschiede

Neun von zehn Befragten (91 Prozent) stimmen folgender Aussage zu: "Politik und Wirtschaft werden zu stark von Westdeutschen bestimmt". Acht von zehn Teilnehmenden (76 Prozent) haben den Eindruck, die "Ostdeutschen sind an vielen Stellen zweite Klasse". Benachteiligungen werden auch im 34. Jahr der Deutschen Einheit vorrangig bei den Löhnen und Gehältern gesehen. Das finden acht von zehn Befragten (82 Prozent). Bei 16- bis 29-Jährigen sehen noch einmal deutlich mehr Nachteil bei Löhnen und Gehältern als in anderen Altersgruppen (90 Prozent). "Ich habe für ostdeutsche Verhältnisse ein relativ gutes Erbe in Aussicht, aufgrund von immer noch existierenden Lohnunterschieden stehe ich, was Altersbezüge angeht, dennoch schlechter da", schreibt Henriette (30) aus Leipzig. Auch bei Renten und Altersabsicherungen (77 Prozent) und Eigentum und Erbe (74 Prozent) sehen viele Befragten Ostdeutsche als benachteiligt an. "Der größte Unterschied ist der Besitz. Ostdeutsche hatten vielleicht 10 Jahre, um Besitz zu erlangen, Westdeutsche einige Jahrzehnte mehr", findet Frida (24) aus Jena. Zudem werde in der Bundespolitik immer von den westdeutschen Verhältnissen ausgegangen. Das benachteilige Menschen im Osten Deutschlands weiter.

„Ostdeutsche sind zweite Klasse.“
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Entsprechend wird von jeweils einer Mehrheit mehr Einsatz bei den Löhnen (81 Prozent) oder in der Wirtschaftspolitik (59 Prozent) gefordert. Ein Nachjustieren sei auch beim Besetzen von Führungspositionen nötig, finden sechs von zehn Befragten (56 Prozent). Das könnte ihrer Sicht etwas dazu beitragen, dass Deutschland in den nächsten Jahren enger zusammenwächst. Diese Einschätzungen ziehen sich quer durch alle Altersgruppen. "Nicht reden, sondern tun!" fasst Volkmar (76) aus dem Landkreis Zwickau. Aus Sicht von Markus (46) aus der Börde ist dagegen weiter eine Diskussion wichtig. Aber eben zwischen den Menschen aus Ost und West und nicht übereinander: "Wir müssen miteinander reden. Ohne Vorurteile und dabei muss endlich alles auf dem Tisch. Zu oft wird einfach nur mit dem Finger auf den anderen gezeigt."


Über diese Befragung Die Befragung vom 12. bis 16. September 2024 lief unter der Überschrift: "Sind wir der Osten – und wenn ja, wie viele?"

Bei MDRfragt können sich alle anmelden und beteiligen, die mindestens 16 Jahre alt sind und in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen, denn: Wir wollen die Vielfalt der Argumente kennenlernen und abbilden. Die Kommentare der Befragten erlauben, die Gründe für die jeweiligen Positionen und das Meinungsspektrum sichtbar zu machen.

Da sich jede und jeder beteiligen kann, der möchte, sind die Ergebnisse von MDRfragt nicht repräsentativ. Bei dieser Befragung haben sich 24.476 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen online mit ihrer Meinung eingebracht.

Die Ergebnisse von MDRfragt werden nach wissenschaftlichen Kriterien anhand verschiedener soziodemografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad gewichtet, um sie an die tatsächliche Verteilung in der mitteldeutschen Bevölkerung anzupassen. Damit wird die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht und es ergibt sich ein valides und einordnendes Stimmungsbild aus Mitteldeutschland.

MDRfragt wird zudem wissenschaftlich beraten und begleitet, beispielsweise durch regelmäßige Validitätstests. Mehr zur Methodik von MDRfragt finden Sie am Ende des Artikels.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 02. Oktober 2024 | 16:00 Uhr