Fachkräftemangel Welche Nachteile es im Osten von Deutschland gibt

09. Dezember 2023, 05:00 Uhr

Der Geburtenknick nach der Wende im Osten von Deutschland hat bis heute Auswirkungen – und diese Folgen werden auch künftig zu spüren sein. Doch Unternehmen in Mitteldeutschland sehen noch weitere Gründe für den Fachkräftemangel und spezielle Probleme für die Zukunft.

Oben auf dem signalgelben Transporter glänzen die blauen Warnleuchten. Im steril- weißen Innenraum werden gerade Schränke für die medizinische Ausrüstung verschraubt. Rettungswagen sind seit über 30 Jahren das Kerngeschäft von "Ambulanz Mobile". Die in Schönebeck ausgebauten Spezialfahrzeuge fahren in 40 Ländern auf der ganzen Welt. Das Arbeitspensum ist hoch, das Auftragsbuch voll, doch es fehlt an Fachkräften.

Derzeit sind bei den Elektrikern im Unternehmen acht Stellen unbesetzt. Das klingt bei 320 Mitarbeitenden insgesamt nicht viel. "Aber man muss halt wissen, dass durch das Fehlen der Elektriker ein Stau in der Produktion entsteht", sagt Personalleiter Patrick Scheller. Dadurch könnten insgesamt weniger Fahrzeuge produziert werden. Aktuell produzieren sie etwa 1.300 Fahrzeuge pro Jahr, es seien auch mal 1.600 gewesen. Das Minus liege am Fachkräftemangel und könne weder durch ungeliebte Samstagsschichten oder teure Überstunden ausgeglichen werden – die braucht es immer wieder, um die aktuellen Aufträge fertigzustellen.

Wenn ich das jetzt mal auf 300 Fahrzeuge rechne, dann sind das schon bis zu 15 Millionen Euro, die vom Umsatz pro Jahr fehlen.

Hans-Jürgen Schwarz Geschäftsführer Ambulanz Mobile

Diese 300 Fahrzeuge weniger fehlen dann auch bei den Kunden: den Rettungsdiensten. Hinzu kommt, dass sich die Minderproduktion natürlich auch in der Bilanz des Unternehmens niederschlägt. Laut Geschäftsführer Hans-Jürgen Schwarz könnte die deutlich besser ausfallen: "Wenn ich das jetzt mal auf 300 Fahrzeuge rechne, dann sind das schon bis zu 15 Millionen Euro, die vom Umsatz pro Jahr fehlen."

Es wird in Mitteldeutschland besonders ernst

Viele Branchen in Deutschland leiden bereits jetzt unter dem Mangel an Fachkräften – doch in Zukunft wird das für Betriebe in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen besonders dramatisch, wie aus Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums hervorgeht. In den fünf Arbeitsmarktregionen Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle/Leipzig und Magdeburg werden bis 2040 insgesamt 670.000 Erwerbstätige wegfallen. Im Gegensatz dazu rechnet man rund um Wirtschaftsmetropolen wie München oder Stuttgart sogar mit einem Plus an Erwerbstätigen.

Nirgendwo werde die Situation so ernst sein wie in Mitteldeutschland, sagt Steffen Müller. Der Wirtschaftswissenschaftler aus Halle forscht zu Arbeitsmärkten in Ost und West. Aus seiner Sicht, sei die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung wesentlich: "Anfang der Neunzigerjahre gab es einen massiven Geburtenrückgang im Osten und die Geburtenzahlen haben sich nie wieder erholt." Die Folgen davon seien bereits heute zu spüren und die Kinder der damals nicht geborenen Menschen würden dann 2040 am Arbeitsmarkt fehlen. "Es ist ein Problem, was sich vererbt."

Wie Betriebe versuchen, Lösungen zu finden

Mit diesen Bedingungen muss auch Laura Herrmann arbeiten. Die Personalanwerberin war Anfang November auf der Jobmesse der Technischen Universität (TU) in Chemnitz. Dort buhlen regionale Firmen neben überregionalen Unternehmen um die IT- und Maschinenbau-Fachkräfte von morgen. Herrmann will Personal für "Vector Informatik" rekrutieren, ein Unternehmen, das sich auf Software für Autos spezialisiert hat.

"Wir wollen erstmal dafür sorgen, dass gerade hier an der Uni die Studierenden uns kennen", erklärt Herrmann. Damit die jungen Menschen dann ein Praktikum absolvieren, als Werkstudent tätig werden oder mit ihrer Abschlussarbeit zum Unternehmen kämen. "Vector Informatik" hat 33 Standorte in 14 Ländern. Chemnitz ist der erste ostdeutsche Standort und erst wenige Monate alt. Doch die Anwerbung von Nachwuchs auf der Jobmesse sei eine Herausforderung.

"Wir merken schon, dass gerade hier an der Uni in Chemnitz auch viele nach dem Studium eher schauen, dass sie einen Job in Westdeutschland kriegen", sagt Herrmann. "Viele Konzerne sind nicht hier in Ostdeutschland, schon gar nicht in Chemnitz ansässig. Gerade Absolventen schauen eher, dass sie einen sicheren Job haben, dass sie ein gutes Einkommen haben, dass sie in großen Konzernen unterkommen und gehen dann eben im Zweifel nach Stuttgart oder ähnliches."

Fachkräfte direkt an der Uni abholen

Über 30 Prozent der Studierenden an der TU in Chemnitz kommen aus dem Ausland. Ähnlich sieht es in den technischen- und IT-Studiengängen anderer ostdeutscher Hochschulen aus: Es gibt im Verhältnis mehr ausländische Studierende als in Westdeutschland.

Das ist wiederum eine Chance für die Unternehmen, die direkt an der Uni nach Fachkräften suchen. "Diese Universitäten sind in den attraktiven Städten mit günstigen Mieten, mit studentischen Umfeld", sagt Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. "Diese Standortattraktivität ist wichtig. Und da spielt so ein junges, studentisches Umfeld, ein experimentierendes Umfeld mit jungen Unternehmen und Start-ups eine wichtige Rolle."

Allein aus der TU Chemnitz haben sich seit 2006 mehr als 500 Start-Ups gegründet. Viele Studierende auf der Jobmesse finden Chemnitz interessant und können sich eine Karriere hier gut vorstellen. Eine junge Frau aus Nepal sagt auf Englisch: "Wenn ich ein Jobangebot bekomme, bleibe ich sicher hier." Ein junger Mann aus Indien erklärt auf Deutsch: "Ich liebe Chemnitz, aber ich habe kein Problem, woanders in Deutschland zu arbeiten."

Ein Teil der Lösung lautet Zuwanderung

Auch für das Rettungswagen-Unternehmen aus Schönebeck lautet ein Teil der Lösung Zuwanderung. Bald kommen Azubis aus El Salvador und Vietnam und schon jetzt stammen rund 15 Prozent der Mitarbeitenden aus dem Ausland. Doch Angestellte ohne deutsche Staatsbürgerschaft dauerhaft zu beschäftigen, bedeutet für den Betrieb viel bürokratischen Aufwand.

Das ärgert Personalchef Scheller – doch er macht sich mehr Sorgen darum, wie sich die Stimmung außerhalb seiner Produktionshalle entwickelt: "Meines Erachtens haben wir einen Standortnachteil." Denn viele seiner Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund berichteten ihm von Problemen im Alltag, die Deutsche nicht hätten. "Wir wissen, was wir für Umfragewerte bei gewissen Parteien haben. Das hilft sicherlich auch dem Standort Sachsen-Anhalt nicht unbedingt, um hier auch ausländische Fachkräfte anzuwerben."

Standortnachteil Ost: Fremdenfeindlichkeit

Mit seinen Sorgen ist Scheller nicht allein. Jede dritte ostdeutsche Führungskraft gibt an, dass Fremdenfeindlichkeit das Anwerben und Halten von ausländischen Fachkräften erschwere. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD).

Was bedeutet es für die ostdeutsche Wirtschaft, wenn sich das Fachkräfteproblem nicht lösen lässt? "Die Unternehmen stehen dann stärker im Wettbewerb um die verbliebenen Arbeitskräfte", sagt Wirtschaftsforscher Müller. "Unternehmen, die nicht so viel zahlen können, weil sie nicht so produktiv sind, werden auf der Strecke bleiben, weniger Leute bekommen und vielleicht aus dem Markt austreten müssen."

Der letzte Ausweg ist dann, den Standort Deutschland zu verlassen.

Hans-Jürgen Schwarz Geschäftsführer Ambulanz Mobile

Die Firmenaufgabe steht beim Familienunternehmen in Schönebeck derzeit nicht zur Debatte. Auch von einer anderen möglichen Option sind sie derzeit weit entfernt: "Der letzte Ausweg ist dann, den Standort Deutschland zu verlassen", sagt Geschäftsführer Schwarz. "Aber dann habe ich auch viele – gerade junge – Leute, die sich dann fragen: Was machen wir dann?”

Mehr zum Thema

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 29. November 2023 | 20:15 Uhr

404 Not Found

Not Found

The requested URL /api/v1/talk/includes/html/f4739ad5-c51d-4cc0-b3b4-b3cf4f0a2022 was not found on this server.

Mehr aus Deutschland

Nachrichten

Ein Mann lächelt in die Kamera. 1 min
Bildrechte: Andreas Franke

Nachrichten

Porträt Olaf Feuerborn 1 min
Bildrechte: MDR/Engin Haupt

Mehr aus Deutschland