Gedanken eines Nachwendekindes In Deutschland geboren, ostdeutsch geworden
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03. Oktober 2024, 14:24 Uhr
Wenn sich das Wort "Wiedervereinigung" nur noch zynisch anfühlt: MDR AKTUELL-Autorin Elisabeth Winkler beschreibt, was die deutsche Einheit für sie als Nachwendekind bedeutet – und bleibt dabei an den Bruchstellen zwischen Ost und West hängen.
In meiner Uni-Zeit habe ich die "Wessis" daran erkannt, dass sie mit dem Lied "Kling Klang" nichts anzufangen wussten. Ratloses Rumgestehe, sobald die ersten Akkorde auf einer WG-Party erklangen, während "wir aus dem Osten" irgendwas von "Erdnuss-Chips", "Feuerland" und "Wiener-Walzer-Schritt" grölten.
Ostdeutsch nach jeder verfügbaren Definition
Ich bin 1997 auf die Welt gekommen. Geboren im Erzgebirge, in Sachsen – viele Jahre nach der friedlichen Revolution, der Wiedervereinigung. Ein Nachwendekind.
Ost, West – das sollte in meiner Biografie doch gar keine Rolle mehr spielen. Diese Bemerkung ist mir in meinen 27 Jahren immer wieder begegnet. Wirklich gestimmt hat sie nie.
Wie auch? Meine Eltern sind in der DDR geboren und aufgewachsen. Nach der Wende sind sie geblieben. Also sind meine große Schwester, die 1984 noch in der DDR geboren wurde, und ich im Osten aufgewachsen. Wir sind ostdeutsch nach jeder verfügbaren Definition: Wohnort, Geburtsort, Familiengeschichte – und Gefühl.
Gleichzeitig fehlt mir eine emotionale Verbindung zum Akt der Wiedervereinigung oder zur friedlichen Revolution. Trotzdem sind beide Ereignisse unendlich wichtig für mich, weil sie der Ursprung für die Welt sind, in der ich groß geworden bin und heute lebe.
Die Wiedervereinigung – Ursprung meiner Welt
In diese Welt gehört "DDR-Kulturgut", das sich über die Wiedervereinigung hinaus in meine Kindheit und Jugend gerettet hat: die Dederon-Schürzen, die meine Oma immer getragen hat. Das Simson-Moped, das ich mit 15 bekommen habe. Die Knusperflocken von Zetti.
In diese Welt gehören auch meine Eltern, die heute sagen, es gehe ihnen so gut wie nie zuvor. Und im nächsten Satz: "Dafür haben wir die ganzen Erniedrigungen mitgemacht."
Meine Mutter hat während meiner Kindheit für westdeutsche Insolvenzverwalter gearbeitet, die ostdeutsche Firmen abgewickelt haben, die sich nach der Wende nicht mehr über Wasser halten konnten. Heute arbeitet sie in einem Unternehmen, in dem die ostdeutschen Angestellten nicht nach Tarif bezahlt werden – im Gegensatz zu den Kollegen der Mutterfirma in Baden-Württemberg.
Mein Vater hat während meiner Kindheit 12-Stunden-Tage gearbeitet und am Wochenende unseren Hof gepflastert. Oder das Bad gefliest oder die Küche gedämmt – weil Handwerker zu teuer waren. Vor einer Woche hat er einen neuen Heizkessel einbauen lassen – wegen des Heizungsgesetzes. Was an Geld da ist, stecken meine Eltern in ihr Haus.
Ich sehe dennoch, dass meine Eltern jetzt ein gutes Leben leben. Ich sehe aber auch die vielbeschworenen "Brüche" in ihren ostdeutschen Biografien, die Momente, in denen sie es schwerer hatten. Zum Beispiel, als meine Mutter nach der Wende ihren Job verlor, weil das Messgerätewerk Zwönitz die Privatisierung nicht überlebt hat. Umschulen, neu anfangen. Ich weiß, wie meine Eltern sich ihren moderaten Traum vom guten Leben erkämpft haben.
Ich fühle keine DDR-Nostalgie.
Mein ostdeutsch Sein ist ein Sammelsurium aus Ossi-Kultur, den Erfahrungen meiner Eltern und einer Suche nach dem eigenen Standpunkt, die in den letzten Jahren immer intensiver geworden ist.
Keine Ostalgie, aber Solidarität
Ich fühle keine DDR-Nostalgie. Auch weil meine Eltern diese Zeit nie schöngeredet haben. Ich bin dankbar für die Menschen, die diesen Unrechtsstaat mit der friedlichen Revolution zum Einsturz gebracht haben. Ihretwegen habe ich nie Angst gehabt, meine Meinung zu sagen. Ihretwegen musste ich nie zwischen meiner Integrität und meinem beruflichen Fortkommen wählen. Ihretwegen habe ich dieses Jahr Pasta in Sizilien gegessen.
Aber ich fühle mich ostdeutsch. Es ist ein Gefühl, das sich nicht aus Ostalgie, sondern aus Solidarität speist. Solidarität inspiriert von all den – zugegeben subjektiven – Ungerechtigkeiten, die meine Eltern erleben mussten und all den objektiven Ungleichheiten, die in den vergangenen Jahren immer wieder im Fokus standen.
2022 wurde im Westen neun Mal so viel vererbt wie im Osten. In den Führungsetagen unserer Gesellschaft sitzen im Schnitt nur 12,2 Prozent Ossis. Das Lohngefälle zwischen Ost und West liegt im Schnitt noch immer bei 20 Prozent. Jedes Jahr eine neue Studie zur ungleichen Vereinigung.
Emanzipation in die falsche Richtung
Also ja, Ost, West – das spielt in meiner Biografie eine Rolle. In meiner und in der von allen anderen jungen Menschen in Ostdeutschland. Das sollte niemanden wundern. Es müsste eigentlich auch nichts Schlechtes sein. Sich der Missstände bewusst zu sein, ist der erste Schritt auf dem Weg, sie zu ändern.
Die aktuelle ostdeutsche Emanzipationsbewegung ist in großen Teilen reaktionär geprägt.
Doch leider hat dieses Bewusstsein sehr lang nicht sonderlich viel bewegt. Und nun resultiert es in einer ostdeutschen Emanzipationsbewegung, die in großen Teilen reaktionär geprägt ist. Das zeigt sich in den Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, bei denen 31 bzw. 38 Prozent der Unter-25-Jährigen die AfD gewählt haben. Es zeigt sich auch bei rechtsextremen Gegendemos zu CSDs im Osten, bei denen 16-, 17-, 18-Jährige "Ost-, Ost-, Ostdeutschland" brüllen.
Vor diesem Chorus ostdeutscher Abgrenzung klingt das Wort "Wiedervereinigung" für mich eigentlich nur noch zynisch. Und ich wünschte, es wäre nicht so.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. Oktober 2024 | 06:00 Uhr