Campact Taktisch wählen gegen die AfD - was macht das mit unserem Wahlsystem?
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05. September 2024, 17:14 Uhr
Die Organisation "Campact" und die Initiative "Taktisch wählen" hatten Erfolg mit ihren Wahlempfehlungen. Ihre gewünschten Direktkandidatinnen und -kandidaten haben in vier Wahlkreisen in Sachsen gewonnen. Besonders für die Linke waren die Direktmandate enorm wichtig. Erklärtes Ziel der Aktion war es, die AfD zu schwächen. Ist bei Wahlen verstärkt mit solchen Aktionen zu rechnen?
- Das taktische Wählen wurde zur sächsischen Landtagswahl viel beschworen. Von Parteien wie der CDU – aber auch Organisationen wie "Campact".
- Eingetreten ist in Sachsen genau das, was sich die Macherinnen und Macher zweier Initiativen erhofft haben. Sie sprechen von einer erfolgreichen Aktion.
- Politikwissenschaftler Johannes Kiess sieht darin allerdings keine zukünftige Strategie für die Bundestagswahl im kommenden Jahr.
Einen Tag nach der sächsischen Landtagswahl schreibt die Grünen-Kandidatin Christin Melcher bei Instagram: "Für das Direktmandat hat es leider nicht gereicht. Das taktische Wählen hat alles überlagert." Sie gratuliert im Anschluss den Kandidatinnen und Kandidaten der Linken, die gewonnen haben.
Weiter schreibt sie: "Aber diese Art von Kampagne, die Campact, Taktisch Wählen und andere gefahren haben, hat während des Wahlkampfs Spuren hinterlassen. Selten habe ich mich so ohnmächtig gefühlt."
Gemeint ist die Kampagne von "Campact" zum taktischen Wählen zur Landtagswahl in Sachsen. Der Verein rief im Vorfeld der Wahlen zum taktischen Wählen auf, um ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern. Dabei ging es vor allem um die Verhinderung einer Sperrminorität der AfD.
Sperrminorität
Für bestimmte Entscheidungen und Wahlen in einem Landtag ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten notwendig. Dazu zählen unter anderem Gesetze, die die Landesverfassung ändern, die Besetzung von Richterposten am Landesverfassungsgerichtshof oder von Stellen am Landesrechnungshof.
Wenn eine Partei mehr als ein Drittel der Sitze in einem Landtag hat, hat sie die sogenannte Sperrminorität erreicht – in Sachsen entspricht das 41 von 120 Sitzen. Die Partei kann dann diese Entscheidungen blockieren bzw. im Vorfeld erschweren – und so Druck auf die anderen Parteien ausüben.
Viel geteilt bei Insta und Co: Taktisches Wählen
Wer in sozialen Netzwerken unterwegs ist, kam an den Wahlempfehlungen von der unabhängigen Organisation "Campact" und der Initiative "Taktisch wählen" kaum vorbei. Reels, Videos und Bild-Posts wurden teilweise als Werbung ausgespielt und unter den Usern vielfach geteilt.
"SPD, Grüne und Linke müssen in den Landtag einziehen. Der Anteil der AfD-Sitze würde sinken – und die Rechtsextremen hätten laut aktuellen Umfragen keine Vetomacht", heißt es in den Online-Aufrufen. "Campact" und "Taktisch Wählen" wollten das Gleiche: Linke und Grüne sollten durch die Grundmandatsklausel gesichert werden.
Mit der Grundmandatsklausel ziehen Parteien, die zwei Direktmandate erhalten, auch in den sächsischen Landtag ein, wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffen. Die Partei zieht dann entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses mit weiteren Parlamentariern in den Landtag. Die AfD würde dadurch Sitze verlieren.
Landtagswahl in Sachsen 2024
In Leipzig betraf der Aufruf von "Campact" und "Taktisch Wählen" die Wahlkreise 25 (Leipzig Mitte-Ost), 30 (Leipzig West) und 28 (Leipzig Süd). In Dresden ging es um den Wahlkreis 41 (Dresden Neustadt).
Zwei Grüne und zwei Linke Direktmandate aus den genannten Wahlkreisen wollte man durchsetzen – beide wären somit über die Grundmandatsklausel in den Landtag eingezogen.
Die Grünen haben die Fünf-Prozent-Hürde allerdings sowieso knapp überschritten. Die Linke ist nur wegen ihrer zwei Direktmandate aus Leipzig mit sechs Sitzen in den Sächsischen Landtag eingezogen.
Das Zünglein an der Waage: Grundmandatsklausel
Luise Neumann-Cosel sagt: "Wir haben uns das nicht leicht gemacht. Menschen aus Sachsen haben uns nach der Europawahl angesprochen, aus Sorge, wie die AfD bei den Landtagswahlen abschneidet." Sie ist Campact-Teamleiterin und betreut das Projekt.
Mit Prognosen und Trendberechnungen für die einzelnen Landkreise in Sachsen, entschieden sie sich letztlich für das intensive Werben für bestimmte Direktkandidaten in vier Wahlkreisen. Den Kandidatinnen und Kandidaten bot Campact eine finanzielle Unterstützung von 25.000 Euro an. In Anspruch genommen hat sie nur der Linken-Kandidat Nam Duy Nguyen aus Leipzig.
Postwurfsendungen und Social-Media-Werbekosten für Bildposts, die über die taktische Wahl aufklären sollen, belaufen sich auf maximal 65.000 Euro. Seit Juni wurde die Kampagne von Campact vorbereitet, finanziert wurde sie durch Spenden der Mitglieder.
Waren die Kampagnen erfolgreich?
Eingetreten ist in Sachsen genau das, was sich die Macher und Macherinnen beider Initiativen erhofft haben: Der Einzug von demokratischen Parteien in den sächsischen Landtag, auch mithilfe der Grundmandatsklausel. Und das Abwenden der erst befürchteten Sperrminorität durch die AfD.
Die Kampagne sei ein "großer Erfolg", sagt Luise Neumann-Cosel im Gespräch mit MDR AKTUELL. Das sieht auch Tristan Runge von "Taktisch wählen" so. Der 19-Jährige hat mit Mitstreiterinnen und -streitern vier Wochen vor den Wahlen die Website erschaffen. Er hat die politische Lage genau im Blick.
Er fordert, dass die CDU die Distanz zur AfD hält. Denn auch hier hätten einige "taktisch" CDU gewählt, um eine Machtergreifung der AfD zu verhindern. Mit Campact habe man sich nur in vier Fällen, also in vier Wahlkreisen, abgesprochen, sagt Runge.
Auch Parteien rufen zu taktischem Wählen auf
Dr. Johannes Kiess ist Soziologe und stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung der Universität Leipzig. Er sagt: "Auch der CDU-Ministerpräsident hat ein taktisches Wählen vorgeschlagen. Vor fünf Jahren hat er genau das schon einmal gemacht."
Strategisches Wählen sei also per se keine Neuerung, die demokratiegefährdend wäre. Neu sei aber, dass ein bundesweit aktives Netzwerk wie Campact mitmische. Dazu käme, dass die Parteibindung zurückgehe. "Es ist für viele vorstellbar, anders zu wählen, als sie es ursprünglich vorhatten." Speziell in Ostdeutschland habe sich nach der Wende nie eine sehr starke Parteibindung in der Bevölkerung ausgebildet, sagt der Soziologe.
"Dass Organisationen an der Willensbildung mitwirken, ist grundsätzlich gewollt und gut. Das können Kirchen, Gewerkschaften oder Greenpeace sein. Grundsätzlich sehe ich hier kein Problem", sagt Kiess. "Trotzdem ist das taktische Wählen eine begrenzt wirksame Strategie." Mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl sei er skeptisch, ob sich die Linke damit ein mittelfristiges Überleben sichern könne.
Campact: "Es steht zu viel auf dem Spiel"
"Die Wahlergebnisse sind beunruhigend. In Thüringen ist die Situation noch schlechter als in Sachsen. Oberste Priorität muss es sein, die rechtsextreme AfD von der Macht fernzuhalten", sagt Luise Neumann-Cosel. Ärger und emotionale Kommentare könne man nachvollziehen, in Anbetracht der politischen Lage müsse man sich allerdings fragen, was auf dem Spiel stehe.
Der Politikwissenschaftler Mark Arenhövel von der TU Dresden würde dennoch generell davon abraten, Wahlempfehlungen blind zu folgen. "Die Partei, der ich mich nah fühle und die meine Interessen vertritt, die sollte man wählen", sagt er.
Die Initiative "Taktisch wählen" will zur Landtagswahl in Brandenburg Ende September wieder unterstützen, sagt Tristan Runge aus Grimma. Für ihn und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter steht fest, dass sie das Projekt fortführen wollen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. September 2024 | 16:24 Uhr
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