Der Schriftsteller Lukas Rietzschel
Der Schriftsteller Lukas Rietzschel sagt, die Menschen im Osten müssten sich mehr organisieren, z. B. in Vereinen, Parteien, Kirche oder Gewerkschaften. Bildrechte: Christine Fenzl

Nach der Landtagswahl Lukas Rietzschel: Endlich über das Versagen der Politik reden

04. September 2024, 16:51 Uhr

Oft wird der Schriftsteller Lukas Rietzschel ("Mit der Faust in die Welt schlagen", "Raumfahrer") befragt, wenn es um den Osten Deutschlands geht. Nach der Landtagswahl in Sachsen fordert er, mehr über das Versagen der Politik zu reden als sich permanent mit der Frage zu beschäftigen, warum Menschen die AfD wählten. Die Ostdeutschen müssten sich zudem mehr in Parteien, Vereinen und Gewerkschaften organisieren, so Rietzschel, der selbst in der SPD aktiv ist.

MDR KULTUR: Gibt es bei Ihnen einen Gedanken nach der Wahl, den Sie vor der Wahl noch nicht hatten, wenn es darum geht, warum in Ihrer Nachbarschaft so Viele so weit rechts gewählt haben? 

Lukas Rietzschel: Ehrlicherweise habe ich den Eindruck, dass diese "Methode Kretschmer" gescheitert ist. Gerade wenn wir uns das in Sachsen anschauen – dieser Versuch, Populismus durch populistische Thesen zu bekämpfen. Also wenn ich jetzt ganz plakativ zuspitzen würde – um Gottes Willen: Die CDU wird mir das übelnehmen – aber eigentlich haben hier fast 70% ihre Stimme einer Partei gegeben, ob das AfD, CDU, BSW ist, die vor allem mit einer Kommunikation an den Start gehen, die sämtliche Berliner Politik auseinanderreißt und keinen guten Ton an irgendwelchen anderen Parteien und vor allem Koalitionspartnern lässt. Das finde ich schon sehr beachtlich. 

Wenn die Eltern alles blöd finden und meckern, dann ist das für mich überhaupt nicht überraschend, dass genau diese jungen Erstwähler auch das Kreuz bei der AfD machen.

Schriftsteller Lukas Rietzschel

MDR KULTUR: Laut Untersuchungen kommt die Realität der ganz jungen Menschen, die rechts gewählt haben, wesentlich aus Social Media. Kennen Sie auch dieses Boomer-Unbehagen, dass Sie nicht mehr verstehen, was läuft?

Lukas Rietzschel: Nein, ich bin immer noch in dieser Zwischengeneration, die sich fragt: Warum muss immer auf die Jungen so eingedroschen werden? Erst mal ist es gut, wenn die wählen gehen. Es ist überhaupt gut, dass so viele Menschen wählen waren. Wenn wir uns immer wieder vor Augen halten, wie werden junge Menschen sozialisiert und vor allem politisch sozialisiert, dann passiert auch das zu Hause an den familiären Küchentischen. Und wenn dort – das sehen wir in der entsprechenden Alterskohorte – die Eltern alles blöd finden und meckern und ebenfalls die AfD wählen, dann ist das für mich überhaupt nicht überraschend, dass genau diese jungen Erstwähler jetzt auch das Kreuz bei der AfD machen.

MDR KULTUR: Es heißt oft, der Osten finde sich im Bild vom Osten nicht wieder. Erreichen Sie mit Ihren Romanen und Theaterstücken die Menschen, die das Gefühl haben, dass sie in dieser Demokratie gar nicht vorkommen?

Lukas Rietzschel: Ich frage mich, ob Kultur, in dem Fall Literatur, das überhaupt leisten kann. Und ich frage mich auch, ob nicht diese Literarisierung politischer Probleme auch ein Teil der Ursache dafür ist, dass gerade gewählt wird, wie gewählt wird.

Was meine ich damit? Die ostdeutschen Stimmen, die sind so groß wie nie zuvor. Und was machen wir in unseren Erzählungen? Wir reproduzieren vor allem diese Geschichte der untergegangenen DDR und der schweren Transformationserfahrung. Das stimmt auch alles. Aber man hat doch manchmal den Eindruck, dass das so was Individuelles ist. Und dadurch verwischen wir auch vielleicht die dahinter liegenden strukturellen Probleme für die Politik. Ich wünschte mir, dass wir viel mehr das Strukturelle in den Blick nehmen würden, als diese individuellen Umbruchserfahrungen. 

MDR KULTUR: Kann ich das Strukturelle – auch im Unterschied zum Psychologischen – mit "sozial" übersetzen?

Lukas Rietzschel: Das ist ja das nächste. Diese permanente Nabelschau, die wir betreiben. Das ist ein tolles Narrativ, das ist so verständlich, vor allem für den Westen. Sie können jederzeit sagen: Dann ist die DDR untergegangen, und alle wurden arbeitslos und sind abgehauen, das ist so wahnsinnig bildlich. Aber dadurch vergessen wir vielleicht andere Erzählungen und ganz konkret: politisches Versagen.

Diese Art von Auseinandersetzung hat uns in den letzten zehn Jahren null nach vorn gebracht.

Lukas Rietzschel

Die CDU regiert hier seit 34 Jahren, stellt seit 34 Jahren durchgängig den Ministerpräsidenten. Und so, wie die Schulen aussehen, die Straßen, das Schienennetz, so wie wir hier mit der ärztlichen Versorgung zu kämpfen haben und nach wie vor mit dieser Abwanderung – es gibt keine Konzepte dagegen oder wenn, dann greifen sie ins Leere. Das ist etwas, was Politik lösen muss statt sich permanent mit der Frage zu beschäftigen: Wie um Gottes Willen kann es denn sein, dass Menschen AfD wählen? Diese Art von Auseinandersetzung hat uns in den letzten zehn Jahren null nach vorn gebracht.

MDR KULTUR: Viele haben in den letzten Monaten etwas riskiert, wenn man an den CSD in Bautzen denkt, in Plauen. Wie ist da jetzt die Stimmung um Sie herum in Görlitz?

Lukas Rietzschel: Man hat sich ja schon vielfach an diese Wahlergebnisse gewöhnt, und ich würde sagen, dass die Stimmung eigentlich nach der Kommunalwahl noch viel schlechter war, denn da hat sich für alle noch mal deutlich abgebildet: Hier ist die AfD mehrheitlich als größte Fraktion in den Stadtrat eingezogen. Das heißt, sie wird berücksichtigt in der Gremienbesetzung, bei Ausschüssen, und sie sitzt ja jetzt schon auch im Aufsichtsrat des Theaters. Das heißt, sie ist schon die ganze Zeit gerade an der Schnittstelle zu diesen ganzen kulturellen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen.

Eine sommerlich gekleidete Passantin macht ein Selfie mit Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, auf dem Demiani-Platz in Görlitz. Beide lächeln in die Kamera.
Selfies vor dem Theater Görlitz: Bundespräsident Frank Walter Steinmeier kam im Mai zur Aufführung von Lukas Rietzschels Stück "Das beispielhafte Leben des Samuel W." über einen fiktiven AfD-Politiker. Bildrechte: picture alliance/dpa | Paul Glaser



Und das ist vielleicht das allergrößte Problem, womit unsere Kommunen zu kämpfen haben: Sie sind chronisch unterfinanziert. Auch dort wenden sich vor allem die Länder und der Bund nicht diesen Problemen zu, diese Kommunen mit mehr Geld auszustatten. Und in diesen Verteilungskämpfen jetzt noch mit einer AfD zu tun zu haben, die genau das macht, nämlich immer aufzulisten: Schaut mal, so viel Geld kriegen die, und was machen die dafür? Und so viele Zuschauer kommen nur ins Theater. Das setzt hier viele Leute unter Druck, dass sie ehrlicherweise Angst haben vor der Zukunft.

MDR KULTUR: Wie geht es denn weiter jetzt für die Zivilgesellschaft? Woher den Mut hernehmen, die Zuversicht, die Ausdauer?

Ich habe die Möglichkeit, mitzumachen und nicht immer nur am Rand zu stehen und zu hoffen, dass die Politik sich schon irgendwie kümmert.

Lukas Rietzschel

Lukas Rietzschel: Wichtig wäre es, wenn sich alle endlich ein Herz fassen würden und sagen: Ich packe jetzt an, ich gehe rein in die Vereine, ich gehe rein in die Kirche, in die Gewerkschaft, in die Parteien. Also genau das, was hier im Osten Deutschlands immer noch brach liegt in der Organisationsstruktur. Nirgendwo sind so wenige Menschen in Parteien organisiert, in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen.

Es wäre so toll, wenn die Menschen das Gespür dafür bekommen würden: Ich habe die Möglichkeit mitzugestalten, mitzumachen und nicht immer nur am Rand zu stehen und zu meckern und darauf zu hoffen und zu warten, dass die Politik sich schon irgendwie kümmert. Das ist eine vielleicht verkümmerte demokratische Selbstwirksamkeit, die hier in diesen 34 Jahren seit der Wiedervereinigung dringend behoben werden muss. 

Das Gespräch führte Carsten Tesch für MDR KULTUR
Redaktionelle Bearbeitung: jb, lm

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. September 2024 | 08:10 Uhr

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