"Gewählt – und jetzt?" "Ich überlasse den Osten nicht den Leuten, die ihn kaputt machen wollen"

02. September 2024, 14:13 Uhr

Wie ist die Stimmung am Tag nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen? Mit welchen Gefühlen schauen Wählerinnen und Wähler auf die Ergebnisse? In der Sondersendung "Gewählt – und jetzt?", im zugehörigen Blog und über MDRfragt sammeln wir den ganzen Tag Meinungen, Stimmungen und Gefühle.

Volontär Til Schäbitz sitzt lächelnd auf dem Boden vor einem schwarzen Lederstuhl
Bildrechte: MDR/Til Schäbitz

Julian Illings große Leidenschaft ist die Freiwillige Feuerwehr. Seit einem Jahr wohnt der 24-Jährige wieder im Sächsischen Hellendorf. Der Ort, in dem er aufgewachsen ist. Drei Straßen führen raus – eine direkt zur tschechischen Grenze, eine andere in Richtung von Illings Arbeit. Die 32 Kilometer zur Bavaria Klinik Kreischa fährt er mit dem Auto. Anders ginge es nicht: Klinisches Schichtsystem und fehlende Busse auf dem Land – ein bekanntes Problem.

Die ländliche Infrastruktur auszubauen ist schon seit Jahren ein zentrales Wahlversprechen, quer durchs Parteienspektrum hindurch. Doch Illing glaubt auch nach dieser Wahl nicht, dass sich an der Situation etwas ändert. Der frische Wind in der Politik, den er sich sehnlichst wünscht, könnte auf dem Land zum lauen Lüftlein verkommen. An Investitionen glaubt er erst, wenn mehr Leute aufs Land ziehen. Völlig unabhängig davon, wer zukünftig regiert, lohne sich ein Bus mit nur zwei Fahrgästen schlicht nicht.

Doch das Landleben müsse wieder attraktiv werden, das betont auch die 20 Jahre alte Hanna Körner. Auch sie arbeitet in der Pflege, auch sie wohnt auf dem Land und ist aufs Auto angewiesen. Die Wahlergebnisse findet sie "erschreckend", sieht in ihnen aber ebenso den Wunsch nach Veränderung.

Politik fehle der Alltagsbezug

Die Bio-Landwirtin Josephine Moog konnte sich im Wahlkampf von keiner Partei begeistern lassen – gewählt hat sie trotzdem. Einen Tag nach der Wahl wirkt die 29-Jährige in der Sendung "Gewählt – und jetzt" eher desillusioniert und ratlos. Sie störe grundsätzlich, dass man in die Politik gehen kann, ohne vorher "gearbeitet" zu haben, erzählt sie im Gespräch mit Olenka Pilz und Friederike Schicht. Viele Berufspolitikerinnen und -politiker seien schon zu lange im Amt und hätten den Bezug zur Basis verloren. In der Landwirtschaft brauche es vor allem Beständigkeit und Sicherheit, die ihr die aktuelle Politik nicht gibt. Zu oft würden Positionen ohne entsprechende Fachkompetenz vergeben werden. Das stete Wechseln zwischen den Ressorts, wie etwa bei der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen, sei unfair – schließlich müssten sich alle anderen dafür weiterbilden oder umschulen.

Der 33-jährige Dennis Chiponda, heute als Unternehmensberater und Diversitätsmanager tätig, hat sich tatsächlich selbst mal in der Politik versucht. Er war Mitglied der SPD, ist aber ausgetreten. In sozialen Netzwerken bleibt er politisch aktiv, warnt vor der AfD: "Umso mehr Prozente die Blauen haben, umso ärmer, umso kaputter, umso kulturell verödeter wird der Osten in Zukunft wieder sein", sagte er MDR AKTUELL. Vor der Wahl hatte er offen überlegt, seine ostdeutsche Heimat zu verlassen. Je nach Ergebnis. Nach der Wahl will er bleiben. Aus Trotz. Er sei von den Zahlen zwar "verzweifelt und niedergeschlagen" gewesen, sagt aber jetzt: "Ich überlasse den Osten nicht den Leuten, die ihn kaputt machen wollen".

Auch Milen Volkmar glaubt, sie müsse jetzt noch stärker zeigen, dass es im Osten "Andersdenkende als die AfD" gibt. Die 34-Jährige ist Geschäftsführerin eines Erfurter IT-Unternehmens. Käme die AfD in Regierungsverantwortung, fürchte sie um das Ansehen Thüringens als Wirtschaftsstandort. Schon jetzt würden einige Personen zwar gerne für ihre Firma, nicht jedoch in Thüringen arbeiten wollen. Der Grund: Angst vor Fremdenfeindlichkeit. Dieser Angst möchte sie mit Hoffnung begegnen – auch jetzt nach der Wahl.

Der ebenfalls 34 Jahre alte Sebastian Lucas-Delaval leitet ein Metall- und Stahlbau-Unternehmen in Königsbrück. Am wichtigsten sei ihm der Dialog. Die Leute müssten wieder mehr miteinander reden, statt sich in ihren Positionen festzugraben. Er schätzt, dass die Hälfte seiner Mitarbeitenden die AfD gewählt habe. Mit ihm als schwulen Chef hätten sie trotzdem kein Problem. Eine Spaltung im Unternehmen spüre er trotz politischer Differenzen nicht.

Stimmungsbild durch Meinungsbarometer MDRfragt

Die Personen, die in der Sondersendung "Gewählt – und jetzt?" zu Gast waren, stehen beispielhaft für die verschiedenen Meinungen und Gefühle nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen.

Claudia Reiser von der MDRfraggt Redaktion, im Studiotalk 4 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Weitere Stimmen sammelt MDR AKTUELL auch in einem begleitenden Blog und im Meinungsbarometer MDRfragt. In einer gestern Abend gestarteten Blitzbefragung haben bereits mehr als 16.000 Menschen teilgenommen. Von großer Freude angesichts der Wahlergebnisse bis zum Schock sind alle Reaktionen vertreten.

Auch in unserem "Gewählt – und jetzt?"-Blog hat sich seit dem frühen Morgen eine rege Diskussion entwickelt. So schreibt der Nutzer B. V. von seiner vietnamesischen Frau und seinen Kindern, um die er sich angesichts der erstarkten AfD sorgt: "Rechtsradikale unterscheiden nicht mehr zwischen guten und bösen Ausländern. Da wird wieder auf alles losgeprügelt, was nicht Deutsch aussieht, bestärkt durch die Parolen der AfD". Claudia hält dagegen: "Ich glaube nicht, dass sich gut integrierte steuerzahlende Ausländer Sorgen machen müssen! Es geht um illegale Migration, Ausbeutung des Sozialstaates, Nichtakzeptieren unserer Werte, Normen und Gesetze!". Der Nutzer Uwe begrüßt die hohe Wahlbeteiligung: "Das ist eine ganz starke Leistung und sehr starkes Engagement. Es zeigt, dass den Bürgern das Land nicht egal ist."

Noch den ganzen heutigen Tag können Sie sich unter mdr.de/gewaehlt an der Diskussion beteiligen. 

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Gewählt – und jetzt? | 02. September 2024 | 08:00 Uhr

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