Marsch deutscher Kriegsgefangener durch Moskau am 17. Juli 1944
Marsch von Kriegsgefangenen der Heeresgruppe Mitte am 17. Juli 1944 in Moskau. Bildrechte: IMAGO / SNA

Ostfront 1944 Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte

22. Juni 2024, 05:00 Uhr

Im Sommer 1944 bricht in Weißrussland die Heeresgruppe Mitte der Wehrmacht unter dem Ansturm der Roten Armee zusammen. Drei Armeen mit 28 Divisionen werden vernichtet. Bis zu 400.000 deutsche Soldaten fallen oder gehen in Gefangenschaft. Es ist die schwerste und verlustreichste Niederlage in der deutschen Militärgeschichte.

Sowjetisches Artilleriegeschütz der 2. Weißrussischen Front Juli 1944
Artilleriegeschütze der 2. Weißrussischen Front feuern Ende Juni 1944 auf Stellungen der Heeresgruppe Mitte. Bildrechte: IMAGO / SNA

Es ist der gewaltigste Artilleriebeschuss, dem die Armeen der deutschen Heeresgruppe Mitte seit Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges 1941 ausgesetzt sind. Um 4 Uhr morgens des 22. Juni 1944 – genau drei Jahre nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion – bricht über den Stellungen der 3. Panzerarmee bei Witebsk in Weißrussland (Belarus) die Hölle los. Eine riesige Feuerwalze pulverisiert in 20-minütigem Dauerfeuer die vorderen deutschen Stellungen. An den geplanten Durchbruchstellen der Roten Armee verrichten pro Frontkilometer fast 180 sowjetische Geschütze ihr Vernichtungswerk. Anderthalb Stunden lang nimmt die sowjetische Artillerie auch die deutschen Artilleriestellungen im Hinterland ins Visier und bringt sie weitgehend zum Schweigen.

Kesselschlacht bei Witebsk

Angriff sowjetischer Soldaten westlich von Minsk 25. Juni 1944
Sowjetischer Infanterieangriff im Osten Weißrusslands am 25. Juni 1944. Bildrechte: IMAGO / SNA

Danach bricht die geballte Kraft von fünf sowjetischen Armeen zweier Fronten (Heeresgruppen) von Nordwesten und Südosten über die 3. Panzerarmee herein. Pro Frontkilometer stehen 750 angreifenden Rotarmisten nur 80 deutsche Infanteristen gegenüber. Nördlich von Witebsk wird das deutsche IX. Armeekorps 30 Kilometer zurückgeworfen. Der Kontakt zur nördlich davon stehenden 16. Armee der Heeresgruppe Nord reißt ab. Eine Lücke klafft in der Front. Im Südosten von Witebsk werden zwei Divisionen des VI. Armeekorps aufgerieben.

Kolonne deutscher Kriegsgefangener bei Witebsk Ende Juni 1944
Kolonne deutscher Kriegsgefangener bei Witebsk, 26. Juni 1944. Bildrechte: IMAGO / SNA

In Witebsk selbst wird das LIII. Armeekorps mit drei Divisionen eingeschlossen. Bei ihrem Ausbruchsversuch werden zwei Divisionen komplett vernichtet und die dritte – eine Luftwaffenfelddivision – beim Rückzug in Wäldern und Sümpfen weitgehend aufgerieben. 10.000 von 30.000 Soldaten des Korps geraten in Gefangenschaft, beinah 20.000 werden getötet. Nur sehr wenige "Rückkämpfer" erreichen die weit zurückgeworfenen deutschen Linien.

Hitler lehnt Frontbegradigung ab

Die Katastrophe kommt mit Ansage. Der deutschen Feindlage-Beurteilung entgeht der sowjetische Aufmarsch bei Witebsk und an anderen Frontabschnitten der Heeresgruppe Mitte nicht, auch wenn sie die Lage teils falsch bewertet. Sowohl der Chef des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Generaloberst Alfred Jodl, als auch die Heeresgruppe Mitte plädieren Monate zuvor für eine Frontbegradigung unter Aufgabe Weißrusslands.

Adolf Hitler OKW-Chef Wilhelm Keitel und Chef des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl
Adolf Hitler, OKW-Chef Wilhelm Keitel und der Chef des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl (v.l.n.r.) bei einer Lagebesprechung 1942. Bildrechte: IMAGO / Heritage Images

Der 1.000 Kilometer lange Frontabschnitt der Heeresgruppe mit ihren vier Armeen, der seit den Winter- und Frühjahrskämpfen 1944 in weitem Bogen nach Osten und an seinem Südabschnitt scharf nach Westen verläuft, soll verkürzt werden, um notwendige Reserven zu bilden. Doch der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, lehnt das ab. Stattdessen sollen "Feste Plätze" bei Witebsk, Orscha, Minsk, Mogilew und Bobruisk nach dem Wunschdenken des "Führers" bei einem sowjetischen Durchbruch das Zehnfache an gegnerischen Kräften binden. In Wirklichkeit werden die "Festen Plätze" zu Todesfallen für ganze Armeekorps. Die dort konzentrierten deutschen Truppen fehlen, um Lücken an anderen Frontabschnitten zu schließen.

Operation Bagration
Operation "Bagration" gegen die Heeresgruppe Mitte (22. Juni bis 29. August 1944) Bildrechte: MDR.DE

Rote Armee haushoch überlegen

Hitlers fatales "Wellenbrecher"-Konzept macht die ohnehin dramatische Lage der Heeresgruppe Mitte komplett. Als die Operation "Bagration", so der Deckname der sowjetischen Großoffensive zur Rückeroberung der weißrussischen Hauptstadt Minsk, am 22. Juni 1944 beginnt, sind die sowjetischen Truppen den deutschen beim Personal um das 3,7-fache, bei der Artillerie um das 19-fache, bei Panzern um das 23-fache und bei Flugzeugen um das 10,5-fache überlegen.

Angriff sowjetischer T-34-Panzer mit aufgesessener Infanterie
Angriff sowjetischer T-34-Panzer mit aufgesessener Infanterie. Bildrechte: IMAGO / SNA

Den 14 sowjetischen Armeen von vier Fronten (Heeresgruppen) mit 2,5 Millionen Soldaten, 45.000 Geschützen und Werfern, 6.000 Kampfwagen und 8.000 Flugzeugen stehen zunächst drei von vier Armeen der Heeresgruppe Mitte mit lediglich 486.000 Soldaten, 1.565 Geschützen, 118 Panzern, 377 Sturmgeschützen und 602 Flugzeugen gegenüber. Die involvierten 29 deutschen Divisionen sind kaum motorisiert. Echte Panzerdivisionen besitzt die Heeresgruppe Mitte im Juni 1944 nicht mehr. Die hatte sie zuvor zur Abwehr der "angelsächsischen Landung" an die Westfront abgeben müssen. Die 3. Panzerarmee, die gleich an den ersten Tagen von "Bagration" bei Witebsk aufgerieben wird, verfügt über keinen einzigen Panzer, dafür über 60.000 Pferde.

Schlacht bei Mogilew und Kessel von Bobruisk

Soldaten der 1. Weißrussischen Front marschieren am 29. Juni 1944 im befreiten Bobruisk ein
Soldaten der 1. Weißrussischen Front marschieren am 29. Juni 1944 im befreiten Bobruisk ein. Bildrechte: IMAGO / SNA

Nicht viel besser ist es um die Ausstattung der anderen drei Armeen der Heeresgruppe Mitte bestellt. Zwei von ihnen werden ebenfalls durch den sowjetischen Ansturm hinweggefegt. Die südlich der 3. Panzerarmee eingesetzte 4. Armee wird aus dem Raum Mogilew abgedrängt. Sie zieht sich unter chaotischen Umständen auf Minsk zurück. Eine ihrer Divisionen, die 12. Infanteriedivision aus Schwerin, wird geopfert, um den "Festen Platz" Mogilew zu verteidigen. Nachdem 10.000 ihrer 12.000 Soldaten gefallen sind, lässt der Divisionskommandeur, Generalleutnant Rudolf Bamler aus Osterburg in der Altmark, den Kampf einstellen.

Zerstörtes deutsches Militärgerät auf einer Straße bei Bobruisk 29. Juni 1944
Zerstörtes deutsches Militärgerät auf einer Straße bei Bobruisk, 29. Juni 1944. Bildrechte: IMAGO / SNA

Weiter südlich wird die 9. Armee bei Bobruisk an der Beresina eingekesselt. 70.000 Mann sitzen in der Falle. Während die östlich der Beresina eingeschlossenen Truppen am 28. Juni kapitulieren, brechen bis zu 30.000 Mann aus dem westlich des Flusses gelegenen Kessel unter extrem hohen Verlusten nach Westen durch. Zeitzeugen berichten von tausenden Gefallenen, die die Straßen derart dicht bedecken, dass Fahrzeuge über sie hinweg fahren. Nur 15.000 Soldaten der 9. Armee gelingt die Flucht.

Vernichtung der 4. Armee im Kessel von Minsk

Die 4. Armee versucht nach ihren extrem verlustreichen Übergängen über Dnjepr und Beresina Minsk zu erreichen. Doch die weißrussische Hauptstadt wird zuvor von der Roten Armee befreit. Als "Wandernder Kessel" will ein Großteil der zurückflutenden Truppen südlich von Minsk nach Westen durchbrechen.

Zerstörte Fahrzeuge der 4. Armee der Heeresgruppe Mitte, auf einer Rollbahn bei Minsk, 5. Juli 1944
Zerstörte Fahrzeuge der 4. Armee der Heeresgruppe Mitte auf einer Rollbahn bei Minsk, 5. Juli 1944. Bildrechte: IMAGO / SNA

Doch am 6. Juli blockieren zwei sowjetische Armeen die Rückzugsstraße. Der kommandierende General, Generalleutnant Vincenz Müller, will "Schluss machen" und den Kampf einstellen. Er begibt sich in Gefangenschaft und ruft seine Truppen zur Kapitulation auf. 35.000 Soldaten gehen in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nur etwa 900 "Rückkämpfern" gelingt es, sich bis zur ostpreußischen Grenze durchzuschlagen. 70.000 Soldaten der 4. Armee werden in der Kesselschlacht von Minsk getötet.

Bis zu 400.000 Tote und Gefangene

Insgesamt verliert die Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 in Weißrussland 28 ihrer ehemals 40 Divisionen. Drei ihrer vier Armeen werden komplett zerschlagen. Mit bis zu 400.000 Toten und Gefangenen ist der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte zugleich die schwerste und verlustreichste Niederlage in der deutschen Militärgeschichte.

Zerstörtes deutsches Kriegsmaterial bei Bobruisk 1944
Zerstörtes deutsches Kriegsgerät bei Bobruisk, 29. Juni 1944. Bildrechte: IMAGO / UIG

Sie ist eine militärische Katastrophe weit schwerer als Stalingrad und Tunis 1943. Für die Rote Armee jedoch ist die Operation "Bagration" – trotz fast doppelt so hoher Verluste – ein totaler Sieg. Was anfänglich als Großoffensive zur Rückeroberung von Minsk gedacht war, weitet sich zu einem umfassenden operativen Erfolg aus, der erst Ende August 1944 an der Weichsel vor Warschau, an der Grenze Ostpreußens und bei Riga von der Wehrmacht gestoppt werden kann.

57.000 Gefangene marschieren durch Moskau

Deutsche Kriegsgefangene werden im Juni 1944 durch Moskau geführt
Im "Triumphzug" lässt Stalin am 17. Juli 1944 über 57.000 Kriegsgefangene der bei Minsk vernichteten 4. Armee durch Moskau führen. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Für den Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller ist "Bagration" die "wohl gewaltigste Einzeloperation der gesamten Kriegsgeschichte". Obwohl Stalingrad im Vergleich dazu nur ein "Mikrokosmos" gewesen sei, habe die Schlacht in der deutschen Erinnerung stärker gewirkt, weil hier der "Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht" zerbrach, so Müller: "Die Niederlage in Weißrussland dagegen wurde von den Deutschen weitgehend verdrängt, weil die Aufmerksamkeit der Bevölkerung stärker auf die Normandie gerichtet war."

Dorthin ist nach dem Sieg in Weißrussland auch der Blick des sowjetischen Diktators und Generalissimus Josef Stalin gerichtet. Am 17. Juli lässt er über 57.000 gefangene Soldaten der 4. Armee der Heeresgruppe Mitte, angeführt von ihren gefangenen Generalen, in einem "antiken Triumphzug" durch Moskau führen. Es ist eine Botschaft, die den in Frankreich gelandeten Briten und US-Amerikanern die Stärke der Roten Armee vor Augen führen und die noch immer mit Hitlers Deutschem Reich verbündeten Finnen, Ungarn und Rumänen zum Seitenwechsel veranlassen soll.

Die Folgen der Ostfront-Katastrophe

Sowjetische Kinder spielen bei Minsk auf liegengebliebenen Tiger-Panzern 19. Juli 1944
Sowjetische Kinder spielen am 19. Juli 1944 bei Minsk auf liegengebliebenen deutschen Tiger-Panzern. Bildrechte: IMAGO / SNA

Rumänien steigt im August aus dem Krieg aus, Finnland im September 1944. Die Ungarn werden durch einen von Hitler veranlassten Regierungswechsel in Budapest bei der Stange gehalten. Auch auf den militärischen Widerstand in Deutschland verfehlt der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte seine Wirkung nicht. Einer der Offiziere, die sich unter dem Eindruck der weißrussischen Katastrophe am 20. Juli 1944 zum Attentat auf Adolf Hitler entschließen, kennt die verheerende Lage an der Ostfront aus eigener Erfahrung. Es ist der aus Magdeburg stammende Generalstabschef der 2. Armee, die als einziger Großverband der Heeresgruppe Mitte deren Zusammenbruch überstanden hat. Der Name des Generalmajors: Henning von Tresckow.

Literaturhinweise

  • Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8. Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten. Im Auftrag des MGFA hrsg. von Karl-Heinz Frieser, Stuttgart 2007.
  • Müller, Rolf-Dieter: Der letzte deutsche Krieg 1939-1945, Stuttgart 2002, S. 274-296.

Oliver Breithaupt und Kathrin Krabs gehören zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberstätten. Sie begeben sich auf die Suche nach vermissten Soldaten. 29 min
Oliver Breithaupt und Kathrin Krabs gehören zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberstätten. Sie begeben sich auf die Suche nach vermissten Soldaten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Geschichte Mitteldeutschlands | Hitler – Ein Attentat und die Drahtzieher aus Magdeburg | 31. Juli 2016 | 20:15 Uhr