1. September 1939 Wo und wann der Zweite Weltkrieg in Wahrheit begann
Hauptinhalt
01. September 2021, 04:45 Uhr
Der erste Schuss des Kriegsschiffs "Schleswig-Holstein" auf die Westerplatte bei Danzig gilt gemeinhin als der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Doch die ersten Bomben des 1. September 1939 fallen an einem ganz anderen Ort. Und die ersten Schießereien gibt es genau genommen schon am 26. August. Wann und wo der Überfall auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg in Wahrheit begann.
Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!
Mit diesen Worten begründet der deutsche Reichskanzler und "Führer" sowie Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, am Vormittag des 1. September 1939 vor dem Reichstag den Überfall des Großdeutschen Reiches auf Polen. Es ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Doch die Behauptungen des NS-Diktators sind falsch. Denn weder der erste Schuss noch die erste Bombe des größten Krieges der Weltgeschichte gehen auf das Konto polnischer Soldaten. Und schon gar nicht beginnen die deutschen Kampfhandlungen erst um 5:45 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ), wie es Hitlers Rede suggeriert, sondern bereits gut eine Stunde vorher. Möglich, dass sich Hitler nur verspricht, als er 5:45 Uhr statt 4:45 Uhr sagt. Endgültig geklärt ist diese Frage aber nicht.
Zwei Kommandounternehmen zum Kriegsbeginn
Nach den Operationsplänen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) soll der Feldzug gegen Polen ("Fall Weiß") am 1. September 1939 um 4:45 Uhr MEZ mit zwei Kommandounternehmen zur Einnahme zweier Schlüsselobjekte anlaufen. Vorgesehen ist, zeitgleich ein polnisches Munitionsdepot auf der zur Freien Stadt Danzig gehörenden Westerplatte sowie die Eisenbahn- und Straßenbrücken über die Weichsel bei Dirschau (Tczew) anzugreifen und einzunehmen. Beide Aktionen sollen synchron starten, um die Polen nicht vorzuwarnen und den Erfolg der Unternehmen nicht zu gefährden. Doch weder große Pünktlichkeit noch Präzision zeichnen die ersten beiden Spezialoperationen des Zweiten Weltkrieges aus.
Kampf um die Westerplatte
Einigermaßen zeitplangerecht läuft am 1. September 1939 allenfalls die Operation zur vollständigen Einnahme der nördlich der Danziger Innenstadt gelegenen Halbinsel Westerplatte an. Um 4:47 Uhr feuert das seit dem 25. August auf Flottenbesuch im Danziger Hafen vor Anker liegende deutsche Schulschiff "Schleswig-Holstein" die erste Salve auf das polnische Munitionslager im Südosten der bewaldeten Landzuge ab. Bis heute wird das Ereignis gemeinhin als Auftakt des Zweiten Weltkrieges betrachtet und entsprechend begangen. Zehn Minuten lang wird das polnische Fort von der Hauptartillerie des deutschen Kriegsschiffs beschossen. Dann tritt ein 225 Mann starker Marinestoßtrupp zum Angriff an.
Hohe Verluste und tapfere Verteidiger
Doch die 210 polnischen Verteidiger wehren sich zäh und tapfer. Zwei Sturmangriffe der Deutschen enden im Kugelhagel des polnischen MG-Feuers. Am Ende des ersten Tages sind mehr als 80 Angreifer gefallen. Obwohl es aus militärischer Sicht keinen Grund für eine überhastete Einnahme des Munitionsdepots auf der Westerplatte gibt, besteht Hitler aus Propagandagründen zunächst auf einem schnellen Erfolg. Doch den gibt es nicht. Auch ein 40-minütiger Angriff von Sturzkampfbombern am 2. September ändert daran nichts. Eine Woche lang werden die polnischen Befestigungen immer wieder mit Stuka-Bomben sowie 28-Zentimeter-Granaten der "Schleswig-Holstein" eingedeckt. Erst nach einem Angriff deutscher Sturmpioniere am 7. September kapitulieren die polnischen Verteidiger.
Freie Stadt Danzig und Polnischer Korridor
Die auf Grundlage des Versailler Vertrages 1920 gegründete Freie Stadt Danzig ist bis 1939 ein teilsouveräner Freistaat mit überwiegend deutscher Bevölkerung unter der Verwaltung des Völkerbundes. Polen besitzt Hafen- und andere Sonderrechte. Dazu gehört auch, dass die Polen auf der Danziger Westerplatte ein Munitionsdepot unterhalten dürfen. Der Polnische Korridor beschreibt die ehemaligen Gebiete des Deutschen Kaiserreiches zwischen Hinterpommern im Westen und Danzig/Ostpreußen im Osten, die nach dem Versailler Vertrag 1920 an Polen fallen und dem Land einen Zugang zur Ostsee sichern sollen. "Danzig" wird spätestens ab 1938 zum bestimmenden Streitobjekt zwischen Deutschland und Polen, was schließlich auch den von Hitler angestrebten Kriegsausbruch maßgeblich befördert.
Zielobjekt Dirschauer Weichselbrücken
Auch das zweite deutsche Kommandounternehmen des 1. September 1939 verläuft alles andere als erfolgreich. Bei dem auf dem Gebiet des Polnischen Korridors zwischen Pommern und der Freien Stadt Danzig liegenden Dirschau sollen die Eisenbahn- und Straßenbrücken über den Unterlauf der Weichsel unzerstört eingenommen werden. Die beiden Bauwerke sind für den geplanten deutschen Vorstoß nach Zentralpolen von herausragender Bedeutung. Über sie sowie die weiter südlich liegende Weichselbrücke bei Graudenz soll die aus Pommern durch den Polnischen Korridor stoßende 4. deutsche Armee über den Fluss setzen und die Verbindung mit der in Ostpreußen stehenden 3. Armee herstellen.
Bei allen einleitenden Angriffsmaßnahmen gegen Polen steht die Wahrung der Überraschung für die Inbesitznahme der Weichselbrücken im Vordergrund.
Mit Sturmpionieren und Sturzkampfbombern
In Anbetracht der sich seit Monaten abzeichnenden Kriegsgefahr haben die Polen allerdings längst Vorkehrungen getroffen, um die Dirschauer Weichselbrücken sperren und sprengen zu können. Das wollen die Deutschen unbedingt verhindern. In einem von Ostpreußen über Danziger Gebiet heranfahrenden regulären deutschen Güterzug soll eine Pionierkompanie der Wehrmacht heimlich herangebracht und um 4:45 Uhr auf der Eisenbahnbrücke abgesetzt werden. Um die vorbereiteten Brückensprengungen durch die Polen zu verhindern, sollen kurz zuvor deutsche Sturzkampfbomber die auf der westlichen, Dirschauer Seite der Weichsel im Bahndamm verlegten Zündkabel sowie die dortige Zündstelle zerstören.
Die ersten Bomben des Zweiten Weltkrieges
Um 4:26 Uhr starten im ostpreußischen Elbing drei Stukas Ju 87 des Sturzkampfgeschwaders 1 zum ersten Bombenangriff des Zweiten Weltkrieges. Um 4:33 Uhr - immerhin eine knappe Viertelstunde bevor in Danzig die ersten Schüsse fallen - klinkt Staffelkapitän Oberleutnant Bruno Dilley über dem westlichen Bahndamm vor den Weichselbrücken aus seiner Ju 87 die allerersten Bomben des Krieges aus. Tatsächlich werden die Zündkabel bei dem Bombenangriff zerstört, weswegen die Polen die Brücke zunächst auch nicht sprengen können. Zeitgleich wird der nahe gelegene Dirschauer Bahnhof durch die anderen beiden Stukas bombardiert, um die dort verortete Zündstelle zu zerstören.
Einnahme unzerstörter Brücken scheitert
Als der deutsche Güterzug mit den Sturmpionieren einige Minuten später von Osten auf die Eisenbahnbrücke rollen soll, haben die Polen die Brückenzufahrten längst mit Eisenbahnschienen und Stahltoren versperrt. Die deutschen Pioniere müssen nun 100 Meter vor den Brücken absitzen und sich zu Fuß vorkämpfen. Den polnischen Verteidigern gelingt es aber, die Einnahme der Weichselbrücken zu verhindern und zugleich die bei dem Stuka-Angriff zerstörten Zündkabel zu reparieren. Um 6:10 Uhr jagen sie die östlichen und um 6:40 Uhr die westlichen Brückenköpfe in die Luft. Damit hat auch das zweite deutsche Kommandounternehmen des ersten Kriegstages sein Ziel verfehlt.
Krieg sollte bereits am 26. August 1939 beginnen
Dass am 1. September 1939 gleich zwei Wehrmacht-Aktionen zur Einnahme militärischer Schlüsselobjekte scheitern, dürfte kein Zufall sein. Denn die Polen sind zu diesem Zeitpunkt längst gewarnt. Der Grund: Bereits am 25. August 1939 erteilt Hitler einen ersten Angriffsbefehl auf das östliche Nachbarland. Der Polenfeldzug soll demnach schon am 26. August um 4:30 Uhr beginnen. Als Großbritannien jedoch am Nachmittag des 25. August mit Polen einen Beistandspakt abschließt und Deutschlands Verbündeter Italien die "non belligeranza", die Nichtkriegführung erklärt, zieht Hitler den Angriffsbefehl gegen 22 Uhr zurück.
Handstreich gegen den Jablunkapass
Doch einen zuvor in Marsch gesetzten irregulären Kommandotrupp des Amtes Ausland/Abwehr des OKW, dem Militärgeheimdienst der Wehrmacht, erreicht die Nachricht nicht mehr. Die Männer sind bereits auf dem Weg vom nordwest-slowakischen Čadca in das seit dem Münchner Abkommen am 2. Oktober 1938 von Polen besetzte Jablunkaer Bergland, einem Teil der tschechischen Westbeskiden. Dort sollen sie den strategisch wichtigen Jablunkapass sowie den nördlich davon gelegenen Bahnhof Mosty besetzen. Der Pass mit seiner Passstraße und dem darunter verlaufenden Eisenbahntunnel ist in dem schwer zu passierenden Gelände die südliche Einfallspforte nach Polen.
Kommandotrupp ohne Funkverbindung
Allerdings verfügt der Kommandotrupp aus volksdeutschen Zivilisten unter Führung eines deutschen Abwehr-Offiziers über keine funktionierenden Nachrichtenmittel. Er kann deshalb nicht zurückbeordert werden, als Hitler den Angriff absagt. Und so kommt, was kommen muss. Die dilettantisch ausgeführte Kommandoaktion, bei der am frühen Morgen des 26. August 1939 auch Schusswaffen eingesetzt werden, scheitert kläglich. Die meisten Deutschen werden zunächst von den Polen festgesetzt, aber kurz darauf an die deutsche Seite übergeben, nachdem ein deutscher Offizier versichert, es habe sich um die "Tat eines unzurechnungsfähigen Individuums" gehandelt.
Die Polen sind vorgewarnt
Die Polen sind aufgrund der misslungenen deutschen Kommandoaktion jedoch vorgewarnt, wie sich am Morgen des 1. September 1939 auf der Westerplatte, bei Dirschau und nicht zuletzt am Jablunkapass zeigt. Als die Wehrmacht um 4:45 Uhr auch in den Westbeskiden zum Angriff antritt, sprengen polnische Truppen den dortigen Eisenbahntunnel in die Luft. Als erste Kampfhandlung des Zweiten Weltkrieges gilt der sechs Tage zuvor gescheiterte deutsche Handstreich gegen Mosty und den Jablunka-Tunnel am 26. August 1939 allerdings offiziell nicht, denn der Krieg hat ja zu diesem Zeitpunkt dann doch noch nicht begonnen.
Der Luftangriff auf Wieluń
Den traurigen Ruhm, jener Ort gewesen zu sein, an dem der Zweite Weltkrieg in Wahrheit seinen Anfang nahm, beansprucht hingegen unter anderem auch das unweit der damaligen Reichsgrenze zu Schlesien gelegene Wieluń. Die aus militärischer Sicht unbedeutende Kleinstadt westlich von Tschenstochau wird am frühen Morgen des 1. September 1939 durch 29 Stukas Ju 87 der 1. Gruppe des Sturzkampfgeschwaders 76 angegriffen. Augenzeugenberichten zufolge soll sich der Angriff um 4:37 Uhr MEZ und damit zehn Minuten vor dem ersten Schuss der "Schleswig-Holstein" auf die Westerplatte ereignet haben. Laut dem deutschen Einsatzbericht findet der Angriff allerdings erst um 5:40 Uhr MEZ statt.
Zweiter Weltkrieg begann in Dirschau
Welche Version auch immer die richtige ist, festzustehen scheint jedenfalls, dass weder 4:37 Uhr in Wieluń noch um 4:47 Uhr auf der Westerplatte bei Danzig die ersten Bomben bzw. Schüsse des Zweiten Weltkrieges fallen, sondern um 4:33 Uhr in Dirschau an der Weichsel. Unstrittig ist allerdings ebenso, dass Wieluń die erste Stadt Polens ist, die die verheerende Vernichtungskraft der modernen deutschen Bomberwaffe in ihrer Gänze zu spüren bekommt. Bei insgesamt drei Luftangriffen am 1. September 1939 wird die Kleinstadt weitgehend zerstört. Schätzungsweise 1.200 ihrer Bewohner werden getötet. Die Bombardierung von Wieluń wird von einigen Historikern als erstes Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in Polen angesehen. Es sollte nicht das letzte sein.
Literaturhinweise
- Böhler, Jochen: Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt am Main 2009.
- Schindler, Herbert: Mosty und Dirschau 1939. Zwei Handstreiche der Wehrmacht vor Beginn des Polenfeldzuges. Hrsg. Vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg 1971.