Deutsches Kriegsverbrechen Die Leningrader Blockade – Vernichtung durch Hunger
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von Dr. Daniel Niemetz
27. Januar 2024, 05:00 Uhr
Sie gehört zu den eklatantesten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg: die Leningrader Blockade. Fast zweieinhalb Jahre schließt die Wehrmacht die nordrussische Stadt auf Befehl Adolf Hitlers ein. Über eine Million der 2,5 Millionen Einwohner sterben, die meisten durch Hunger. Am 27. Januar 1944 wird Leningrad aus dem deutschen Würgegriff befreit.
Wir schreiben das Jahr 1941: Am 22. Juni hat die Wehrmacht den Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Seither sind ihre Armeen von Sieg zu Sieg geeilt. Doch was von der NS-Propaganda als Präventivkrieg gegen den Bolschewismus verkauft wird, entpuppt sich schon bald als rassenideologischer Vernichtungskrieg. Das sollte auch die zweitgrößte Stadt des Landes zu spüren bekommen.
2,5 Millionen Menschen in der Falle
Am 1. September 1941 erreichen die Spitzen der Heeresgruppe Nord der Wehrmacht das Gebiet südlich von Leningrad. Eine Woche später, am 8. September, fällt Schlüsselburg am Ladogasee in ihre Hände. Damit ist die Stadt auf dem Landweg vom Mutterland abgeschnitten. 2,5 Millionen Menschen sitzen in der Falle. Die deutschen Generale vor Ort rechnen damit, dass nun der Angriff auf Leningrad beginnt. Das Unternehmen "Barbarossa", die Planungen für den Überfall auf die Sowjetunion, sehen das Erreichen der Wolga-Linie noch für das Jahr 1941 vor. Die Riesenstadt im russischen Norden liegt auf dem Weg dorthin. 40 Divisionen der Roten Armee und eine bedeutende Rüstungsindustrie würden die Deutschen mit der Einnahme der Metropole ausschalten. Die Generale sind siegessicher.
OKW befiehlt Abriegelung
Doch es kommt anders. Am 12. September 1941 entscheiden Adolf Hitler und das ihm unterstellte Oberkommando der Wehrmacht (OKW): Leningrad wird nicht erobert, sondern nur eingeschlossen. Bis heute wird darüber diskutiert, was den Ausschlag für den Entschluss gegeben hat. Fakt ist, dass die Heeresgruppe Nord in der Folge mehrere geplante Angriffe zur Einnahme von Leningrad nicht starten kann, weil sie an anderen Abschnitten unter Bedrängnis gerät oder Truppen an andere gefährdete Frontabschnitte abgeben muss.
Hitler will Leningrader nicht versorgen
Der entscheidende Grund für den Entschluss zur Blockade von Leningrad, die am Ende fast zweieinhalb Jahre dauern wird, dürfte aber ein anderer sein: Hitler will die Ernährung der 2,5 Millionen Einwohner nicht übernehmen. Er rechnet stattdessen fest damit, dass ihm die Metropole früher oder später so oder so in die Hände fällt. Ohnehin hat der NS-Diktator ganz andere Pläne mit der Stadt Peters des Großen und der Oktoberrevolution. Sie soll nach ihrer Einnahme vollkommen zerstört, das Gebiet umgepflügt und die Bevölkerung bis dahin möglichst durch Aushungern beseitigt werden.
Beispiel für NS-"Hungerpolitik" im Osten
Tatsächlich gilt die Leningrader Blockade für die jüngere Geschichtsforschung als besonders schlimmes Beispiel der nationalsozialistischen "Hungerpolitik". Ziel dieser NS-Strategie im Krieg gegen die Sowjetunion ist es unter anderem, die Wehrmacht ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung aus den besetzten Gebieten zu versorgen und die Einwohner gleichzeitig durch Hunger zu vernichten. Die Einschließung von Leningrad mit dem Ziel, die Bewohner dieser Großstadt systematisch verhungern zu lassen, wird am Ende des Krieges eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der Wehrmacht sein.
1,1 Millionen Blockade-Opfer
Tatsächlich sterben in den 872 Tagen bis zum Ende der Leningrader Blockade etwa 1,1 Millionen Bewohner der Riesenstadt. Die meisten von ihnen werden tatsächlich Opfer des Hungers. Die Nahrungsmittelreserven sind bereits einen Monat nach der Einschließung erschöpft. Zwar wird versucht, die Metropole vor allem im Winter über den eingefrorenen Ladogasee zu versorgen. Aber die Mengen, die tatsächlich in die Stadt gelangen, sind nur ein Bruchteil dessen, was die Bevölkerung zum Überleben benötigt.
Kannibalismus, Luft- und Artillerieschläge
Vor allem Kinder, Alte und Kranke werden Opfer des Hungertodes. Die Menschen kippen einfach auf den Straßen um oder sterben in ihren Wohnungen. Der Tod wird zur Normalität. Das sowjetische Innenministerium NKWD zählt in den gut zweieinhalb Jahren der Belagerung über 1.000 Fälle von Kannibalismus.
Hinzu kommt, dass dauernde Luftangriffe und Artillerieschläge der Wehrmacht immer wieder auch Versorgungslager und Nachschubtransporte der Sowjets vernichten. Auch viele Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser werden durch Spreng- und Brandbomben zerstört.
Hitlers Kalkühl verfängt nicht
Für Hitlers Kriegführung geht das Kalkül der Blockade am Ende jedoch nicht auf. Leningrad bleibt in sowjetischer Hand und wird am 27. Januar 1944 durch die Rote Armee endgültig entsetzt. Statt starke Gegner-Kräfte in der nordrussischen Metropole zu vernichten, muss die Wehrmacht, deren Verluste bereits seit dem Kriegsjahr 1941 nicht mehr vollständig ersetzt werden können, mit der 18. Armee einen ganzen Großverband für die Einschließung der Stadt an der Newa abstellen. Dieser fehlt wiederum an anderen Frontabschnitten.
Rüstungsfabriken produzieren weiter
Auch die bedeutende Rüstungsindustrie von Leningrad hört nicht auf zu produzieren. Leningrader Arbeiter liefern weiterhin Panzer, Geschütze und Munition für die Verteidiger ihrer Heimatstadt. Aus den riesigen Kirow-Werken rollen bis zum Ende der Einschließung und darüber hinaus täglich T-34-Kampfpanzer direkt an die Front. Nicht einmal ein Jahr nach dem Ende der Leningrader Blockade erreichen Ende Oktober 1944 auch einige von ihnen Deutschland.
Dieser Artikel erschien erstmals am 6. Oktober 2016.
Literaturhinweise
- Hartmann, Christian: Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941-1945, München 2011.
- Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 4. Der Angriff auf die Sowjetunion. Von Horst Boog, Jürgen Förster, Joachim Hoffmann, Ernst Klink, Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär. Hrsg. Vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1983.
- Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 6. Der globale Krieg. Von Horst Boog, Werner Rahn, Reinhard Stumpf, Bernd Wegner. Hrsg. Vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1990.
- Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 8. Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten. Von Karl-Heinz Frieser, Klaus Schmider, Klaus Schönherr, Gerhard Schreiber, Krisztián Ungváry, Bernd Wegner. Hrsg. Vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 2007.