Angriffe auf Stromnetz Tschernobyl und die große Gefahr im Krieg
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31. Mai 2023, 15:29 Uhr
Zu Beginn des Krieges besetzten russische Soldaten Tschernobyl. Für die anwesende Belegschaft wurde es die längste Schicht in der Geschichte der Atomkraft. Das Ringen um die Sicherheit der Anlage brachte alle an ihre Grenzen – doch die Gefahr ist bis heute nicht komplett gebannt.
Der silberne Sarkophag soll die strahlende Ruine von Reaktor 4 in Tschernobyl schützen – also verhindern, dass Strahlung nach außen dringt. Die Anlage ist jedoch besonders während des Ukraine-Kriegs weiter eine Gefahr. Die neue Hülle ist nur aus Blech – gegen Beschuss bietet sie keinen Schutz. Es könnte alles einstürzen und eine hochradioaktive Staubwolke die ganze Region verseuchen.
Es ist nicht die einzige Gefahr, aber dieses Horrorszenario entfaltete sich direkt ab dem 24. Februar 2022 – als russische Truppen in langen Konvois in die Ukraine einfielen. Sie griffen den Atomkomplex von Tschernobyl an. Seit der Katastrophe von 1986 ist das Werk von einem Sperrgebiet umgeben, etwa dreimal so groß wie Berlin. Russen besetzten und verminten es. Die ukrainischen Wachsoldaten kapitulierten vor der Übermacht. Es bestand auch die Sorge, durch Kämpfe eine großflächige radioaktive Verseuchung auszulösen.
Nuklearterrorismus und manche lächeln einfach?
Als der Schichtleiter von Tschernobyl mit dem russischen Militär verhandelte, war sein Sicherheitsingenieur Valeriy Semionov dabei. Er erzählt MDR Investigativ: "Er hat sie damit konfrontiert, dass die Besetzung Nuklearterrorismus ist. Die hatten so ein leichtes Grinsen im Gesicht, der General Burakow und der Oberst Frolenkow, als ob sie damit nichts zu tun hätten. "So als ob sie nur Verkehrsregeln leicht verletzt hätten." Nach den ersten Verhandlungen mit den Besatzern hätte dann das Personal den Bunker verlassen und sei zurück an die Arbeit gegangen.
Er hat sie damit konfrontiert, dass die Besetzung Nuklearterrorismus ist. Die hatten so ein leichtes Grinsen im Gesicht.
Denn das AKW haben sie nicht im Stich lassen können, so Semionov gegenüber MDR Investigativ. "Wir mussten auch am Arbeitsplatz schlafen." Dafür hätten sie Tische und Stühle zusammengeschoben. 2.500 Menschen sorgen in Tschernobyl für Sicherheit – beim Überfall waren 120 von ihnen gerade im Werk. Der Nachtschicht wurde bald klar, dass sie so schnell keine Ablösung bekommen werden.
"Ich habe meine Angst unterdrückt und dachte, ich muss den Leuten helfen", berichtet Luidmila Mykhailenko. Die medizinische Fachangestellte mit Zusatzqualifikationen für Strahlenschutz und Ersthilfe ist in der medizinischen Ambulanz des ehemaligen Atomkraftwerks (AKW) tätig und unterstützte auch psychologisch: "Einige von ihnen hatten bereits ernsthafte gesundheitliche Probleme. Wir alle lebten in dieser langen, langen Schicht nur von der einen Hoffnung: Wieder nach Hause zu kommen und unsere Familien und unsere Liebsten zu umarmen."
Tschernobyl: Blackout am ehemaligen Atomkraftwerk
Während der Besetzung mussten sie alle hilflos mit ansehen, wie eine Stromverbindung nach der anderen beschossen und zerstört wurde. Am 9. März traf es die letzte Leitung. Das Kraftwerk war ab da im Blackout. Allein die Notstromaggregate versorgten den neuen Sarkophag und andere wichtige Systeme.
"Der neue Sarkophag ist vollgestopft mit allen möglichen Sensoren: für Erdbebenaktivität, für radioaktive Strahlung und so weiter", sagt der Schichtleiter im Kontrollraum für die elektrischen Anlagen in Tschernobyl, Alexej Schelestij MDR Investigativ. Ohne Notstrom wäre da nichts mehr gegangen, ein Szenario, das zum Glück nicht eingetreten ist. "Es liefe dann noch eine kurze Zeit lang auf Batterie und dann wäre alles tot. Wir wüssten dann überhaupt nicht mehr, was innen im Sarkophag passiert."
Hinzu kommt: In Tschernobyl gibt es noch ein Lager mit etwa 21.000 abgebrannten Brennelementen. "Ohne Strom würden dort in den Kühlbecken die Pumpen ausfallen, alles könnte überhitzen und so Strahlung freigesetzt werden. Das wäre eine starke radioaktive Kontamination", erklärt Schelestij.
Schlafen in der Atom-Anlage
Der Dieselvorrat reichte nur für 14 Stunden und es fehlte Personal. "Unser einziger Spezialist für die Dieselgeneratoren hat drei Tage lang so gut wie nicht geschlafen. Das war das Äußerste der Belastbarkeit", sagt die medizinische Fachangestelle Mykhailenko. Sie habe sich damals sehr große Sorgen um diesen Mann gemacht.
Einige Tage lieferte das russische Militär noch Nachschub an Diesel. Danach wurde das Kraftwerk an den russischen Stromverbund angeschlossen. Das verbliebene ukrainische Personal entwickelte nach und nach Routinen in der Not. "Ohne Ablösung ist es hier sehr schwer. Wir mussten hier wohnen, wir haben hier geschlafen und manchmal haben wir hier sogar gegessen", erzählt Elektriker Schelestij.
Nach vier Wochen stimmte das russische Militär endlich einem Austausch des Personals zu. Doch 13 Menschen blieben weiterhin und freiwillig dort – zur Sicherheit. Eine Woche später zogen die Besatzer ab. Jetzt konnten auch die Mitarbeiter nach Hause gehen, die bis zum Schluss ausgeharrt hatten. "Es ist alles wie ein schlechter Traum, wie ein 44 Tage langer Alptraum. Ununterbrochen. 44 Tage lang. Das war es", sagt Ingenieur Semionov.
Gefahr bleibt: Wenn der Strom ausfällt
Der Sarkophag bleibt während des Krieges weiterhin eine Gefahr – ebenso wie die noch laufenden Atomkraftwerke in der Ukraine. Denn immer wieder zielen die russischen Truppen auf das Stromnetz. Fallen die Pumpen aus, die die Brennelemente kühlen, kommt es zur Katastrophe. "Danach kommt es zur Kernschmelze in den Reaktoren", sagt der Geschäftsführer von Energoatom, Petro Kotin. Der Staatskonzern betreibt die vier noch funktionierenden AKW in der Ukraine.
Diese Kühlung muss auch noch funktionieren, wenn die Stromleitungen zerstört sind. Im Oktober 2022 begann Russland den Krieg gegen das Stromnetz und zielte dabei vor allem auf Umspannwerke. Am 23. November kam es zum bislang schlimmsten Angriff. Alle vier aktiven Atomkraftwerke mit insgesamt 15 Reaktoren verloren die Netzanbindung und konnten nur noch mit Notstromaggregaten betrieben werden.
Und auch das stillgelegte AKW Tschernobyl musste wieder mit Notstrom versorgt werden. So etwas hatte es noch nie gegeben. "Das ist eine sehr gefährliche Situation", sagt Energoatom-Chef Kotin. "Wir haben das in der Theorie diskutiert, und wir hatten ein spezielles Training am Simulator, wie man in so einem Fall vorgeht. Aber niemand hätte erwartet, dass so etwas auch in der Praxis passieren könnte."
Der Versuch für Notfälle vorzusorgen – in Europa
Um eine Katastrophe zu verhindern, musste der staatliche Stromkonzern Ukrenergo schnell reparieren, auch unter Lebensgefahr. Innerhalb von 14 Stunden wurde das Netz wieder in Gang gebracht. Insgesamt 1.500 Menschen reparierten komplexe Trafos und Kompensatoren in den Umspannwerken und etwa 10.000 Kilometer Hochspannungsleitungen.
"Das Geheimnis ist, dass wir vor der Invasion einen riesigen Vorrat an Ausrüstung und Materialien angelegt haben", sagt Ukrenergo-Chef Volodymyr Kudrytskyi. "Denn wenn es zu einem großen modernen Krieg kommt, wird der Gegner das Stromnetz bombardieren, vor allem das Stromnetz, sonst nichts. Und darauf sollte jeder im Ernstfall vorbereitet sein." Er schlägt künftig für Europa einen gemeinsamen Ersatzteilvorrat vor.
In Tschernobyl hat 1986 ein Brand im Reaktor 4 die Katastrophe ausgelöst, die Radioaktivität in große Höhen transportierte und die Wolke bis nach Deutschland und in viele andere Länder trug. Im Kontrollraum in Tschernobyl versuchten die Techniker damals vergeblich, eine Katastrophe abzuwenden. Auch heute könnte dort durch Kriegshandlungen wieder eine nukleare Katastrophe verursacht werden, dann wäre aber nur die nähere Region betroffen.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 23. Mai 2023 | 21:45 Uhr