Ukraine-Krieg Die neue Heimat Tschernobyl verteidigen
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03. März 2022, 16:48 Uhr
2014 waren sie mit ihrer Familie vor dem Krieg in der Ostukraine geflohen: Wadym Minsjuk aus dem Gebiet Donezk und Jurij Andrejew aus dem Gebiet Luhansk. Auf der Suche nach einer neuen Existenz hat es beide ausgerechnet an den Ort verschlagen, den viele seit 35 Jahren meiden: die Fallout-Region um Tschernobyl. Durch die russische Invasion sind ihre Existenzen wieder vom Krieg bedroht.
Juri Andrejew ist Landwirt mit Herz und Seele – und Kriegsflüchtling aus der Ostukraine. 200 Tage hielten ihn Separatisten gefangen. Juri berichtet von Misshandlungen und Folter in dieser Zeit. Am Ende wurde er freigelassen, konnte aber nur sein nacktes Leben retten und musste die Heimat verlassen. Heute kultiviert er ukrainische Felder, die durch die Tschernobyl-Katastrophe radioaktiv kontaminiert wurden. Es war für ihn die einzige Chance, sich eine neue Existenz aufzubauen.
Als ich mich aus der Gefangenschaft freikaufen konnte, gab es im Gebiet Luhansk, wo ich mein erstes Agrar-Unternehmen hatte, immer noch Kampfhandlungen. Ich musste einen neuen Ort suchen. Freies Land habe ich nur hier bei Tschernobyl gefunden.
Große Betriebsgelände zu bezahlbaren Preisen – nur in der Fallout-Region konnte Juri sie finden. 2015, ein Jahr nach Kriegsausbruch, kaufte er dort eine alte Kolchose mitten im Sperrgebiet rund um Tschernobyl. "Hier gab es praktisch nichts. Nur verfallene Hallen, weder Strom noch Wasser", erinnert er sich. "Die Leute erzählen, dass das vor der Reaktorkatastrophe eine schöne Kolchose war. Es wurden Kühe gehalten, Schafe, Schweine. Den Menschen ging es gut. Aber Tschernobyl hat alles kaputt gemacht."
Landwirtschaft im Schatten von Tschernobyl: machbar!
150.000 Dollar hat die kaputte Kolchose gekostet – das Geld hat sich Juri bei Freunden geliehen. Wie vor dem Krieg baut er nun Mais, Sonnenblumen und Getreide an, alles für ukrainische Kunden. Erträge wie früher in der Ostukraine sind zwar in weiter Ferne, aber es ist ein Anfang. Dass seine Erzeugnisse radioaktiv verseucht sein könnten, darüber muss sich Juri keine großen Sorgen machen. Denn in der Fallout-Region wurden nicht alle Gebiete gleichermaßen stark kontaminiert.
Alle Felder, die wir gepachtet haben, sind untersucht und sauber. Sie gehören nicht zu den verseuchten Böden. Wir arbeiten nur auf sauberen Feldern. Aber es gibt natürlich auch Orte, wo der Strahlungsmesser geradezu explodiert. Dorthin sollte man nicht gehen.
Mehr als 35 Jahre ist das Reaktorunglück von Tschernobyl schon her – die Strahlung ist inzwischen durch natürliche Prozesse erheblich zurückgegangen. Außerdem nehmen viele landwirtschaftlichen Endprodukte Radioaktivität kaum auf, bestätigt Walerij Kaschparow vom Institut für Landwirtschaftliche Radiologie, das in der Nähe des havarierten Reaktors eine Forschungsstation betreibt: "Sonnenblumen werden hauptsächlich zur Herstellung von Sonnenblumenöl angebaut. Der Anteil von Radionukliden ist im Öl aber hundert Mal geringer als in den Sonnenblumenkernen, weil Cäsium und Strontium praktisch nicht ins Öl übergehen. Mit dem Anbau solcher Ölpflanzen in kontaminierten Gebieten kann man also selbst bei hoher Verschmutzung saubere Produkte erhalten."
Neue Perspektiven für Einheimische und Flüchtlinge
Landwirtschaft schafft außerdem neue Arbeitsplätze in der Region. 13 feste Stellen hat Juri in seiner Kolchose bereits geschaffen – mit Löhnen, die über dem ukrainischen Durchschnitt liegen. Ein Teil seiner Mitarbeiter sind Einheimische, denn in den halbverlassenen Dörfern am Rand des Sperrgebiets wohnen immer noch Menschen. "In unseren Dörfern gibt es keine Arbeit. Alle vegetieren nur irgendwie. Es ist gut, dass Juri gekommen ist. Er hat Arbeit gebracht ", sagt Wolodja, einer der einheimischen Mitarbeiter. Der andere Teil der Belegschaft sind Kriegsflüchtlinge aus dem Gebiet Luhansk – Männer, die sich wie Juri für die Ukraine entschieden haben und die Heimat verlassen mussten.
Sie sind übrigens nicht nur mit dem Anbau von Pflanzen beschäftigt, sondern müssen viele ehemalige Felder der Kolchose erstmal überhaupt wieder urbar machen, denn die Natur hat sie sich zurückgeholt. 860 Hektar haben sie seit 2015 wieder "erobert", also von Bäumen und Wurzeln befreit.
Flucht aus Donezk, Betriebsgründung bei Tschernobyl
Auch Industrie siedelt sich inzwischen, wenn auch in kleinem Maßstab, in der Nähe von Tschernobyl an. Wadym Minsjuk hat hier einen Metallverarbeitungsbetrieb gegründet. Auch er hat, wie Juri Andrejew, in den Separatistengebieten alles verloren und wagte einen Neuanfang im "Schatten" des Unglückreaktors. Angst vor radioaktiver Strahlung hat er nicht.
Alle sagen immer: "Tschernobyl! Strahlung!" Aber bei uns zu Hause schlugen Raketen ein!
44 Raketen schlugen auf seinem ehemaligen Firmengelände in Donezk ein. "Die Trichter waren zwölf Meter breit und drei Meter tief", erinnert sich Wadym. Vor dem Krieg hatte er eine Firma mit vierzig Angestellten – goss Metall, stellte Autobatterien her, recycelte Hausmüll. 20 Jahre war er in der Branche tätig. Doch der Krieg hat all das zerstört.
Für einen Neubeginn hatte Wadym kein Startkapital. Und so verschlug es ihn von einer Unglücksregion in eine andere: Im Dorf Dytjatky, direkt am Zaun der Sperrzone von Tschernobyl, fand er ein neues Betriebsgelände, das für schlappe 4.000 Dollar zu haben war – ein ehemaliges Getreidelager.
Als ich das hier zum ersten Mal sah, dachte ich: daraus kann nichts werden. Alles war kaputt. Das Dach war eingestürzt, es gab keine Wände, nichts. Doch dann hat sich meine Frau hier umgeschaut und sagte: Ich sehe hier eine Fabrik.
Und so ist es auch gekommen. Wadym verkaufte sein Auto und erwarb mit dem Erlös sein künftiges Betriebsgelände. Heute verarbeitet er hier mit drei Angestellten, die genauso wie er aus Donezk geflüchtet sind, Schlacke zu Metall. Alle Maschinen hier sind Marke Eigenbau – zusammengebastelt aus Schrott und Altmetallteilen. Das Geschäft lohnt sich nur, weil Wadym die Rohstoffe nahezu kostenlos bekommt – denn Schlacke ist ebenso ein Abfallprodukt wie die abgefahrenen Autoreifen, die hier vergast werden, um den Schmelzofen zu erhitzen.
Unweit vom Firmengelände hat sich Vadim ein Haus gekauft – eine ehemalige Schule, die für 200 Dollar zu haben war. Wadym baut sie seit 2015 in Eigenregie aus, steckt jeden Cent, den er übrig hat, in die Renovierung. Doch die Arbeit kommt schleppend voran. Von den fünf Zimmern ist bislang nur eines bewohnbar – und die Speisekammer im Keller, die als erster Raum überhaupt fertig war – nicht ohne Grund, denn sie hat eine Doppelfunktion.
Das Erste, was ich sagte, nachdem ich hier angekommen war: Man muss einen Bunker bauen! In diesem Haus gab es keinen. Und ich habe einen aus Stahlbeton gebaut. Damit man hier im Falle eines Krieges vor Explosionen sicher ist. Denn hier kann dasselbe passieren wie im Donbas – die Russen können über die weißrussische Grenze kommen. Die ist nur dreißig Kilometer von hier entfernt.
Ein Bunker aus Sowjetzeiten hat ihm und seiner Frau in der Heimat das Leben gerettet, als die Raketen einschlugen und das Firmengelände dem Erdboden gleichmachten. Um seine Lebensmittelausgaben zu senken, baut er eigenes Gemüse aus. Und macht sich, ähnlich wie Juri Andrejew, keine Sorgen um radioaktive Strahlung. "Das sind Biokartoffeln! Komplett ohne Chemie!", beteuert er. Eine Untersuchung des Institut für Landwirtschaftliche Radiologie hat zumindest bestätigt, dass die Feldfrüchte kaum radioaktive Elemente aufgenommen haben: Die Cäsium-Aktivität ist nicht einmal nachweisbar, geschweige denn, dass sie den zulässigen Wert von 60 Becquerel pro Kilogramm überschreiten würde.
In Tschernobyl heimisch werden
Das Gebiet rund um Tschernobyl zu verlassen und in die Heimat zurückzugehen, das kommt weder für Juri noch für Wadym in Frage. Juri würde zwar gerne das Grab seiner Mutter und seines Bruders besuchen – und von allen Menschen, die er durch den Krieg verlor. Doch das könnte für ihn lebensgefährlich sein, solange dort die Separatisten das Sagen haben.
Wadym ist inzwischen am Rande der Sperrzone von Tschernobyl sogar heimisch geworden. "Bis 2017 hatte ich Sehnsucht und wollte zurück nach Hause", erzählt er. "Als ich aber erfahren habe, dass die Separatisten die nicht zerbombten Teile unseres Unternehmens verstaatlicht und ausgeraubt haben, da ging es mir auf einmal besser. Ich fühlte mich wie neu geboren." Und: Er könne es sich nicht vorstellen, mit den alten Nachbarn – "Menschen, die mich ausgeraubt und unsere Heimat verraten haben", wieder zusammen zu leben. Er hege keinen Groll gegen sie – aber er wolle sie nicht mehr sehen.
Wadym Minsjuk zieht in den Krieg
Für Wadym Minsjuk ist die Gegend um die Sperrzone "das gelobte Land" – das er nun verteidigen will. Tschernobyl wurde gleich am ersten Tag vom russischen Militär eingenommen. Darauf hatte sich Wadym Minsjuk bereits vor Monaten eingestellt. Allerdings brachte er sich vor dem Angriff nicht im eigens von ihm ausgebauten Bunker in seinem Wohnhaus in Sicherheit: Er fuhr nach Kiew, um sich dort den ukrainischen Truppen anzuschließen und um seine neue Heimat zu kämpfen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 15. Januar 2022 | 07:15 Uhr