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Deutsche Minderheit Wird der Bundestag auch in Polen gewählt?
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20. Februar 2025, 23:23 Uhr
In weiten Teilen des polnischen Oberschlesien sind zweisprachige Ortsschilder und Amtstafeln mittlerweile zu einem festen Element der Landschaft geworden. Dort lebt nicht nur eine zahlenmäßig starke deutsche Minderheit – einige Hunderttausend Menschen in der Region besitzen neben der polnischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Damit sind sie als Bundesbürger – zumindest theoretisch – auch in Deutschland wahlberechtigt.
Oberschlesien gilt in Polen als eine Hochburg der deutschen Minderheit. Viele Einwohner erklären sich nicht nur bei der Volkszählung als Deutsche, sie sind es auch de jure, besitzen also die deutsche Staatsangehörigkeit und dürfen am Sonntag bei der Bundestagswahl mit abstimmen. Wie viele genau das sind – das wissen nicht einmal die deutschen Konsulate in Breslau und Oppeln so genau. Auch das Bundesverwaltungsamt in Köln verfügt nicht über solche Angaben, da es kein zentrales Melderegister für Deutsche im Ausland gibt. Schätzungen zufolge könnten es aber mindestens 300.000 Menschen sein.
Wer darf im Ausland den Bundestag wählen?
Doch die Zahl derer, die per Briefwahl an der Bundestagswahl teilnehmen, wird aus mehreren Gründen viel geringer sein. "Man muss gewisse Bedingungen erfüllen. Vor allem muss man im Besitz eines aktuellen deutschen Reisepasses oder Personalausweises sein", erklärt Raphael Bartek, Vorsitzender des Verbandes deutscher sozial-kultureller Gesellschaften in Polen, der Dachorganisation der deutschen Minderheit in Polen. "In den 1990er Jahren war es gang und gäbe, dass Menschen hier aktuelle Dokumente besaßen, weil sie nach Deutschland, Holland oder Österreich zur Arbeit gefahren sind. Heute, nach dem EU-Beitritt, ist es oft nicht mehr der Fall", so Bartek.
Doch es gibt eine weitere Hürde: Als Auslandsdeutscher muss man einen Bezug zu einer Gemeinde im Inland nachweisen. Wenn man in den letzten 25 Jahren dort angemeldet war, bekommt man die Wahlunterlagen auf Wunsch nach Polen zugeschickt. "Wer aber keinen Wohnsitz in Deutschland hatte, muss sich eine Kommune aussuchen, zu der er irgendeinen Bezug hat, diesen nachweisen und überdies noch das zuständige Amt überzeugen, dass man von der deutschen Politik betroffen ist", erklärt Bartek weiter.
Warum Auslandsdeutsche mit abstimmen wollen
Krystian Polanski aus dem oberschlesischen Gogolin, Jahrgang 1975, macht von seinem Wahlrecht gerne Gebrauch. "Deutscher Staatsangehöriger bin ich rechtlich gesehen von meiner Geburt an und den Reisepass der Bundesrepublik besitze ich, seit es möglich ist, also seit den 1990er Jahren. Obwohl ich in Polen lebe, stimme ich bei den Bundestagswahlen ab, weil ich mich für den Staat verantwortlich fühle, dessen Bürger ich bin", erklärt Polanski, der aufgrund familiärer Bindungen seinen Stimmzettel jeweils nach Göppingen schickt.
Ähnlich sieht das der 54-jährige Norbert Rasch aus Proskau bei Oppeln: "Seit ich 18 Jahre alt wurde, nehme ich an allen Wahlen in Polen und in Deutschland teil. Warum auch in Deutschland? Weil das mein Vaterland ist, ein Land mit dem ich in vielerlei Hinsicht verbunden bin", erklärt der Kommunalpolitiker. "Ich animiere auch andere Menschen dazu, ihre Stimmen abzugeben, nicht zuletzt, weil es für uns hier, für die deutsche Minderheit, nicht ohne Bedeutung ist, wer in Deutschland regiert. Unter meinen Bekannten gibt es aber nicht viele, die das machen", so Rasch.
Oberschlesien – bis 1945 Teil von Deutschland
Doch wie kommt es, dass es so viele deutsche Bürger in Oberschlesien gibt? Die Erklärung liegt in der Geschichte der Region. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte der größte Teil Oberschlesiens zu Deutschland. Und anders als in Niederschlesien, Pommern und Ostpreußen fand 1945 in der Region kein tiefgreifender Bevölkerungsaustausch statt. Nachdem die Region polnisch geworden war, stuften die Behörden einen großen Teil der überwiegend zweisprachigen Oberschlesier als Polen ein.
Dadurch blieben sie von der Vertreibung verschont, was grundsätzlich im beiderseitigen Interesse lag. Im Interesse der Bevölkerung, weil niemand freiwillig Haus und Hof verlassen wollte. Und im Interesse der neuen Machthaber, weil sie sich so einen ungestörten Weiterbetrieb der oberschlesischen Industrie und Landwirtschaft sicherten. Außerdem glaubten sie, durch jeden mit polnischem Pass beschenkten Oberschlesier international den Anspruch auf die bisherigen deutschen Ostprovinzen zu stärken.
Mit der Verleihung der polnischen Ausweise verloren diese Menschen aber nicht ihre deutsche Staatsangehörigkeit, auch wenn dieser Umstand in den nächsten viereinhalb Jahrzehnten für sie meist keine praktische Bedeutung hatte. Jedenfalls nicht für diejenigen, die an einer Aussiedlung in die DDR oder die Bundesrepublik nicht interessiert waren. Dann aber kam das Jahr 1989.
1989: Deutsche Pässe auch für Oberschlesier
"Die Gespräche über deutsche Pässe für Deutschstämmige aus Oberschlesien begannen direkt nach der Wende. Auch Bundeskanzler Kohl war darin involviert", erinnert sich Henryk Kroll, langjähriger Abgeordneter der deutschen Minderheit zum Warschauer Sejm. "Wir haben unsererseits signalisiert, dass es unter den deutschen Oberschlesiern die Erwartung gab, ihre deutsche Staatsangehörigkeit durch die Bundesrepublik bestätigen zu lassen. Es ging darum, dass Menschen aus der Region, egal was in Zukunft passieren würde, in Deutschland als Deutsche behandelt werden sollten."
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, einer Periode, die von einem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Volksrepublik Polen gekennzeichnet war, erlebte Oberschlesien einen wahren Exodus in Richtung Westdeutschland, wo jeder Deutschstämmige damals automatisch als Aussiedler aufgenommen wurde. In den 1990er Jahren war die Stimmung schon anders. "Der Bundesregierung lag sehr daran, dass es nicht zu einer erneuten großen Ausreisewelle aus Polen kommt. Und uns war wiederum wichtig, dass möglichst viele Oberschlesier in Oberschlesien bleiben", so Kroll.
1990er: Pendlerkaravane Richtung Deutschland
Der Plan ging zumindest teilweise auf. Denn die Vorstellung, jederzeit nach Deutschland fahren zu können, dort vielleicht Geld zu verdienen und danach nach Hause zurückzukommen, war für viele attraktiver als der oberschlesischen Heimat für immer den Rücken zu kehren. Seinen Wohlstand verdankt der Oppelner Teil Oberschlesiens unter anderem den nach Hause mitgebrachten D-Mark und Euros.
Polen ist 2004 der EU beigetreten, die mit deutschen Pässen ausgestatteten Oberschlesier seien aber schon viel eher dabei gewesen, scherzt man manchmal. Doch hatte dieses Privileg auch seine Schattenseiten. Aufgrund der Lohnunterschiede zwischen Deutschland und Polen entschieden sich in den 1990er und den frühen 2000er Jahren viele für ein Pendler-Schicksal. In Deutschland arbeiten und nur jedes zweite oder jedes dritte Wochenende zu Hause verbringen – so sah das Alltagsleben vieler Doppelstaatler aus der Region aus. Soziale Probleme in einem bis dahin ungekannten Maß waren die Folge. Viele Ehen gingen in die Brüche, und in den "Dörfern ohne Männer" wuchs eine ganze Generation von Kindern im Grunde ohne ihre Väter auf. Diese Situation änderte sich erst seit den 2010er Jahren mit dem polnischen Wirtschaftswunder.
Doppelstaatler: unterschätztes Wählerpotential?
Viele Doppelstaatler aus der Region Oppeln haben es inzwischen nicht mehr nötig, nach Deutschland zu pendeln. Doch sie dürfen in Deutschland nach wie vor wählen. Wie viele das tatsächlich tun, ist allerdings aus mehreren Gründen schwer zu ermitteln. Denn sie werden nicht einem bestimmten Wahlkreis zugeordnet, sondern suchen sich ihn de facto selbst aus. Und diejenigen, die aufgrund familiärer oder beruflicher Bindungen eine Adresse im Bundesgebiet haben, werden trotz des festen Wohnsitzes in Polen nicht als Auslandsdeutsche ausgewiesen.
Offenbar schätzen auch die in der Bundesrepublik aktiven Parteien das Potenzial als nicht allzu hoch ein. Denn vergeblich würde man in Oberschlesien während des Wahlkampfes zum Bundestag nach Wahlplakaten suchen. Auch wird die Region in diesem Zusammenhang nicht von bundesdeutschen Politikern besucht.
Vielleicht wurde aber das Potenzial bisher nur nicht richtig erkannt, glaubt Bartek. "Als deutsche Minderheit verschicken wir immer Wahlprüfsteine. Diesmal teilten uns aber die meisten Parteien mit, dass sie wegen des kurzen Wahlkampfs unsere Fragen nicht beantworten werden und verwiesen uns auf ihre Programme. Schade, dass nicht einmal diese Option von den Parteien wahrgenommen wurde", bedauert der Chef der deutschen Minderheitenorganisation in Polen.
Noch unentschlossen? Hier gibt es Hilfe!
Der Wahl-O-Mat der der Bundeszentrale für politische Bildung hilft Wählerinnen und Wählern, ihre Interessen mit den Programmen der Parteien abzugleichen, die zur Bundestagswahl antreten. Bei der letzten Bundestagswahl sei die Seite millionenfach aufgerufen worden.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 22. Februar 2025 | 07:17 Uhr