Kreativer Protest Belarus: Singen gegen die Autokratie
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12. Oktober 2020, 11:07 Uhr
Auch zwei Monate nach Beginn der Proteste in Belarus lässt Machthaber Lukaschenko Demonstranten rigoros verhaften. Die haben deshalb eine kreative Form des Widerstands gefunden: Spontane Konzerte auf der Straße.
Ein Park mitten in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Jeden Abend versammeln sich hier Nachbarn, um gemeinsam zu singen. Heute sind ein Paar dutzend gekommen. Sie haben den 37-jährigen Musiker Siarzhuk Dougushau eingeladen, damit er mit ihnen belarussische Volkslieder singt.
"Wir widmen unser Konzert denjenigen, die hinter Gittern sind, denjenigen, die Angst haben auf die Straße zu gehen, denjenigen, die gefoltert und verprügelt wurden", erklärt Dougushau später den Sinn der Aktion. Das gemeinsame Singen ist für sie ein politischer Akt. Das zeigt auch an diesem Abend auch die Flagge der Opposition, die von einem der Häuser im Hintergrund hängt .
Belarussisch als Zeichen gegen die Unterdrückung
Denn in der Sowjetzeit sind belarussische Traditionen und auch die Landessprache unterdrückt worden – und verloren gegangen. Nur die Minderheit spricht zu Hause Belarussisch. Das hat sich auch unter Lukaschenko nicht geändert, der öffentlich meist Russisch spricht.
Deshalb dient Belarussisch als Identitätsmarker der Opposition. Aber das Singen hat noch einen anderen Effekt, wie ein Anwohner erklärt: "Viele wollen jetzt einfach Dinge zusammen unternehmen. Das wichtigste dabei ist das Gefühl: ich bin nicht allein."
Polizeigewalt gehört zum Alltag
Auch die Kinder sind dabei, zuletzt ein seltenes Bild in Belarus. Denn bei den Protesten der vergangenen Wochen kam es überall im Land zu Polizeigewalt. Doch die Singenden wollen sich davon nicht einschüchtern lassen.
Plötzlich taucht ein verdächtiger Bus auf: der Geheimdienst, vermuten die Musizierenden und fliehen. "Man kann auch in der Nähe einer Veranstaltung grundlos abgeführt werden. Deswegen sind alle, die draußen singen, Helden", sagt der Musiker Dougushau wenig später in einem Taxi. Er saß selbst bereits für Protestaktionen im Gefängnis.
Spontane Konzerte in ganz Misnk
Dougushau ist auf dem Weg zur nächsten Gesangsveranstaltung. Die Polizei löst auch solche Zusammenkünfte zunehmend mit Gewalt auf. Deswegen versammeln sich die Singenden spontan - an verschiedenen Orten der Stadt, organisiert über soziale Netzwerke. Dougushau ist fast immer mit dabei.
So wie jetzt, als die Singenden den Passanten auf einer belebten Straße ein Ständchen bringen. Zwei Lieder, dann ist Schluss. Selbst wenn jemand die Polizei anruft, schafft die es kaum, so schnell zu kommen. Die Menge zerstreut sich schnell und routiniert.
Regime-Spitzel überall
Etwas später in einem Innenhof von Minsk. Im Hinterzimmer einer Kneipe hat Dougushau seine nächste Gesangsveranstaltung. Gleich am Anfang sieht er einen verdächtigen Zuschauer. Der Mann steht nur rum, klatscht nicht und beobachtet das Treiben.
Als er sieht, dass auch er bemerkt wurde, verlässt er das Gebäude. Für Musiker Dougushau ist klar: "Ein Spitzel. Diese Leute kommen und beobachten die Lage. Sie halten Ausschau nach verbotenen Fahnen oder Songs und leiten alles an den Geheimdienst weiter."
Die Informanten seien derzeit allgegenwärtig, sagt Siarzhuk Dougushau. Doch auch auf die Gefahr einer Verhaftung hin, wollen er und die anderen Aktivisten weiter singen: für das Gemeinschaftsgefühl und gegen das autoritäre Regime von Alexander Lukaschenko.
TV-TIPP Die "Heute im Osten-Reportage "Belarus: Die Kunst des Protestes" läuft am Samstag, dem 10.10.2020, um 18:00 Uhr im MDR Fernsehen.
(ahe)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 10. Oktober 2020 | 07:15 Uhr