Der "große Bruder" ist zurück Belarus: Welchen Preis wird Lukaschenko für Putins Hilfe zahlen?
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15. September 2020, 13:12 Uhr
Der belarussische Präsident Lukaschenko braucht dringend Unterstützung, will er die Lage im Land stabilisieren und seine angeschlagene Macht wieder festigen. In dieser Not wandte sich der Autokrat an Wladmir Putin. Für den Kremlchef eine wilkommene Gelegenheit, den allzu eigenständigen "Amtsbruder" wieder an die Kandare zu nehmen. Russland sicherte Lukaschenko in Sotschi zwar Unterstützung zu, stellt aber wirtschaftliche Forderungen und besteht auf politischen Reformen, um künftig auch an Lukaschenko vorbei Einfluss im Nachbarland ausüben zu können.
Mehr als vier Stunden haben Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin im Rahmen eines merkwürdigen Arbeitsbesuchs in Sotschi verhandelt. Dabei bemühte sich Russland sichtlich, dem belarussischen Machthaber seinen Platz aufzuzeigen. Erst wurde Lukaschenko am Flughafen lediglich vom Gouverneur von Krasnodar empfangen. Dann haben Kreml-nahe Journalisten den Autokraten regelrecht getrollt, unter anderem für seinen fragwürdigen Umgang mit der Corona-Pandemie auf Plattformen wie Telegram. Am aussagekräftigsten war aber die Körpersprache des russischen Staatsoberhaupts selbst, der beim öffentlichen Teil des Treffens seinem Amtskollegen offenkundig Desinteresse zeigte.
1,5 Milliarden US-Dollar für Belarus ...
Worüber die Präsidenten tatsächlich sprachen, dürfte nur den beiden Staatschefs bekannt sein. Schon im Vorfeld war klar, dass Putin und Lukaschenko keine Dokumente unterzeichnen und keine Abschlusstatements abgeben werden. Die Zusage Putins für einen weiteren Kredit von 1,5 Milliarden US-Dollar an Minsk sind für Lukaschenko am Rande der Wirtschaftskrise und politischer Instabilität gut zu gebrauchen - mehr als das obligatorische Zeichen der Unterstützung ist das aber nicht. Schließlich hat der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch im Laufe der Maidan-Revolution vor Jahren sogar 15 Milliarden von Russland zugesagt bekommen. Dass Putin zudem sich deutlich für eine Verfassungsreform sowie für einen innenbelarussischen Dialog aussprach, blieb für Lukaschenko bestimmt nicht unbemerkt.
... aber nicht ohne Gegenleistung
Schon vor den manipulierten Präsidentschaftswahlen im August waren die belarussisch-russischen Beziehungen an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Putin hat immer mehr Gründe, über den allzu eigenständigen und aus russischer Sicht unberechenbaren Staatschef von Belarus verärgert zu sein, der politisch zwischen West und Ost pendelt und sich nicht an Absprachen nicht hält. Und so fordert Putin nun eine Verfassungsreform, bei der die Macht des Präsidenten beschnitten und die des Parlaments gestärkt wird. Der Kreml will nicht mehr, dass die Beziehung zu dem Nachbarn von einer einzigen, allmächtigen Personen und ihren Launen abhängt, weil sich das als zu risikant erwiesen hat.
Lukaschenko schwächen, Parlament stärken
Heute ist das Parlament in Minsk nur eine Fassadeinstitution, die existierenden Parteien sind überhaupt nicht ernstzunehmen - selbst an den niedrigen postsowjetischen Maßstäben gemessen nicht. Sollte das Parlament an Einfluss gewinnen, wird ein halbwegs funktionierendes Parteisystem erst entstehen müssen. Hier hätte Russland große Möglichkeiten, in diesem Prozess mitzuspielen und ein gut funktionierendes Checks-and-Balances-System zu installieren, in dem die meisten Akteure loyal gegenüber Russland sind.
Dass sich die meisten Politiker weiterhin nach Russland orientieren werden, gilt als sicher, denn Belarus ist wirtschaftlich zu sehr von Russland abhängig, als dass es sich einen eindeutig prowestlichen Kurs leisten könnte. Russland ist Gläubiger bei rund 70 Prozent der belarussischen Staatsschulden und der mit Abstand größte Absatzmarkt.
Vertiefung des Unionsstates gescheitert
Die belarussische Wirtschaft profitierte lange Zeit von der Verarbeitung und dem Weiterkauf des russischen Öls. Der freundliche Preis, den Russland für seine Energieträger setzte, galt als Grundlage des sogenannten "belarussischen Wirtschaftswunders" und war de facto eine russische Subvention.
Doch das ist inzwischen Geschichte. Im vergangenen Jahr versuchte Russland, den billigeren Ölpreis gegen eine Vertiefung der Integration im Rahmen des gemeinsamen Unionsstaates zu tauschen, der formell schon seit über 20 Jahren existiert. Ein gemeinsames Parlament und eine gemeinsame Währung sollten her. Außerdem wollte Moskau ohnehin mehr Kontrolle über Minsk bekommen, das oft nur im eigenen Interesse agierte.
Die Verhandlungen sind Ende 2019 gescheitert. Zwar sprechen sich rund drei Viertel der Belarussen für gute Beziehungen mit ihrem Nachbarn, einen richtigen Unionsstaat mit Russland wollen aber nur die wenigsten. Und auch Lukaschenko selbst wollte seine Macht nicht verlieren. Es folgte sogar eine längere Propagandaschlacht zwischen den Staatsmedien der beiden Länder, mit der Ausweisung russischer Fernsehkorrespondenten als Höhepunkt.
Lukaschenko spricht wieder vom "großen Bruder"
Doch das Ausmaß der Proteste gegen die Wahlfälschungen, die seit mehr als fünf Wochen weitergehen, musste Lukaschenko zum Umdenken bewegen. Alleine in der Hauptstadt Minsk gehen jeden Sonntag mehr als 100.000 Menschen auf die Straße - Lukaschenkos angebliches Wahlergebnis von 80 Prozent wird dadurch massiv in Frage gestellt. Es gibt zudem keine Anzeichen, dass die Proteste bald abnehmen würden.
Der 66-jährige Lukaschenko kann sich zwar weiterhin auf seine treuen Sicherheitsbehörden verlassen, Unterstützung aus Russland wäre für ihn dennoch eine wichtige Stütze. Und so übte sich Lukaschenko verbal in Demut und bezeichnete Russland in Sotschi als "großen Bruder".
Das Versprechen einer Polizeireserve von Putin, falls die Lage in Belarus eskaliert, steht. Aber auch den Kredit von 1,5 Milliarden Dollar kann der belarussische Präsident unter anderem für die Finanzierung seines Sicherheitsapparats einsetzen. Ob der Kreml aber für Lukaschenko bis zum Schluss kämpfen wird, ist nach den Verhandlungen in Sotschi allerdings noch fraglicher als davor.
Russland an "Filetstücken" in Belarus interessiert
Das tatsächliche Ergebnis des Treffens von Sotschi wird erst in den nächsten Tagen und Wochen deutlich. Das Thema Vertiefung des Unionsstaates ist vorher vom Tisch - es wäre in der jetzigen Situation zu gefährlich, es zu forcieren. Im Wirtschaftsbereich gibt es aber dennoch Interessen, die Russland gerne durchsetzen würde.
Dazu zählt der Verkauf der wenigen profitablen Staatsbetriebe wie des Fahrzeugherstellers BelAZ an russische Käufer. Außerdem wünscht sich Moskau seit längerem, dass der Export belarussischer Waren nicht über Häfen in den baltischen Staaten, sondern über Russlannd läuft. Außerdem würde Moskau es begrüßen, wenn Minsk seine wirtschaftlichen Verbindungen noch stärker, als es ohnehin schon der Fall ist, auf die Eurasische Wirtschaftsunion ausrichtet - einen Zusammemschluss von Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan.
Hilfe beim Machterhalt - für Russland ein gefährliches Spiel
Hilfe beim Machterhalt gegen wirtschaftliche und politische Zugeständnisse - bei diesem Spiel hat Russland allerdings viel zu verlieren. Denn auch wenn ein Machtwechsel in Minsk nicht im Interesse Moskaus wäre - die Demonstranten standen am Anfang der Proteste durchaus loyal zu Russland. Mittlerweile werden russlandkritische Stimmen dagegen immer lauter, weil der Kreml immer noch hinter Lukaschenko steht. Damit verspielt er viele Sympathien im Nachbarland und macht sich auch unglaubwürdig. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit dem eigenartigen Parnter Lukaschenko wurde in den Kreml-Medien nämlich auch mit seiner angeblich enormen Beliebtheit begründet - doch diese ist offenkundig nicht mehr gegeben.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 14. September 2020 | 19:30 Uhr