Interview Belarus: Was kann Lukaschenko von Russland fordern?

07. September 2020, 09:15 Uhr

Gibt es für den Kreml eine rechtliche Verpflichtung, Truppen oder Polizeikräfte nach Belarus zu entsenden, wenn Lukaschenko darum bittet? Und wird er es tun? Die Politikwissenschaftlerin Nadja Douglas vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) erklärt die Zusammenhänge.

Dr. Nadja Douglas
Dr. Nadja Douglas vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) Bildrechte: Annette Riedel

Wladimir Putin hat den Aufbau einer Polizeitruppe angekündigt, die entsandt werden könnte, um Alexander Lukaschenko zu helfen. Auf welcher Rechtsgrundlage geht so etwas überhaupt?

Es ist fraglich, ob Präsident Putin die rechtliche Grundlage dafür ausbuchstabieren würde, bisher hat er das jedenfalls nicht getan. Putin hat in einem Interview mit dem russischen Fernsehen erklärt, dass er diese polizeilichen Einsatzkräfte als Reserve bereit hält -  allerdings nur für den Fall, dass die Situation in Belarus außer Kontrolle gerät oder sich die Protestbewegung radikalisiert. Und der Kreml hat auch gesagt, dass Belarus auf Grundlage des Unionsvertrages eine notwendige Unterstützung bekommen würde. Putin sprach dabei wortwörtlich von "Verpflichtungen gegenüber Belarus im Sicherheitsbereich".

Es ist aber meines Erachtens sehr unwahrscheinlich, dass es wirklich dazu kommt. Die Zusicherung Putins verfolgte eigentlich ein ganz anderes Ziel: Zum einen war sie ein demonstratives Signal gegenüber dem Westen, dass er sich nicht in die inneren Angelegenheiten von Belarus einmischen soll – was Russland selbst aber auch nicht beherzigt. Andererseits ist sie auch als Warnung gegenüber der belarusischen Opposition bzw. den Demonstranten zu verstehen, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten und sich nicht auf provokante Aktionen einzulassen.

Auf welche Vertragswerke können sich die beiden Staaten denn beziehen?

Eine militärische Unterstützung könnte auf Grundlage des Unionsvertrags zwischen Russland und Belarus (der vor allem eine enge Zusammenarbeit der beiden Länder in den Bereichen Wirtschaft und Verteidigung regelt – d. Red.) oder im Rahmen der OVKS (Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit, ein von Russland angeführtes Militärbündnis, dem neben Belarus noch Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, und Tadschikistan angehören – d. Red.) erfolgen.

Man muss aber dazu sagen, dass die Regelungen im Unionsvertrag ziemlich vage sind. Dort gibt es keine explizite Beistandsklausel, sondern lediglich Formulierungen, die darauf abzielen, die Sicherheit und territoriale Integrität dieses gesamten Unionsstaates zu wahren und beispielsweise gemeinsam gegen Kriminalität zu kämpfen.

Im Rahmen des Vertragstexts der OVKS dagegen findet sich tatsächlich in Artikel 4 eine Beistandsgarantie. Die sieht aber vor, dass eine militärische Unterstützung lediglich im Fall von Aggressionen von außen angefordert werden kann. Zudem müssten alle teilnehmenden Staaten der OVKS zustimmen – was nicht anzunehmen ist, da die Organisation in der Vergangenheit sehr das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten hoch gehalten hat.

Präsident Wladimir Putin (li., Russland) anlässlich eines Treffens mit seinem Amtskollegen Alexander Lukaschenka (Belarus) in Minsk im Jahr 2007.
Ein Bild aus harmonischeren Zeiten: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenka im Jahr 2007 in Minsk. Bildrechte: imago/UPI Photo

Ausschlaggebend ist, dass – ähnlich wie Assad in Syrien – Lukaschenko einwilligt, und dass der russische Föderationsrat der Entsendung von Truppen ins Ausland zustimmt. Das ist aber eher eine Formalie.

Eine andere Sache wäre eine polizeiliche Kooperation: Natürlich gibt es zahlreiche Abkommen über grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit, da geht es um die Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität oder Terror. Das könnte im Zweifelsfall auch als Amtshilfe gewertet werden – wenn der Kreml das möchte.

Was ist die Russich-Belarusische Union?

Die Russisch-Belarusische Union ist ein Staatenbund zwischen Russland und Belarus, der am 8. Dezember 1999 ins Leben gerufen, aber nur begrenzt umgesetzt wurde. Der von Alexander Lukaschenko und Boris Jelzin unterzeichnete Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht, einen Rechnungshof und sogar eine gemeinsame Verfassung vor. Tatsächlich bestehen bis heute nur Elemente einer Verteidigungs-, Wirtschafts- und Zollunion.

Gibt es eine rechtliche Verpflichtung für Russland, Lukaschenko militärische Unterstützung gewähren oder nicht?

Das ist eine Frage der Auslegung. Sind die Proteste eine Bedrohung von außen oder stellen sie eine terroristische Gefahr dar? Der Kreml und  Putin werden es immer so auslegen, dass es auch politisch passt. Außerdem hat die Vergangenheit gezeigt, dass Putin völkerrechtliche Verpflichtungen eher freihändig interpretiert.

Wie ist denn die Haltung der belarusischen Opposition Russland gegenüber? Strebt sie eine Änderung des Verhältnisses zwischen den Ländern an?

Lukaschenko hat sich immer wieder – und bislang vergebens – bemüht, diesen demokratischen Widerstand im Land als von außen gelenkte Bedrohung darzustellen. Er hat sogar gesagt, dass es eine direkte, politische oder militärische Einmischung des Westens gibt, um Russland zu mobilisieren. Der Kreml hat auf diese Narrative aber bisher nicht reagiert.

Die Opposition hat sich aber immer wieder ganz klar positioniert und  gesagt, dass sie sich von keiner Seite instrumentalisieren lasse. Und vor allem, dass die Bewegung sich nicht gegen Russland richtet, sondern eine demokratische Revolution sei, die ein ganz klares Ziel verfolgt: Neuwahlen und die Wiedererlangung der Freiheit der Bürger von Belarus.

Was ist Russlands dominierendes Interesse in dieser Situation?

Der Kreml will die Situation in Belarus stabil halten – ob mit oder ohne Lukaschenko. Nach wie vor ist Belarus der wichtigste regionale Verbündete, strategisch gesehen ist das Land für Russland überlebenswichtig. Es ist der Puffer zur Nato und ein Brückenkopf zur Oblast Kaliningrad.

Solange Präsident Lukaschenko den Status Quo halten kann und dadurch in eine immer tiefere Abhängigkeit von Russland gerät, ist es für den Kreml sinnvoll, die Situation einfach nur weiter zu beobachten. Wenn aber Präsident Lukaschenko fällt, wird Russland meines Erachtens nicht eingreifen, sondern würde eher versuchen, Einfluss auf die dann anstehenden Neuwahlen zu nehmen. Wenn man Parallelen zu Armenien 2018 zieht, hat Russland in Reaktion auf die Samtene Revolution dort auch nicht interveniert, sondern sich mit der neuen Regierung arrangiert. Im Grunde könnte Russland nur verlieren, wenn es versucht, Lukaschenko mit Gewalt an der Macht zu halten.

Die Bevölkerung in Belarus ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland gegenüber noch sehr wohlgesonnen ist. Würde es zu einer militärischen Intervention kommen, könnte sich das schlagartig ändern. Auch innenpolitisch könnte ein solcher Schritt nach hinten losgehen: Ein nicht geringer Teil der Russen unterstützt die Proteste in Belarus - anders als damals den Euromaidan in der Ukraine. Unter anderem hat sich die Protestbewegung in Chabarowsk im Osten Russlands, die dort seit Wochen gegen die Verhaftung des Gouverneurs der Region demonstrieren, solidarisch mit der Opposition in Belarus gezeigt.

Nicht zuletzt ist der Kreml nun auch im Zuge der Nawalny-Affäre massiv unter Druck und würde somit erst recht einen kompletten Abbruch der Beziehungen zum Westen riskieren.

Dr. Nadja Douglas studierte Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen in Bonn und Paris. Sie promovierte zum Thema zivile Streitkräftekontrolle in der Russischen Föderation. Inzwischen arbeitet sie am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und forscht zur Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen im post-sowjetischen Raum.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 30. August 2020 | 19:30 Uhr

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