Polen Tradition oder Tierquälerei? Immer weniger Polen kaufen ihren Weihnachtskarpfen lebend
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23. Dezember 2024, 05:00 Uhr
Der Karpfen gehört in Polen genauso zu Weihnachten wie in Sachsen der Christstollen. Rund neun Millionen Karpfen müssen in Polen Jahr für Jahr vor Weihnachten ihr Leben lassen. Bis vor Kurzem wurden sie überwiegend lebend gekauft, danach noch einige Tage in der heimischen Badewanne gehalten und erst an Heiligabend geschlachtet. Doch inzwischen verschwinden die einst allgegenwärtigen Bottiche und Fässer der Fischverkäufer allmählich aus dem Straßenbild – dank einer Tierschutzkampagne.
Kindheitserinnerung: Karpfen in der Badewanne
Viele Polen kennen das Bild aus ihren Kindertagen: Jahr für Jahr drehte kurz vor Weihnachten ein stattlicher Karpfen in der heimischen Badewanne seine Runden, bevor er an Heiligabend auf dem Teller landete. Damals hatte das seine Berechtigung. Schließlich ist der Karpfen ein fester Bestandteil des polnischen Weihnachtsmenüs. Da es in der sozialistischen Mangelwirtschaft aber nicht möglich war, die benötigten Fischmengen unmittelbar vor den Feiertagen bereitzustellen, musste der Kunde die Feste so feiern, wie sie im volkseigenen Handel fielen – sprich: seinen Weihnachtskarpfen schon Tage vorher kaufen, wenn er gerade auf den Markt kam. Die anschließende Badewannenhaltung war ein Notbehelf.
Lebendverkauf: Unnötige Tierquälerei
Die Zeiten haben sich längst geändert – Fisch kann man immer und ohne Probleme bekommen. Allerdings ist der "Badewannenkarpfen" für manche Polen zu einer Weihnachtstradition geworden. Die Bottiche und Fässer der Fischverkäufer standen vor Weihnachten auch nach der Wende nicht nur in den Geschäften und Supermärkten, sondern gefühlt an jeder Straßenecke. Doch Tierschützer schlagen in den letzten Jahren immer lauter Alarm: Der Lebendverkauf bedeute für die Fische ein tagelanges Martyrium. Sie werden in überfüllten Behältern gehalten, oft in schmutzigem Wasser, das mit Blut verunreinigt ist und nicht ausreichend Sauerstoff enthält. Die Käufer packen die Karpfen oft in Plastiktüten ohne Wasser, wo die Fische kaum atmen können. In der Badewanne zu Hause angekommen, sind sie schon halbtot, kurz vor dem Ersticken – eine unnötige Tierquälerei, argumentieren Tierschützer, denn wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge verspüren Fische genauso wie alle anderen Wirbeltiere Schmerz und Angst.
Erfolgreiche Aufklärungskampagnen
Mit ihren Aufklärungskampagnen, die sie geduldig Jahr für Jahr wiederholten, hatten Tierschutzorganisationen Erfolg. Anfangs wurden die Aktivisten, die kurz vor Weihnachten Mahnwachen vor den Supermärkten hielten, belächelt. Losungen wie "Blutiges Fest" oder "Der Karpfen lebt noch" schienen vielen übertrieben. Doch inzwischen vollzieht sich ein Bewusstseinswandel in der polnischen Gesellschaft. Schon bei einer repräsentativen Umfrage im November 2021 sprachen sich 59 Prozent der Befragten dafür aus, den Verkauf von lebenden Fischen zu verbieten. Zwei Jahre später gaben 72 Prozent an, keine lebenden Fische kaufen zu wollen. Männer und eifrige Kirchgänger lehnen ein Verkaufsverbot allerdings noch relativ oft ab – offenbar geht die christliche Gesinnung bei vielen Traditionalisten nicht mit einem Herz für Tiere einher.
Lebendverkauf auf dem Basar
Die meisten großen Supermarktketten haben den Verkauf von lebenden Fischen in den letzten Jahren nach und nach eingestellt. Ein Problem bleiben aber aus Sicht der Tierschützer die improvisierten Verkaufsstände im Freien und auf den städtischen Basaren. Sie sind zwar gefühlt weniger geworden, aber nicht völlig verschwunden. Artgerechte oder zumindest humane Tierhaltung sind dort nicht gewährleistet, auch wenn es dafür theoretisch strenge Vorgaben gibt: Die Anzahl der Fische pro Kubikmeter ist limitiert, ein Drittel des Wassers muss alle zwölf Stunden ausgetauscht werden, außerdem muss es angemessen temperiert sein und ausreichend Sauerstoff enthalten. Seit einigen Jahren dürfen die Tiere auch nicht mehr vor aller Augen an Ort und Stelle getötet werden, um Kinder vor diesem Anblick zu schützen.
Halbe Million Unterschriften für Verkaufsverbot
Tierschützer halten diese Auflagen für unzureichend. Mehrere Organisationen haben deshalb in diesem Jahr einen Gesetzentwurf im Parlament eingereicht, der den Lebenverkauf von Fischen verbietet und von einer halben Million Polen unterschrieben wurde (in Polen muss sich das Parlament mit Gesetzentwürfen befassen, wenn sie von mindestens 100.000 wahlberechtigten Bürgern unterzeichnet wurden). Seit der ersten Lesung Anfang Oktober wurde aber noch nicht weiter darüber beraten. Tierschützer argumentieren allerdings, dass der Lebendverkauf bereits nach jetziger Lage unzulässig sei, weil die Tiere unter Bedingungen verkauft werden, die den Straftatbestand der Tierquälerei erfüllen. Dies ist allerdings Auslegungssache, ein Verbot würde da Klarheit schaffen.
Erste Strafverfahren wegen Tierquälerei
Auch die Justiz reagiert inzwischen auf die Missstände: Im Jahr 2020 gab es nach einem mehrjährigen Prozess eine erste Verurteilung wegen nicht artgerechter Haltung von Weihnachtskarpfen – drei Mitarbeiter einer Handelskette erhielten Bewährungsstrafen. Denn Fische genießen als Wirbeltiere eigentlich denselben gesetzlichen Schutz wie beispielsweise eine Kuh oder ein Hund – man darf sie nicht unnötig quälen und ohne Grund töten.
Nobelpreisträgerin widmet Karpfen Erzählung
Besserung ist also in Sicht. Immer mehr Polen verzichten freiwillig auf den lebenden "Badewannenkarpfen". Vielleicht haben auch einige prominente Unterstützer einen kleinen Anteil daran, die sich in die Aufklärungskampagnen eingeschaltet haben – etwa der beliebte Gastrokritiker und Fernsehjournalist Robert Makłowicz oder die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die den letzten Lebenstagen eines Badewannenkarpfens eine kurze Weihnachtserzählung gewidmet hat.
Dieser Artikel ist erstmalig 2021 erschienen und wurde 2024 aktualisiert.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Mensch Nachbar | 01. Dezember 2024 | 18:00 Uhr