Kriegswirtschaft Russlands Arbeitsmarkt im Krieg: Wenn niedrige Arbeitslosigkeit zum Problem wird
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27. Januar 2025, 17:28 Uhr
Russlands Arbeitslosigkeit sinkt auf ein historisches Tief. Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte, ist aber ein Problem für die Wirtschaft. Kriegsdienst, Abwanderung und fehlende Arbeitsmigranten führen zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel. Unternehmen erhöhen die Löhne, können aber mit den Gehältern im Militärsektor nicht mithalten.
Arbeitslosigkeit wird in Russland immer mehr zur Ausnahme. Laut russischer Statistikbehörde Rosstat lag sie im November 2024 bei 2,3 Prozent, in Moskau herrscht mit einer Arbeitslosenquote mit 0,3 Prozent erst recht Vollbeschäftigung. Dies sei der niedrigste Wert seit 1991, ein historischer Rekord, so Rosstat.
Außer dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Propagandisten spricht aber niemand von positiven wirtschaftlichen Entwicklungen trotz der Sanktionen, zumindest nicht unter Wirtschaftsexperten. Denn sinkende Arbeitslosenzahlen gehen keineswegs mit einem Wirtschaftsboom einher.
Nach Ansicht von Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow ist diese "anomale Entwicklung" nicht gut für die Wirtschaft. So klagen laut dem Moskauer Institut für Unternehmensentwicklung und Wirtschaft 91 Prozent der russischen Unternehmen über Mitarbeitermangel. Zwar stiegen bei einem angespannten Arbeitsmarkt die Löhne, doch übersteige das Lohn- weiterhin das Produktivitätswachstum, mahnte die Zentralbank im Dezember 2024.
Krieg bindet dringend benötigte Arbeitskräfte
Gründe für den Arbeitskräftemangel liegen unter anderem darin, dass jetzt die geburtenschwachen Jahrgänge der Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre Geborenen in den Arbeitsmarkt eintreten. Verschärft wird dieser Trend durch die sogenannte "militärische Spezialoperation". Schätzungen zufolge wurden etwa 770.000 Männer für Russlands Krieg gegen die Ukraine mobilisiert oder haben Söldnerverträge unterschrieben.
So hat sich auch der Krieg selbst zu einem Konkurrenten der zivilen Wirtschaft entwickelt: Die Vergütungen für die Söldner sind so hoch, dass sich viele Russen für einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium entscheiden. In der Region Rostow etwa wurden die Einstiegsprämien auf umgerechnet 16.000 Euro erhöht. Gouverneur Wasilij Golubew erklärte in seinem Telegram-Kanal unverblümt: "Wir unternehmen diese Schritte, um die Bürger dazu zu motivieren, Verträge für einen Militärdienst abzuschließen."
Dabei konkurrieren die Regionen miteinander darum, wer die höchsten Zahlungen für Vertragsabschlüsse bietet. So legen die Gouverneure unterschiedliche Summen auf den Sold obendrauf, den jemand dann für den eigentlichen Dienst vom Verteidigungsministerium bekommt. In Moskau erhalten Söldner für ein Jahr Dienst umgerechnet 52.000 Euro. Entsprechende Stellenanzeigen werden direkt auf Jobportalen wie superjob.ru geschaltet: "Schließen Sie direkt einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium ab. Rekrutierung aus allen Regionen und Städten Russlands. Berufserfahrung nicht erforderlich." Laut Verteidigungsministerium unterzeichneten allein in der ersten Jahreshälfte 2024 etwa 190.000 Russen Verträge mit dem Militär.
Abwanderung und fehlende ausländische Arbeiter
Gleichzeitig führte laut Wirtschaftsmagazin Forbes die im Herbst 2022 von Russlands Präsident Wladimir Putin ausgerufene Mobilmachung dazu, dass fast eine Million Menschen Russland verlassen haben, darunter viele hochqualifizierte Arbeitskräfte. Der unabhängige russische Demograf Alexej Rakscha spricht von etwa 700.000 Auswanderern. Wie viele von ihnen nach Russland zurückgekehrt sind oder aus der Ferne arbeiten, lässt sich kaum ermitteln. In jedem Fall hat diese Auswanderungswelle erheblich zum Fachkräftemangel beigetragen.
Parallel dazu kommen weniger Arbeitsmigranten nach Russland. Fast 90 Prozent der ausländischen Arbeiter stammen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien – vor allem aus Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Nach dem Terroranschlag auf die Konzerthalle "Krokus City Hall" nahe Moskau im März 2024, bei dem 145 Menschen ums Leben kamen und der von tadschikischen Staatsbürgern verübt wurde, verschärfte Russland sein Migrationsrecht drastisch.
Fehlende Arbeitsmigration gefährdet ganze Branchen
So wurden in fast zwanzig Regionen des Landes Einschränkungen für die Beschäftigung von Ausländern eingeführt. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Die Zahl der Arbeitsmigranten aus Tadschikistan sank im ersten Halbjahr 2024 um 16 Prozent und lag bei etwa 392.000 Menschen. Branchen wie Logistik, Landwirtschaft, Lieferdienste, kommunale Dienstleistungen und der soziale Sektor, die stark auf migrantische Arbeitskräfte angewiesen sind, leiden besonders.
Damit befeuern die Gesetzgeber das vorhandene Problem aber noch, denn ohne Arbeitsmigration können einige Wirtschaftszweige in Russland schlicht nicht überleben. Besonders betroffen ist die Baubranche, in der 23 Prozent der Beschäftigten Migranten sind. Die stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für Bau und Wohnungswirtschaft, Swetlana Rasworotnewa, erklärte: "Der Personalmangel ist das Hauptproblem fast aller Branchen, insbesondere in der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, in der die Löhne niedriger sind als der regionale Durchschnitt und die Arbeit hart und unattraktiv ist."
Folge fehlender Arbeitskräfte: höhere Löhne
Mittlerweile macht sich der Mangel an Arbeitskräften buchstäblich überall bemerkbar und führte zu einem beispiellosen Anstieg der Gehälter. Fast 50 Prozent der russischen Unternehmen haben 2024 die Löhne erhöht, wie aus einer Untersuchung des Portals Rabota.ru hervorgeht. "Ich musste die Gehälter letztes Jahr um sage und schreibe 200 Prozent erhöhen – von umgerechnet etwa 500 auf 1500 Euro. In der Folge sind meine Gewinne zwar katastrophal gesunken, aber die Fachkräfte fehlen mir genauso wie vor der Erhöhung", beklagt ein Textilproduzent im Gespräch mit dem MDR, der mehrere Fabriken im der Moskauer Region betreibt.
Was Arbeitnehmer freut, stellt die private Wirtschaft aber vor eine kaum überwindbare Hürde: Sie kann mit den Vergütungen des militärisch-industriellen Komplexes (MIK), der eine übergeordnete Rolle in der russischen Wirtschaft einnimmt, nicht mithalten. Während das durchschnittliche Gehalt in Russland 2024 um 16 Prozent stieg, erhöhte sich der Arbeitslohn im MIK laut Minister für Industrie und Handel, Denis Manturow, in den Jahren 2023–2024 um bis zu 60 Prozent. Damit saugen die Militärbetriebe Arbeitskräfte aus anderen Branchen regelrecht ab.
Die historisch niedrige Arbeitslosigkeit ist also keineswegs eine ökonomische Stärke, sondern ein gefährlicher Schwachpunkt, der die wirtschaftliche Zukunft Russlands gefährdet. Der Krieg gegen die Ukraine trägt dazu bei, den Trend des Arbeitskräftemangels zu verstärken.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 18. Januar 2025 | 07:25 Uhr