Fangesänge Fußball-EM: Wie wird ein Song zur Stadion-Hymne?
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18. Juni 2024, 14:07 Uhr
Zur Fußball-EM in Deutschland singen Mark Forster, Provinz und Leony die offiziellen Hymnen. Dabei mausern sich gerade andere Songs zu den Hits der Fußballfans, wie "Diese EM 2024" der beiden Hamburger Taxifahrer Lovely und Monty, "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen" vom Balkonultra oder "Major Tom" von Peter Schilling. Aber wie wird ein Lied eigentlich zur Stadionhymne?
- Fußballhymnen dienen im Stadion dazu, die Fans zu synchronisieren, erklärt der Linguist Simon Meier-Vieracker von der TU Dresden.
- Vor allem bekannte Melodien, auf die sich gut neu texten lässt, sind laut dem Experten für Fangesänge geeignet.
- Der Linguist erklärt, wie das 80er-Lied "Major Tom" basisdemokratisch zur inoffiziellen Hymne der deutschen Fans bei der EM 2024 wurde.
MDR KULTUR: Warum alle auf einmal ein Lied besonders gerne mögen, weiß Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker. Er ist Linguist und lehrt an der TU Dresden, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Fußballfankultur. Darüber berichtet er auch auf TikTok als "Fußballlinguist", mit 103.000 Followern einer der erfolgreichste Wissenschaftskanäle auf TikTok. Herr Meier-Vieracker, wer bringt Songs ins Stadion? Und wer macht sie zu Hits?
Simon Meier-Vieracker: Man muss hier zwei Dinge unterscheiden: Es gibt einerseits die offiziellen Stadionhymnen, und das sind eben die Verbände oder die Vereine, die das festlegen. Wir haben gerade gehört Leony und Mark Forster. Das sind Entscheidungen, die am grünen Tisch gefällt werden.
Auf der anderen Seite gibt es die Hymnen, die die Fans mitbringen, und beides ist längst nicht immer deckungsgleich. Wir können geradezu feststellen, dass sich Fußballfankulturen hier sehr widerständig zeigen und sich häufig gegen die aufoktroyierten Hymnen auflehnen und ihre eigenen Songs etablieren.
Wozu gibt es eigentlich Stadiongesang? Was macht er mit den Menschen?
In erster Linie würde ich sagen, dass er die Fans synchronisiert. Wir müssen uns klarmachen, das sind mehrere 10.000 Menschen, alles Individuen, und die müssen sich irgendwie zu einem einheitlichen Kollektiv machen.
Das geht verlässlich dadurch, indem man seine Handlungen zeitlich synchronisiert. Wie sollte das besser gehen als mit Singen? Wo wir sowas haben wie Takt, Metrum, eine gewisse Geschwindigkeit. Wenn wir es schaffen wollen, dass wir alle zur gleichen Zeit das Gleiche tun, dann ist Musik immer eine gute Möglichkeit.
Wie wirkt das auf die Spielerinnen und Spieler, derartige Gesänge, die ja sehr unterschiedlich ausfallen können? Wir können auch noch einmal differenzieren: Es gibt Liebeslieder für die eigene Mannschaft, und es gibt wunderbare Schmähgesänge auf die gegnerische Mannschaft.
Fest beziffern kann man das, glaube ich, nicht. Man kann jetzt nicht sagen, wenn gesungen wird, oder wenn das und das gesungen wird, dann steigt die Leistungskurve um soundsoviel Prozent.
Aber Spielerinnen und Spieler berichten natürlich schon immer, dass der Support, der von den Rängen kommt – und da sind Gesänge eben das, was noch am deutlichsten hörbar ist – dass ihnen das schon Auftrieb gibt und dass es ihnen hilft, die Leistung auf den Platz zu bringen.
Aber ich glaube, mindestens genauso wichtig wie für die Mannschaft, ist es einfach für das Selbsterleben des Stadionpublikums. Die Ekstase ist eben auch wichtig, damit Menschen ins Stadion gehen, und nicht nur das, was auf dem Platz passiert. Also Fans beobachten immer auch sich selbst und sie hören sich auch selbst zu. Ich glaube, hier ist die Hauptfunktion von Fangesängen zu suchen.
Was braucht ein Song, um ein Stadionhit zu werden?
Wenn wir in der Vergangenheit zurück gucken, welche Songs sich etabliert haben in Deutschland oder auch weltweit, da gibt es ja so ein paar All-Time-Classics: "Yellow Submarine" oder "It's a Heartache". Letzteres ist ja gerade wieder aktuell mit dem Balkonultra-Song "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen" wieder sehr populär geworden.
Das sind popkulturelle Allgemeingüter, teilweise Jahrzehnte alt, die vielfach angepasst werden können. Dafür braucht es Melodien, die recht eingängig sind, die bekannt sind und die aber auch eine Ton-Verteilung haben, wo sich gut neue Texte draufschreiben lassen. Das ist nicht mit jedem Song der Fall, aber eben bei "It's a Heartache", das passt einfach sehr gut, auch speziell zur deutschen Sprache.
Wir können auch nochmal ein konkretes Beispiel nehmen. In diesem Jahr ist Peter Schillings "Major Tom" (1982) die neue deutsche Torhymne und erfreut sich großer Beliebtheit. Wie hat dieser Song den Weg ins Stadion gefunden?
Es gab eine Petition. Ich glaube, das war ein Radiomoderator, der mal die Idee aufgebracht hat. Dann gab es auf jeden Fall eine Petition eines einzelnen Fans, und die hat innerhalb kürzester Zeit 70.000 Unterschriften bekommen. Und dann ist es über Social Media viral gegangen, diese Idee. Und dann hat der DFB einmal den Fans den Wunsch erfüllt und hat das als offizielle Torhymne gespielt.
Das ist tatsächlich eine fankulturelle Errungenschaft gewesen, wirklich von unten, basisdemokratisch gewissermaßen. Jetzt haben wir beobachtet, dass nach den Spielen, also lange nach Abpfiff, dann auch der Stadion-DJ das nochmal eingespielt hat. Das hat dazu geführt, dass in der Allianz-Arena 70.000 Menschen einfach gleichzeitig "völlig losgelöst" gegrölt haben, und das ist natürlich ein großartiges Erlebnis für alle.
Das Interview führte Thomas Bille für MDR KULTUR.
Quellen: MDR KULTUR (Thomas Bille)
Redaktionelle Bearbeitung: hro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. Juni 2024 | 08:10 Uhr