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Chronisches Erschöpfungs-Syndrom ME/CFS – der harte Kampf um Hilfe und Anerkennung
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22. Februar 2025, 11:04 Uhr
Eine Diagnose für ME/CFS, das chronische Fatigue-Syndrom, zu erhalten, ist immer noch sehr schwer. Für Betroffene ist es oft ein harter Kampf um Anerkennung der Krankheit und um Hilfe. Auch wenn die Forschung zur Behandlung seit Corona in Schwung gekommen ist, müssen viele Erkrankte noch immer auf Medikamente warten.
- Das Fatigue-Syndrom hat das Leben der 53-jährigen Dresdnerin Ulrike G. komplett verändert.
- In Deutschland leiden rund 700.000 Menschen an ME/CFS und einer schweren Belastungsintoleranz.
- ME/CFS und Long Covid sind nicht gleichzusetzen – ME/CFS kann als Folge von Long Covid auftreten.
- Viele ME/CFS-Betroffene berichten von einer Stigmatisierung.
- Erste Erfolge in der Behandlung gibt es durch ein Blutwäsche-Verfahren – die Entwicklung von Medikamenten verzögert sich.
Lächelnd überwindet sie Stufe um Stufe, den alten Alu-Campingstuhl mit dem bunten Stoffbezug aus DDR-Zeiten unterm Arm. Ihr Ziel: Es hinauf in ihre Wohnung im dritten Stock zu schaffen. Dafür muss die 53-jährige Dresdnerin Ulrike G. auf den Treppenabsätzen Pause machen und sich setzen. Und: Lächeln.
Der selbst verordnete Optimismus angesichts ihrer Krankheit sei einer der Wege, ihrem Kopf aus der Endlosschleife herauszuhelfen. Denn es sei wie ein Loop, sagt Ulrike G., bei dem ihr Verstand sie lähme und in Panik versetze, sobald sich die körperliche Schwäche zeige. Dann sorge das Hirn dafür, dass ihre Muskeln in Streik träten und Schmerzen verursachten und so jede Aktivität verhinderten – immer wieder aufs Neue, seit vielen Monaten.
Den Weg hinaus in die frische Luft, hinunter ans Elbufer, ist sie früher in drei Minuten gegangen – heute braucht sie mehr als doppelt so lange und hat nur zwei bis drei Mal in der Woche die Kraft dafür. Noch vor kurzem war sie Joggerin und ist sportlich Rad gefahren. Doch seit sie im November 2022 eine Grippe hatte, ist Ulrike G. nicht wieder auf die Beine gekommen.
Diagnose erst nach langer Odyssee
Die Diagnose "Chronisches Fatigue-Syndrom ME/CFS" hat sie sich nach einer langen Odyssee zu Medizinern verschiedener Fachbereiche schließlich mit Hilfe des Internets selbst gestellt. Ihre Hausärztin und ihre Psychologin haben sie ihr schließlich bestätigt.
"Vorher habe ich es mit Sport versucht, weil alle eben gesagt haben, Training wäre wichtig, um wieder auf die Beine zu kommen", erzählt Ulrike G. "Das war aber im Nachhinein betrachtet falsch, weil ich mich damit immer mehr belastet habe."
Wunsch nach Gesundheit und Kraft
Auf der Arbeit musste sie jeden Tag Mittagsruhe machen: "Ich konnte in einen Raum mit Couch gehen und habe auch jeden Tag durchgehalten. Aber zunehmend war ich immer mehr kaputt und bin, sobald ich nach Hause gekommen bin, sofort ins Bett gegangen." Am Ende habe sie nur noch gearbeitet und konnte sonst gar nichts mehr machen.
Seit April 2024 ist Ulrike G., eine engagierte Kunsthistorikerin im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, schon krankgeschrieben – und will nichts sehnlicher, als wieder gesund zu werden und zur Arbeit gehen zu können.
Schwere Belastungsintoleranz durch ME/CFS
Ähnlich wie ihr geht es deutschlandweit knapp 700.000 Menschen. Die Diagnose ME/CFS zu erhalten ist äußerst schwierig, weil die Krankheit nicht durch einfache Bluttests oder eindeutige Merkmale leicht nachweisbar ist. Zudem gibt es kaum ärztliche Hilfe, weil es noch zu wenig geforscht wird.
Als besonders belastend empfinden Betroffene die ständige Stigmatisierung durch viele Mitmenschen: Sie werden oft abwertend als "Psychofälle" belächelt und als träge und leistungsunwillig wahrgenommen, wenn sie beispielsweise nach mehreren Wochen Krankschreibung noch immer nicht zur Arbeit zurückkehren können.
Immerhin: In Deutschland ist die Forschung zur Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom seit Corona etwas in Schwung gekommen. "Fatigue" kommt aus dem Französischen und bedeutet "müde". Doch das allein beschreibt es nur unzureichend.
Von der Weltgesundheitsorganisation WHO ist ME/CFS schon seit 1969 als Krankheit anerkannt worden, die durch verschiedene Viren ausgelöst wird. Die Covid-Pandemie hat die Zahl der Fälle und damit das Bewusstsein für postvirale Erschöpfungssyndrome gestärkt. Doch adäquate Behandlung oder gar Medikamente gibt es seither noch immer lediglich zur Linderung der Symptome.
Hauptsymptom von ME/CFS ist die schwere Belastungsintoleranz. Das heißt, dass oft alltägliche Dinge schon dazu führen, dass es einem deutlich schlechter geht.
Symptome sind Schmerzen, Konzentrationsstörungen und Kreislaufprobleme
Professor Carmen Scheibenbogen ist Leiterin der Immundefekt-Ambulanz am Institut für Medizinische Immunologie der Charité. Sie gilt als die Autorität für ME/CFS-Forschung in Deutschland. Sie erklärt die Krankheit so: "Hauptsymptom von ME/CFS ist die schwere Belastungsintoleranz. Das heißt, dass oft alltägliche Dinge schon dazu führen, dass es einem deutlich schlechter geht."
Außerdem sei ME/CFS eine relativ schwere, komplexe chronische Erkrankung, die viele Symptome habe, erklärt die Medizinerin: "Fast immer auch schwere Schmerzen, Konzentrationsstörungen, häufig Kreislaufprobleme. Jemanden wieder fit machen, was oft der Reha-Ansatz ist, funktioniert bei ME/CFS nicht und führt auch manchmal dazu, dass es dem Patienten sogar deutlich schlechter geht."
Unterschiede zwischen ME/CFS und Long Covid
ME/CFS gilt in der Medizin als eine der möglichen Folgen von Long Covid. Durch die Corona-Pandemie sind die Zahlen von Patientinnen und Patienten mit Erschöpfungssyndromen in die Höhe geschnellt und haben dazu geführt, dass Forschungsanstrengungen verstärkt wurden. Nicht nur die Berliner Charité und die Uniklinik Jena, auch eine große Studie der Uniklinik Dresden und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum für digitale Gesundheit versuchen, Ursachen von Long Covid zu finden.
Die Dresdner Teamleiterin Magdalena Wekenborg betont, dass Long Covid und ME/CFS nicht gleichzusetzen seien. Ähnlich seien zwar die jeweils auftretenden Störungen im autonomen, vegetativen Nervensystem. Dennoch sei ME/CFS eine andere Diagnose und ein anderes Forschungsgebiet. "Und es ist aktuell untererforscht", sagt Magdalena Wekenborg.
Kampf um Behandlung heißt Demonstrieren im Liegen
"Es war wohl das einzig Gute an Corona", sagt die Berlinerin Grit Buggenhagen, "dass wir ME/CFS-Patienten dadurch mit in den Blickpunkt der Forschung gelangt sind." Sie ist Leiterin der Initiative "Liegend-Demo". Dazu versammelt die 56-Jährige in vielen deutschen Großstädten ME/CFS-Erkrankte, die sich auf Straßen und Plätzen niederlegen, um auf ihre Krankheit aufmerksam zu machen und sich für Forschung und Medikamentenentwicklung einzusetzen. Die nächsten Aktionen sind für den 10. Mai geplant, unter anderem in Dresden, Halle, Jena und Berlin.
"Unsere Forderung ist eine Aufklärungskampagne des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Es geht schließlich bei ME/CFS um eine ernsthafte Krankheit, unter der hunderttausende Menschen leiden. Diese Krankheit gehört jetzt in den Fokus! Wir brauchen dafür Forschung, Anerkennung und vor allen Dingen Patienten-Versorgung", fordert Buggenhagen.
Stigmatisierung der Krankheit
Grit Buggenhagen, die selbst schwer an ME/CFS erkrankt ist, liegt aber auch etwas anderes am Herzen. Sie nennt es die "chronische Stigmatisierung". Die gängige Bezeichnung "Fatigue-Syndrom" sei eine Verharmlosung, die viele Betroffene in soziale Isolation führe.
Davon berichtet auch Kathrin F. aus Dresden. Als sie 2020 an Covid erkrankte, musste sie mit damals 54 Jahren ihre Arbeit in einer Bioinitiative aufgeben. Die bei manchen Medizinerinnen und Medizinern anzutreffende Ansicht, ME/CFS sei eine psychosomatische Störung, führe auch bei Ämtern und Behörden und bei vielen Mitmenschen zu der Annahme, die Betroffenen seien weitgehend unwillig und unfähig, sich helfen zu lassen.
"Ich würde mich auch gern mal hinlegen und ausruhen" – diesen Gedanken könne sie vielen förmlich vom Gesicht ablesen, sagt Kathrin F. und fügt hinzu: "Das führt bei vielen ME/CFS-Erkrankten zu totaler sozialer Isolation." Es sei schon schwierig genug, wenn man weder einen Pflegegrad noch finanzielle Unterstützung erhalte.
Dazu komme oft mangelndes Verständnis im sozialen Umfeld über die Auswirkungen der Krankheit. "Wer mit mir eine Ausstellung besuchen will, muss erleben, wie ich mich von Sitzgelegenheit zu Sitzgelegenheit schleiche", sagt sie. Die Forderung der Initiative "Liegend-Demo" nach Aufklärung der Gesellschaft über die Krankheit spricht nicht nur ihr deshalb aus dem Herzen.
Behandlung durch Blutwäsche
Ein Wunsch, den sie mit Susanne K. aus Erfurt teilt. Susanne K. ist vor ihrer Corona-Erkrankung 2021 Büroangestellte in der IT-Branche gewesen. Heute kann die 54-Jährige höchstens noch eine halbe Stunde täglich vor dem Computer sitzen. Danach hat ihr Organismus sämtliche Energiereserven für den Tag aufgebraucht. Auch sie leidet an ME/CFS.
Und auch bei ihr konnten bisher nur Symptome behandelt werden: Schlafmittel, Cholesterin-Senker und andere Medikamente verschaffen allerdings nur wenig Linderung. Deshalb hat Susanne K. die sogenannte Apherese ausprobiert – mit einigem Erfolg. Apherese ist ein Blutwäsche-Verfahren. Dabei werden schädliche Stoffe gezielt aus dem Blut entfernt.
Allerdings: Für die Behandlung muss Susanne K. selbst zahlen: Rund 1.000 Euro kostet die Prozedur. Ein knappes halbes Jahr lang halte der Effekt an, sagt Susanne K. "Es ist wie fünf Wochen Karibikurlaub", sagt sie. "Ich genieße es total, denn danach kann ich wieder vieles! Die Mikrozirkulation im Körper wird besser, der Kopf wird wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Ich kann auch wieder rechnen, ich kann wieder Mittagessen kochen, mein Schlenkerbein, diese Bewegungsstörung beim Laufen, ist danach weg und ich habe meinen alten Gang wieder." Es sei wie früher – bevor sie ME/CFS bekommen habe.
Medikamente lassen auf sich warten
Professor Carmen Scheibenbogen kennt diesen Effekt aus einer Studie, die mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Allerdings verzögerten die bürokratischen Beantragungsverfahren für weitere Studien und vor allem für die Entwicklung von Medikamenten in Deutschland und in der EU, Fortschritte im Sinne der Patientinnen und Patienten erheblich.
"Aktuell haben wir beim Bundesforschungsministerium erneut Geld für eine Verlängerung der Förderung der Nationalen Klinischen Studiengruppe 'NKSG' für weitere klinische Studien beantragt", sagt Professor Scheibenbogen. "Wir konnten schon zeigen, dass es Patienten schnell besser geht, wenn man Antikörper auswäscht durch die sogenannte Immunabsorption."
Als nächstes wollten sie Studien mit Medikamenten durchführen, die die Autoantikörper-produzierenden B-Zellen angriffen. "Den Antrag haben wir vergangenen Sommer gestellt und er ist noch in der Begutachtung. Wir hätten heute schon Medikamente für ME/CFS, wenn man das von Anbeginn der Pandemie mit der nötigen Energie vorangetrieben hätte. Unsere Hoffnung ist groß, aber es dauert einfach viel zu lang. Wir brauchen diese Medikamente, damit wir den Menschen endlich auch richtig helfen können."
Ulrike G. hofft auf Behandlungsmöglichkeiten
Bis es soweit ist, versucht es die Dresdnerin Ulrike G. voller Entschlossenheit allein. Ob unterwegs mit ihrem Campingstuhl oder bei den täglichen Übungen mit einem Selbsthilfeprogramm des britisch-indischen Gesundheitsunternehmers Ashok Gupta. Sein Genesungsansatz basiert auf den eigenen Erfahrungen als ME/CFS-Patient, der die Krankheit mit einem ganzheitlichen Ansatz überwinden konnte.
Ich habe große Sehnsucht nach dem Radfahren und Joggen, wie ich das früher konnte.
Die Live-Sitzungen im Internet und die Übungsanleitungen kosteten sie zwar 350 Euro jährlich, seien aber für sie eine große Unterstützung. Die Übungsdauer sei so bemessen, dass sie ausreichend Energie aufbringen könne, ohne körperlich überfordert zu werden. Sie gehe "jedes Mal mit Sorgen da rein aber mit Freude heraus", sagt Ulrike G. – denn das Programm helfe ihr, die Zuversicht und Hoffnung auf Heilung aufzubringen.
Ulrike G. hat große Sehnsucht nach dem Radfahren und dem Joggen – so wie sie es früher konnte, sagt sie. "Darauf freue ich mich jetzt schon im Voraus. Und: Eine meiner Töchter ist bis Juni in Paris zu einem Auslandssemester. Ich traue mich kaum, mir zu wünschen, sie da besuchen zu können. Im Moment würde ich so eine Reise nicht durchstehen."
Binnen eines Jahres konnte sie nur fünf kleine Ausflüge machen: "Mit der Straßenbahn in die Dresdner Innenstadt und in mein Heimatdorf Wurgwitz. Das sind zwanzig Minuten Autofahrt von Dresden. Mehr schaffe ich einfach noch nicht." Sie sagt es mit einem Lächeln, klemmt sich den bunten Alu-Hocker unter den Arm und nimmt die letzten Stufen hinauf zu ihrer Wohnung in Angriff.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 22. Februar 2025 | 19:30 Uhr