Tung Vietnamesisches Leben in Deutschland
Vu Ngoc Thanh Tung in seinem Zimmer im Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Magdeburg. Bildrechte: privat

Vietnamesen in Mitteldeutschland Drei Generationen, drei Gesichter

13. Oktober 2024, 05:00 Uhr

Rund 215.000 vietnamesische Zuwanderer und ihre Kinder leben heute in Deutschland*, stehen aber nur selten im Blick der Öffentlichkeit. Dies sind drei Geschichten aus drei verschiedenen Generationen.

Als vietnamesischer Gastarbeiter im VEB Oberbekleidung Magdeburg: Vu Ngoc Thanh Tung (66)

Vu Ngoc Thanh Tung gehört zur Generation Vietnamesen, die in den 1980er-Jahren als Vertragsarbeiter in die DDR gingen. Sie begründeten die erste Generation vietnamesischer Einwanderer in Ostdeutschland. Als 29-Jähriger kam Vu Ngoc Thanh Tung 1987 von Hanoi in die DDR, um im VEB Oberbekleidung Magdeburg einen Job als Hilfsarbeiter anzufangen. Als sogenannter Einrichter musste er einzelne Materialteile vorbereiten, bevor diese im weiteren Produktionsprozess zusammengenäht wurden. Dafür gab es 700 bis 800 Mark im Monat.

"Ich bin eigentlich Maschinenbauingenieur. Mein Berufsleben habe ich in Hanoi begonnen. Aber ich habe keine Perspektive gefunden, die meinen Erwartungen entsprach", erzählt Vu Ngoc Thanh Tung. Vietnam zählte damals zu den zehn ärmsten Ländern der Welt.  Weil der Ingenieur wusste, dass es zwischen Vietnam und sozialistischen Bruderländern wie die Sowjetunion, Ungarn oder der DDR entsprechende Vertragsabkommen gab, bewarb er sich als Vertragsarbeiter.

Zusammen mit den 220 vietnamesischen Vertragsarbeitern des Magdeburger Textilbetriebs, von denen gerade einmal 28 Männer waren, wohnte er in einem separaten Wohnblock eines Plattenbaugebiets. Der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung war unerwünscht, eine Integration der vietnamesischen Gastarbeiter offiziell nicht vorgesehen: "Ich habe zusammen mit neun Leuten in einer Wohnung gelebt. In einem Zimmer haben immer mehrere Menschen geschlafen. Eigentlich hatte jeder nur ein Bett im Zimmer. Wir haben uns alle eine Küche und ein Bad geteilt". Auch wenn Privatsphäre im Wohnheim rar war, lernte Vu Ngoc Thanh Tung dort seine heutige Frau Hà kennen.

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Vu Ngoc Thanh Tung mit seiner heutigen Frau Hà im Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Magdeburg. Bildrechte: privat

Nach der Wende stehen die Vertragsarbeiter vor einer ungewissen Zukunft

Bald nach dem Mauerfall 1989 war auch der VEB, in dem von Vu Ngoc Thanh Tung und seine Frau Hà arbeiteten, Geschichte. "Unser Bekleidungswerk ist sofort nach der Wende pleitegegangen, weil wir Waren für den Export nach Russland hergestellt haben. Wir waren dann alle schnell arbeitslos", erinnert sich der ehemalige Vertragsarbeiter.

Ohnehin sollten alle noch gültigen Arbeitsverträge auslaufen. Die Vietnamesen in der DDR standen nun vor der Wahl: zurück in die Heimat –inklusive 3.000 DM Rückreiseprämie – oder Arbeitssuche unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen. 190 der ehemals 220 Kolleginnen und Kollegen traten die Heimreise an. Insgesamt nur rund 17.000 der einst 70.000 vietnamesischen DDR-Vertragsarbeiter blieben. Auch Vu Ngoc Thanh Tung und seine Frau Hà hatten beschlossen, ihr Glück im vereinigten Deutschland zu versuchen. Das hieß damals: regelmäßiges Warten in der Ausländerbehörde, um immer wieder eine neue, aber nur kurzfristige Duldung zu bekommen. Eine denkbar schlechte Voraussetzung für einen Arbeitsvertrag. Aber nicht nur deshalb waren sie für Arbeitgeber unattraktiv.

"Ich wollte zum Beispiel als Fahrer bei den Magdeburger Verkehrsbetrieben anfangen. Aber der Abteilungsleiter hatte Angst, dass ich nachts im Dienst von Skinheads angegriffen werde und sagte, das geht nicht", berichtet Vu Ngoc Thanh Tung.

Tung Vietnamesisches Leben in Deutschland
Erinnerungen: Vu Ngoc Thanh Tungs Frau Hà posiert vor einem Trabant vorm Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Magdeburg. Bildrechte: privat

Selbständigkeit als Händler als einzige Chance, wirtschaftlich zu überleben

Nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft sahen viele Vietnamesen ihre einzige Chance darin, sich selbständig zu machen. So schlugen sich der frühere Vertragsarbeiter und seine Frau wie viele ihrer Landsleute als Händler auf Märkten durch, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Später besaß das Ehepaar eigene Läden – wie zum Beispiel ein Geschäft für Kunstblumen. Ab 1993 gewährten die deutschen Behörden ihnen dann einen dauerhaften Aufenthalt. Heute führen beide noch einen kleinen Lotto-und-Tabak-Shop im Zentrum Magdeburgs. Vu Ngoc Thanh Tungs Frau Hà ist schon seit drei Jahren Rentnerin, er steht kurz davor. Auch wenn beide Zeit ihres Lebens gearbeitet haben, wird ihnen nur wenig Rente bleiben. Doch davon wollen sie sich ihre positive Lebenseinstellung nicht verderben lassen und, solange es geht, im Laden weiterarbeiten.

Besonders stolz ist Vu Ngoc Thanh Tung auf seine Tochter und seinen Sohn, die jeweils einen Hochschulabschluss und einen einträglichen Job haben – allerdings nicht in Magdeburg. Wie viele ehemalige Vertragsarbeiter ist er heute glücklich, seinen Kindern ein besseres Leben ermöglicht zu haben.

Vietnam-Schwerpunkt
Seit 37 Jahren nun in Deutschland: Vu Ngoc Thanh Tung und Frau Hà. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Vietnamesinnen und Vietnamesen der zweiten Generation: Ngoc Anh Nguyen (32), Berufsmusikerin

Ngoc Anh Nguyen wurde als Tochter ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter im sächsischen Boxberg in der Oberlausitz groß – einem Ort mit damals rund 1.000 Einwohnern. Die 32-Jährige zählt zur zweiten Generation der vietnamesisch-stämmigen Bevölkerung in Deutschland, also zur Generation der Kinder derjenigen, die in den 1980er-Jahren in die BRD oder DDR gekommen waren.

"Meine Eltern sind 1987 in die DDR gegangen und haben jeweils in Cottbus und in Bautzen gearbeitet – meine Mama als Näherin, mein Vater in einer Fabrik, wo sie Lkw hergestellt haben. Meine Mutter war erst 18, hatte also gerade erst frisch die Schule abgeschlossen. Mein Vater ist vier Jahre älter", erzählt Ngoc Anh Nguyen. Die Eltern verdienten das Geld für die Familie mit einem Imbiss-Stand oder verkauften Essen auf Dorffesten. Ihre frühe Kindheit erinnert die Tochter als glückliche Zeit. Besonders denkt sie dabei an ihre "deutsche Oma", eine ältere Dame, die eigentlich eine Kundin der Eltern war, sich aber oft und gern um das Kind kümmerte.

Kind
Ngoc Anh Nguyen als 6-jähriges Mädchen bei einem Besuch bei den Verwandten in Vietnam. Bildrechte: Ngoc Anh Nguyen

In der Schulzeit wird Anders-Sein zur Zerreißprobe

Als Ngoc Anh Nguyen in die Schule kam, wird ihr Anders-Sein zur seelischen Belastung. Denn als Kind pendelte sie zwischen den kulturellen Welten. In den eigenen vier Wänden wurde von den Eltern ausschließlich Vietnamesisch gesprochen und ein anderes Wertesystem gelebt. In der Schule werden dagegen Individualität und eine eigene Meinung gefördert – insbesondere, nachdem das Mädchen später aufs Gymnasium in Weißwasser wechselte. Mit den Eltern gab es deshalb regelmäßig Streit.

"In der vietnamesischen Kultur wird gesagt, du musst sehr gehörig sein, darfst den Eltern nicht widersprechen. Das, was Papa sagt, das ist wahr. Und ich war immer ein böses Kind, weil ich widersprochen habe", sagt Ngoc Anh Nguyen. "Das hat schon dazu geführt, dass ich, als Jugendliche besonders, manchmal das Gefühl hatte, dass ich eigentlich zwei Persönlichkeiten hatte: die Person, die in der Welt gut gelaunt ist, viele Freundschaften pflegt, selbstbewusst ist und glücklich. Und sobald ich nach Hause komme, war ich ganz anders."

"Ich wollte einfach nur so deutsch wie möglich sein"

Da Ngoc Anh Nguyen mittlerweile ihren Lebensmittelpunkt in Berlin gefunden hat, kann sie in der großen vietnamesischen Community dort ihre deutsche und vietnamesische Seite gut kombinieren und ausleben. Dass sie heute selbstbewusst zu ihrer Migrationsgeschichte stehen kann, musste sie sich allerdings erst erarbeiten. Als Pubertierende wollte sie einfach so deutsch sein wie alle anderen um sie herum und weigerte sich, mit ihren Eltern Vietnamesisch zu sprechen.

 "Auf dem Gymnasium war ich immer lange Zeit die einzige Ausländerin und hab Alltagsrassismus erlebt, also bin beschimpft worden und so weiter. Und anstatt, dass ich mir dann denke, das ist unfair, habe ich mir einfach gedacht, ja, stimmt, es ist ja auch scheiße, dass ich Ausländerin bin und wie peinlich, dass meine Eltern nicht deutsch sind", sagt Ngoc Anh Nguyen, die sich heute am liebsten als Vietdeutsche bezeichnet.

Nachrichten

zwei junge Frauen sitzen in einem Restaurant am Tisch 30 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im Studium packte sie die Sehnsucht nach Vietnam

Direkt nach dem Abitur fing Ngoc Anh Nguyen an, Kultur- und Medienpädagogik zu studieren, merkte aber schon im ersten Semester, dass sie das nirgendwohin führte. Sie beneidete ihre Kommilitonen um deren Auslandserfahrungen und bereute zunehmend das schlechte Verhältnis, das sie mit ihrer Familie hatte und dass sie ihre eigene Muttersprache nicht sprechen konnte. Sie brach das Studium ab und beschloss, 2012 im Rahmen eines Freiwilligendienstes nach Vietnam zu gehen. Dort durchlebte sie dann einen totalen Gesinnungswandel. "Ich kam von 'Ich will so Deutsch wie möglich sein' zu 'Ich will so Vietnamesisch wie möglich sein', weil ich gefühlt 19 Jahre meines Lebens das so von mir weggeschoben habe, dass ich das jetzt wettmachen wollte. Ich wollte alles lernen".

Ngoc Anh Nguyen setzte auf das volle Kontrastprogramm. Sie probierte sich bereitwillig in der Rolle der fügsamen vietnamesischen Hausfrau: "Ich habe auch die ganze Zeit abgewaschen und so etwas, was vietnamesische Frauen immer machen, und wollte wirklich so sein wie eine vietnamesische Frau". Später stellte die junge Frau allerdings fest, dass sie diesen Anspruch nicht erfüllen kann und auch nicht erfüllen wollte.

Ngoc Anh Nguyen lernte während ihres Freiwilligendienstes in Vietnam, immer besser die Sprache ihrer Eltern zu sprechen. Noch während der Zeit dort begann sie, mit ihnen auf Vietnamesisch zu kommunizieren. Das veränderte die gestörte Beziehung fundamental. "Weil in der vietnamesischen Sprache die Art und Weise miteinander zu reden, ist viel vertrauter. Und es war ein großer Schritt für mich zu wechseln in ihre Sprache und es war auch erst mal komisch, weil ich dann quasi meine Eltern anders kennenlernte", versucht Ngoc Anh Nguyen ihre Erfahrung zu beschreiben.

Kind
Ngoc Anh Nguyen als Baby in der elterlichen Wohnung im sächsischen Boxberg. Bildrechte: Ngoc Anh Nguyen

Studium hilft bei der Aufarbeitung seelischer Verletzungen

Es war ein langer Prozess für Ngoc Anh Nguyen, sich mit ihren seelischen Verletzungen auseinandersetzen. Ihr Studium der Sozialen Arbeit in Berlin half ihr dabei. Mit ihren Eltern und ihrer Vergangenheit hat sie sich mittlerweile ausgesöhnt, schöpft sogar Kraft daraus.

Nach ihrem Studium arbeitete Ngoc Anh Nguyen als Familienhelferin mit vietnamesischen Familien. In ihrem Beruf holte ihre eigene Vergangenheit sie allerdings immer wieder ein: "Es ist tatsächlich so, dass ich in Familien gekommen bin, wo ich dann plötzlich wieder in so einem Neubaublock war, wo es sehr eng war und ich dann plötzlich dachte, genau so bin ich auch aufgewachsen. Und jetzt stecke ich da irgendwie wieder drin und sehe Kinder vor mir, die das noch mindestens zehn Jahre vor sich haben. Und das hat mir wehgetan."

eine Frau auf der Bühne
Ngoc Anh Nguyen auf der Bühne bei einem ihrer Konzerte. Bildrechte: Frederik Ferschke

Neues Leben als Berufsmusikerin

Neben ihrer Arbeit studierte Ngoc Anh Nguyen Musik. Irgendwann hängte sie ihren Familienhelferinnern-Job an den Nagel und wurde professionelle Musikerin. 2018 brachte sie ihr erstes Mini-Album heraus. Diesen Sommer performte sie auf der Berliner EM-Fanmeile – zum Beispiel ihren Song "Motherland". Er behandelt die seelische Zerrissenheit in einem Leben zwischen zwei Kulturen. In ihrem Song sucht die Sängerin nach einer Versöhnung mit sich selbst und ihren migrantischen Wurzeln.

Auch zu ihrer alten Heimat in Sachsen hat Ngoc Anh Nguyen inzwischen ein entspannteres Verhältnis. In Weißwasser wird sie sogar hin und wieder für Konzerte gebucht. Nachdenklich macht Ngoc Anh Nguyen jedoch der Rechtsruck in der Gesellschaft, insbesondere in Sachsen. Deshalb überlegt die Sängerin, wie sie in Zukunft ihre Stimme und den Vorteil, dass Menschen ihr gern zuhören, nutzen kann, um der aktuellen politischen Entwicklung etwas entgegenzusetzen.              

                        

eine Frau mit einem Kind auf dem Schoß
Ngoc Anh Nguyen als Baby mit ihrer „deutschen Omi“ , die sich bis zum 10. Lebensjahr regelmäßig um das Kind kümmerte. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Vietnamesische Azubis gegen den Fachkräftemangel: Mai Le Thi Vu (23) und Hieu Van Vu (21) lernen in der Bäckerei

Wenn Mai Le Thi Vu morgens 06:30 Uhr hinter die Verkaufstheke der Bäckerei Pfützner im Erzgebirgischen Schmiedeberg tritt, begrüßt sie ihren Chef Konrad Pfützner mit einem zünftigen "Moin, Moin!". So bringt die junge Vietnamesin den Chef schon morgens zum Lachen. Allerdings kommen noch nicht alle deutschen Worte so flüssig. Die 23-Jährige ist erst seit gut einem Monat in Sachsen, um hier Bäckereifachverkäuferin zu werden. Sie habe eine Ausbildung in Deutschland gesucht, weil diese hier qualitativ besser und fester reguliert sei, sagt die junge Frau. "Ich mag Europa sehr gern und Deutschland ist eines der führenden Länder in Europa. Deshalb war es einfach, für mich Deutschland auszuwählen", erzählt die junge Frau.

Zwei vietnamesische Frauen vor einer mit Schirmen verzierten Wand
Mai Le Thi Vu mit einer Verwandten in ihrer Heimatland Vietnam, bevor sie nach Deutschland kam. Bildrechte: privat

Auch ihr Landsmann, der 21-jährige Hieu Van Vu, hat sich für eine Ausbildung im Betrieb der Pfützners entschieden – allerdings als Bäcker. Beide Azubis haben in Vietnam bisher ohne Ausbildung in verschiedenen Jobs gearbeitet: Hieu Van Vu in Lebensmittelgeschäften oder in Restaurants, Mai Le Thi Vu in Fabriken von Adidas oder Nike.

Deutsche Sprache als größte Hürde

Die deutsche Sprache ist für beide zweifellos ein harter Brocken. Deswegen läuft in der Kommunikation momentan noch viel über eine Übersetzer-App. „Am Anfang war Deutsch schwierig. Nach dem ersten Lernmodul fand ich die Sprache noch seltsam. Aber je mehr ich gelernt habe, desto mehr fand ich Deutsch auch interessant“, sagt Mai Le Thi Vu.

Um einen Ausbildungsplatz in Deutschland zu erhalten, müssen angehende Azubis in Vietnam Deutschunterricht nehmen, den sie mit einem Sprachtest abschließen müssen. Die Kosten dafür trugen die angehende Verkäuferin und ihr Azubi-Kollege selbst.

Meister und Lehrling in der Backstube
Hieu Van Vu mit seinem Chef Konrad Pfützner bei der Arbeit. Bildrechte: MDR/Umschau

 "Ich habe allein 50 Millionen vietnamesische Dong bezahlt, um vom Sprachniveau A1 auf B1 zu kommen“, berichtet Hieu Van Vu. Das sind umgerechnet rund 2.000 Euro– für durchschnittliche vietnamesische Einkommensverhältnisse nicht wenig Geld. Für die Jobsuche Deutschland habe er jedoch nichts bezahlen müssen.

Das ist allerdings nicht der Normalfall. Für vietnamesische Vermittlungsagenturen ist die Vermittlung von Azubis ins Ausland ein lukratives Geschäft. Interessenten zahlen oft viele Tausend Euros für einen solchen Service.

Deutsche Brotkultur weckte Interesse der Bäckerei-Azubis

Nicht nur die deutsche Sprache, auch das deutsche Essen ist für viele Vietnamesen, die als Auszubildende oder gelernte Fachkräfte nach Deutschland kommen, eine Herausforderung. Allein über 3.000 unterschiedliche Brotspezialitäten sollen laut Deutschem Brotinstitut existieren. Deutsche Brotkultur und vietnamesische Essgewohnheiten – wie passt das eigentlich zusammen?

"Ich kenne aus Vietnam nur eine Brotsorte, aber hier gibt es so viele hunderte", sagt Mai Le Thi Vu. Gemeint ist der vietnamesische Begriff für Brot "Bánh mì", der im Alltag eine Art belegtes Baguette bezeichnet. Eingeführt wurde es während der französischen Kolonialzeit in Indochina. Die Auszubildende habe sich gefragt, warum es Deutsche schaffen, mehrere Hundert Brotsorten zu machen und Vietnamesen nicht. Das habe sie rausfinden wollen.

"Brot ist nicht gerade die Lieblingsspeise von Vietnamesen", erklärt Hieu Van Vu, der nach seiner Gesellenausbildung auch Bäckermeister werden will. "Deswegen wollte ich nach Deutschland, um das Bäckerhandwerk zu lernen. Später werde ich irgendwann nach Vietnam zurückkehren und eine Bäckerei aufmachen. Und ich bin überzeugt, dass viele diesen Laden mögen werden."

Verkäuferin und Azubi im Verkaufsraum
Mai Le Thi Vu (23) und Hieu Van Vu (21) lernen nicht nur viele Brotsorten neu kennen, sondern auch die deutsche Kuchentradition. Bildrechte: MDR/Umschau

Vietnamesische Bäckerei-Azubis sehen ihre Zukunft in Deutschland

3.500 bis 4.500 Euro kostet die Vermittlung eines Azubis bei der Agentur, mit der die Bäckerei Pfützner zusammenarbeitet. Wie sicher ist es jedoch, dass die Azubis nach ihrer Ausbildung auch in Deutschland bleiben wollen? Hieu Van Vu hat da schon ziemlich genaue Vorstellungen: "Ich möchte hier leben, auch lange leben, weil ich hier Freunde habe, mich wohl fühle und hier was erleben möchte. Aber ich kann mir vorstellen, nach 20 bis 30 Jahren zurück nach Vietnam zu gehen". Auch eine Familienplanung hält der Bäckerlehrling in Deutschland grundsätzlich für möglich. Allerdings würde er gern eine vietnamesische Partnerin haben.

Auch Mai Le Thi Vu plant ihre Zukunft in Deutschland: "Ich bin hierhergekommen, mit dem festen Willen zu bleiben. Ich möchte hier noch viel lernen und ich mag die Arbeitsmoral in Deutschland".

Ein junger Mann
Hieu Van Vu liebt seine Heimat, in Deutschland fühlt er sich auch angekommen. Bildrechte: privat

So viele Menschen mit vietnamesischer Herkunft leben in Mitteldeutschland

Laut Statistischem Bundesamt lebten 2023 rund 215.000 vietnamesische Zuwanderer und ihre Kinder in Deutschland** – davon 13.000 in Sachsen  und 8.000 in Sachsen-Anhalt. Für Thüringen gibt es keine verlässlichen Angaben.

In allen neuen Ländern insgesamt sind es 32.000 – ohne den ehemaligen Ostteil Berlins, der aber beispielsweise eine besonders große vietnamesische Gemeinschaft in Berlin-Lichtenberg hat. Im Vergleich zu den fast 25 Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in ganz Deutschland, sind die vietnamesisch-stämmigen Menschen nur eine kleine Gruppe.

Vietnamesische Einwanderer in der BRD und DDR***

Schon seit den 1960er- und 1970er-Jahren kamen vietnamesische Staatsbürger sowohl in die BRD als auch in die damalige DDR. Damals waren das vor allem Studierende oder Auszubildende. 1975 lebten über 2.000 vietnamesische Studierende in der ehemaligen BRD. Sie stammten meist aus Südvietnam und blieben wegen der schwierigen politischen Situation nach Ende des Vietnamkrieges meist auch dort.

Weit über 50.000 Studierende, Auszubildende und Praktikanten kamen bis 1988 aus der nordvietnamesischen "Demokratischen Republik Vietnam" und später der wiedervereinigten "Sozialistischen Republik Vietnam" in die ehemalige DDR. Die meisten davon verließen das Land wieder nach der Ausbildungszeit. Ihre Geschichte begann mit einer Gruppe von 348 vietnamesischen Schülerinnen und Schülern im Alter von zehn bis 14 Jahren. Die "Moritzburger" erhielten ab 1955/56 von der DDR als solidarische Unterstützung in Moritzburg bei Dresden eine schulische und berufliche Ausbildung. Die meisten von ihnen kehren allerdings später in ihre Heimat zurück.

Nach Ende des Vietnamkrieges wanderten Vietnamesinnen und Vietnamesen in die BRD überwiegend als politische Flüchtlinge ein. Sie hatten versucht, auf Booten das Land zu verlassen und wurden im besten Fall von humanitären Hilfsorganisationen gerettet. Insgesamt kamen bis Mitte der 1980er-Jahre so circa 38.000 der sogenannten Boat-People nach Deutschland und blieben meist. Nach der Wiedervereinigung hielten viele der ehemaligen Bootsflüchtlinge, bedingt durch die Ressentiments aus dem Vietnamkrieg, zunächst Abstand zu ihren Landsleuten, die in den 1980er-Jahren vornehmlich aus Nordvietnam als Vertragsarbeiter für die DDR rekrutiert worden waren.

Fußnoten:

* Angaben laut Statistischem Bundesamt für das Jahr 2023
** Erläuterung: Menschen mit Migrationshintergrund sind entweder selbst ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren oder haben zumindest einen Elternteil, der ohne deutsche Staatsangehörigkeit geboren wurde. Ob mittlerweile eine Einbürgerung stattgefunden hat, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
*** Alle Zahlenangaben stammen aus der Studie "Die vietnamesische Diaspora in Deutschland", GIZ, 2016.

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MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 15. Oktober 2024 | 20:15 Uhr

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Thomas Lenk 17 min
Bildrechte: MDR/ Universität Leipzig/Prof. Dr. Thomas Lenk, Foto: Christian Hüller

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