Migrantenkinder in Deutschland Wie es eine vietdeutsche Sängerin geschafft hat, aus dem Schatten ihrer Vergangenheit zu treten
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16. Oktober 2024, 10:44 Uhr
Der Musikerin und Sozialarbeiterin Ngoc Anh Nguyen fiel es als Kind vietnamesischer Einwanderer schwer, ohne geeignete Vorbilder ihre Identität zu finden. Heute will sie umso mehr Vorbild für andere sein.
Musikclip als Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
Ein Bluescreen mit Störstreifen und das Geräusch einer Videokassette, die in den Recorder eingelegt wird – der Blick in die Vergangenheit: Zwei Kinder sitzen auf einem geparkten Moped, das an einer Hauswand steht, drinnen hockt eine Familie am Boden um mit Essen gefüllten Schüsseln. Der Zeitstempel des Videos zeigt das Datum 9. März 1998. Mit diesen alten VHS-Schnipseln beginnt das melancholische Musikvideo "Motherland" von der Berliner Singer-Songwriterin Another Nguyen – ein Pseudonym, das gekonnt damit spielt, dass der vietnamesische Familienname zwar einer der häufigsten der Welt, sie aber anders ist.
"Motherland" behandelt die seelische Zerrissenheit in einem Leben zwischen zwei Kulturen. In ihrem Song sucht die Künstlerin nach einer Versöhnung mit sich selbst und ihren migrantischen Wurzeln. Das kleine Mädchen mit den schwarzen Haaren und den Händen am Lenkrad heißt Ngoc Anh Nguyen. Sie ist damals gerade sechs Jahre alt. Für eine lange Zeit wird das ihr letzter Besuch im Heimatland ihrer Eltern Vietnam bleiben. Ihre Mutter und ihr Vater haben ihrem Dorf im Umland von Hanoi schon Jahre zuvor den Rücken gekehrt, um als Vertragsarbeiter in die ehemalige DDR zu gehen – sie als Näherin, er als Arbeiter in einem Kraftfahrzeugwerk.
So wird Ngoc Anh Nguyen, geboren 1992, im sächsischen Boxberg bei Weißwasser groß. In dem Ort mit damals 1.000 Einwohnern sind sie lange die einzige vietnamesische Familie. Nach der Wiedervereinigung verdienen die Eltern ihr Geld mit einem Imbiss-Stand auf dem Wochenmarkt oder verkaufen Essen auf Dorffesten.
Glückliche Kindheit mit ihrer deutschen "Oma"
"Im Alter von null bis sechs Jahren ist in meinem Kopf alles schön gewesen. Ich hatte diese deutsche Oma. Sie war einfach eine Kundin meiner Eltern auf dem Wochenmarkt und hat sich unserer Familie angenommen. Ich bin quasi als Kind mit ihr aufgewachsen. Wir haben Weihnachten zusammen verbracht, Geburtstage. Ich habe am Wochenende bei ihr geschlafen. Sie hat mir Geschichten vorgelesen und das war sehr schön", beschreibt Ngoc Anh Nguyen ihre frühe Kindheit.
An diese unbeschwerte Zeit erinnern die VHS-Sequenzen im Video, in denen Mutter und Tochter im Winter an den Neubaublöcken ihrer Wohnsiedlung vorbeispazieren. Heute gibt es diese Häuser nicht mehr.
In der Schulzeit wird Anders-Sein zur Zerreiß-Probe
Nachdem ihre sechs Jahre jüngere Schwester geboren wird, beginnt die Schulzeit von Ngoc Anh Nguyen. Im Musikvideo "Motherland" trägt sie im rosa Schulanfängerinnen-Kleid den neuen Ranzen zur ihrer Bank im Klassenzimmer. Das ist der Auftakt zu einer Lebensphase, in der ihr Anders-Sein zur seelischen Belastung wird. Denn als Kind pendelt Ngoc Anh Nguyen zwischen den kulturellen Welten. In den eigenen vier Wänden wird von den Eltern ausschließlich Vietnamesisch gesprochen und ein anderes Wertesystem gelebt. In der vietnamesischen Kultur zählen vor allem Anpassung und Kollektivsinn, während in der Schule in Deutschland Individualität und eine eigene Meinung gefördert werden – insbesondere, als das Mädchen später aufs Gymnasium in Weißwasser wechselt. Mit den Eltern gibt es regelmäßig Streit.
"In der vietnamesischen Kultur wird gesagt, du musst sehr gehörig sein, darfst den Eltern nicht widersprechen. Das, was Papa sagt, das ist wahr. Und ich war immer ein böses Kind, weil ich widersprochen habe", sagt die heute 32-Jährige. "Das hat schon dazu geführt, dass ich, als Jugendliche besonders, manchmal das Gefühl hatte, dass ich eigentlich zwei Persönlichkeiten hatte: die Person, die in der Welt gut gelaunt ist, viele Freundschaften pflegt, selbstbewusst ist und, ja, glücklich ist. Und sobald ich nach Hause kam, war das ganz anders."
In der vietnamesischen Kultur wird gesagt, du musst sehr gehörig sein, darfst den Eltern nicht widersprechen. Das, was Papa sagt, das ist wahr.
"Früher wollte ich einfach nur so deutsch wie möglich sein"
Als Teenager schämt sich Ngoc Anh Nguyen für ihre vietnamesischen Wurzeln. Sie will deswegen einfach nur so deutsch wie möglich sein und lehnt die vietnamesische Kultur ab: "Auf dem Gymnasium war ich immer lange Zeit die einzige Ausländerin und habe Alltagsrassismus erlebt, also bin beschimpft worden. Und anstatt, dass ich mir dann denke, das ist unfair, habe ich mir einfach gedacht, ja, stimmt, es ist ja auch Scheiße, dass ich Ausländerin bin und wie peinlich, dass meine Eltern nicht deutsch sind."
Auf dem Gymnasium war ich immer lange Zeit die einzige Ausländerin und habe Alltagsrassismus erlebt.
Zu Hause weigert sie sich, mit den Eltern Vietnamesisch zu sprechen. "Ich habe immer darauf gepocht: Ich bin deutsch, wir sind hier in Deutschland", erzählt Ngoc Anh Nguyen, die sich heute am liebsten als Vietdeutsche bezeichnet. Rückblickend, gibt sie zu, habe sie sehr viel internalisierten Rassismus in sich gehabt, wenn sie sich dafür geschämt habe, dass ihre Eltern nicht so gut Deutsch konnten. Erst im Nachhinein habe sie verstanden, dass die Eltern eigentlich nie die Möglichkeit hatten, richtig Deutsch zu lernen, sondern vor allem damit beschäftigt gewesen seien, einfach zu überleben.
Musik als Chance, um Anerkennung zu erhalten
Damals merkt die Jugendliche, die heute als Sängerin unter dem Künstlernamen Another Nguyen auftritt, erstmals, dass ihr Musik soziales Standing verschafft und sie so mehr sein kann als eben nur die Ausländerin. Ihre Eltern unterstützen sie dabei und finanzieren ihren Musikunterricht. "Die haben gemerkt, dass ich dafür brenne, dass mir das Spaß macht. Und irgendwie haben sie es mir erlaubt. Aber sie sind nie zu Konzerten gekommen. Sie wussten eigentlich nicht, was ich mache, wie ich klinge und so weiter. Ich glaube, erst mit 18 war meine Mutter das erste Mal bei einem Konzert dabei, weil die Eltern immer arbeiten mussten", erinnert sich die Sängerin.
Sehnsucht nach der vietnamesischen Vergangenheit
Direkt nach dem Abitur fängt Ngoc Anh Nguyen an, Kultur- und Medienpädagogik zu studieren, merkt aber schon im ersten Semester, dass sie das nirgendwohin führt. Sie beneidet ihre Kommilitonen um deren Auslandserfahrungen und bereut zunehmend das schlechte Verhältnis, das sie mit ihrer Familie hat und dass sie ihre eigene Muttersprache nicht sprechen kann. Sie bricht das Studium ab und beschließt, 2012 im Rahmen eines Freiwilligendienstes nach Vietnam zu gehen. Dort durchlebt sie dann einen totalen Gesinnungswandel.
"Ich kam von 'Ich will so deutsch wie möglich sein' zu 'Ich will so vietnamesisch wie möglich sein', weil ich gefühlt 19 Jahre meines Lebens das so von mir weggeschoben habe, dass ich das jetzt wettmachen wollte. Ich wollte alles lernen". Ngoc Anh Nguyen setzt auf das volle Kontrastprogramm. Sie probiert sich bereitwillig in der Rolle der fügsamen vietnamesischen Hausfrau: "Ich habe auch die ganze Zeit abgewaschen und so etwas, was vietnamesische Frauen immer machen, und wollte wirklich so sein wie eine vietnamesische Frau." Später stellt sie allerdings fest, dass sie diesen Anspruch nicht erfüllen kann und auch nicht erfüllen will.
Besonders gefühlvolle Momente in "Motherland" sind Ngoc Anh Nguyens Begegnungen mit ihrer Familie in Vietnam. Dort ist das Ausdrücken von starken Emotionen in der Öffentlichkeit eher untypisch. Wenn die Sängerin dann trotzdem ihre Tränen nicht zurückhalten kann, ist das sehr berührend. Es zeigt, wie tief das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Aussöhnung mit der konfliktbeladenen Vergangenheit sitzt – "Oh Motherland. Will you take me back?"
In Vietnam verbessert sich die Beziehung zu den Eltern
Ngoc Anh Nguyen lernt in Vietnam, immer besser die Sprache ihrer Eltern zu sprechen. Noch während der Zeit dort, beginnt sie mit ihnen auf Vietnamesisch zu kommunizieren. Das verändert die gestörte Beziehung fundamental. "In der vietnamesischen Sprache, die Art und Weise miteinander zu reden, ist viel vertrauter. Und es war ein großer Schritt für mich, in ihre Sprache zu wechseln, in der sie eigentlich auch stärker sind. Ja, und es war auch erst mal komisch, weil ich dann quasi meine Eltern anders kennenlernte“, versucht Ngoc Anh Nguyen diese Erfahrung zu beschreiben.
Als sie nach Deutschland zurückkommt, ist der Umgang in der Familie viel liebevoller. Das drückt sich vor allem in der gegenseitigen Unterstützung füreinander aus. Außerdem kann die Tochter sich mit den Eltern ganz anders austauschen – im Gegensatz zu früher. "Als ich quasi dann in Vietnam die Sprache gelernt habe mit 20, konnte ich anfangen, mich mit meinen Eltern zu unterhalten".
In der vietnamesischen Sprache, die Art und Weise miteinander zu reden, ist viel vertrauter.
Studium hilft bei der Aufarbeitung seelischer Verletzungen
Schön frühzeitig war für Ngoc Anh Nguyen klar, dass sie ihre Zukunft nicht in ihrem Heimatort finden wird. Sie zieht nach Berlin, fängt an, Soziale Arbeit zu studieren und sammelt wichtige Erfahrungen bei einem Studienaufenthalt in Kalifornien. Es ist ein langer Prozess für Ngoc Anh Nguyen, sich mit ihren seelischen Verletzungen auseinanderzusetzen und ein Verständnis für das Verhalten ihrer Eltern zu entwickeln. Ihr Studium hilft ihr dabei: "Davor habe ich lange so gelebt mit dem Gefühl, irgendwas hält mich auf, irgendwas steht mir im Weg, irgendwas erlaubt mir nicht, frei zu sein. Und nachdem ich das aber freigeschaufelt habe, war das Gefühl dann so: Was ist eigentlich der Kern von mir außerhalb des ganzen Schmerzes von 'Ich bin ein Kind von Migranten und aus der Arbeiterklasse und benachteiligt in der Gesellschaft'?".
Nach ihrem Studium arbeitet die ausgebildete Sozialarbeiterin als Familienhelferin ausschließlich mit vietnamesischen Familien. Die Berufswahl ist kein Zufall. Eine solche außenstehende Person hatte sie sich als junges Mädchen immer gewünscht– jemand, der ihr hätte helfen können, ihre verzweifelte Situation zu verstehen. Stattdessen schämt sie sich dafür, wenn sie von ihren Eltern geschlagen wird: "Weil ich mir dachte, wenn das die Nachbarn wüssten? Oder ich habe einfach gedacht, meine Eltern sind allgemein schlechte Menschen oder hassen mich." Dass sie heute so offen darüber reden kann, macht deutlich, wie mutig und reflektiert Ngoc Anh Nguyen mit ihrer eigenen Geschichte umgeht. Ihren Eltern hat sie mittlerweile verziehen.
Job als Familienhelferin konfrontiert mit der eigenen Vergangenheit
Die Familien, mit denen Ngoc Anh Nguyen als junge Sozialarbeitern zu tun hat, leben teilweise in prekären Situationen – mit Folgen wie Vernachlässigung oder häuslicher Gewalt. Oft holt ihre eigene Vergangenheit sie wieder ein: "Es ist tatsächlich so, dass ich in Familien gekommen bin, wo ich dann plötzlich wieder in so einem Neubaublock war, wo es sehr eng war und ich dann plötzlich dachte, genau so bin ich auch aufgewachsen. Und jetzt stecke ich da irgendwie wieder drin und sehe Kinder vor mir, die das noch mindestens zehn Jahre vor sich haben. Und das hat mir wehgetan".
Neues Leben als Berufsmusikerin
Neben ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin studiert Ngoc Anh Nguyen Musik. Sie weiß schon früh: Die Erfüllung, die sie auf der Bühne spürt, ist noch stärker als das positive Gefühl, als Familienhelferin Gutes bewirken zu können. "Da habe ich auch Glück und bin dankbar, dass mein Arbeitgeber und meine Teamleitung mich von Anfang an immer unterstützt haben", sagt die Künstlerin. Sie hat 2018 ihr erstes Mini-Album herausgebracht und im Sommer auf der Berliner EM-Fanmeile performt – auch ihren Song "Motherland". Der Clip zum Song entsteht während eines Film-Workshops zur Förderung des Filmnachwuchses in der vietdeutschen Community.
Vor der offiziellen Veröffentlichung wird das Musikvideo vor einem privaten Publikum in einem großen Kinosaal präsentiert. "Und da war mein Vater auch im Publikum und da sind ihm sehr die Tränen gekommen. Er war sehr berührt. Das war natürlich schön zu sehen", erzählt die Sängerin und Songwriterin. Auch solche Momente versöhnen Ngoc Anh Nguyen mit ihren Eltern, die auch heute noch nicht immer frei von Erwartungen an ihr Kind sind – etwa wenn es um die finanzielle Unterstützung der Familie geht. Dabei trägt die Tochter selbst in sich den Wunsch, für ihre Eltern da zu sein: "Nur ist jetzt der Unterschied bei mir, dass ich weiß, ich muss mich erst mal um mich selbst kümmern, meine Karriere aufbauen und der nächste Schritt ist, ihnen finanziell zu helfen." Gleichzeitig weiß sie, dass ihre Eltern ihren Weg akzeptieren und stolz auf ihre musikalischen Leistungen sind. Das Musikvideo präsentiert sie auch auf ihrem eigenen YouTube-Kanal.
Auch zu ihrer alten Heimat in Sachen hat Ngoc Anh eine andere Beziehung aufbauen können. In Weißwasser wird sie hin und wieder für Konzerte angefragt, auch wenn sie nicht mehr so viel Kontakt zu den Menschen dort hat: "Aus der Schulzeit, wo ich viel gesungen habe, haben sich die Leute das gemerkt und freuen sich, dass ich das wirklich auch professionell mache. Witzigerweise sagen viele von denen: 'Ich habe es immer gewusst, dass du mal Musikerin wirst.' Und ich denke mir immer, ich nicht! Ich wusste das nicht. Das war für mich ein langer Prozess.“
Mit der eigenen Stimme gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft
Nachdenklich macht Ngoc Anh Nguyen der Rechtsruck in der Gesellschaft, nicht zuletzt in ihrer sächsischen Heimat. Vor allem mag sie nicht, wenn Asiaten in den aktuellen Diskussionen gern als Vorzeige-Migranten hingestellt werden: "Ich weiß, dass es Menschen aus meinem, aus diesem damaligen Umfeld gibt, die rechtsextremistische Ansichten haben, aber gleichzeitig bei meinen Eltern Nudelpfanne essen und auch mit mir abhängen. Oder die zum Beispiel zu einem Konzert von mir kommen würden und dann aber immer gar nicht diese Verbindung sehen und sich dann denken würden: 'Ihr macht ja keine Probleme.' Dass sie aber nicht verstehen, dass ich auch ein Teil von Menschen bin, die von woanders hergekommen sind." Deshalb überlegt die Sängerin, wie sie in Zukunft ihre Stimme und den Vorteil, dass Menschen ihr gern zuhören, nutzen kann, um der aktuellen politischen Entwicklung etwas entgegenzusetzen.
MDR (cbr)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Umschau | 15. Oktober 2024 | 20:15 Uhr