Neue Medien Holocaust auf TikTok mehr als eine Challenge
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27. Januar 2023, 11:43 Uhr
Vor einem Jahr wurde eine Initiative vorgestellt, mit der die Shoa, der Holocaust, der Völkermord an den Juden ausgerechnet auf TikTok zum Thema wird. Sie ist heute kein Pilotprojekt mehr, denn was zuvor als kaum möglich galt: Genau da, wo aus Sicht von älteren Leuten eher kindischer Clip-Klaumauk und Tänze trenden, sind Zeitzeugen und KZ-Gedenkstätten jetzt verifizierte "Content-Lieferanten" mit großer Reichweite.
- Wie die verunglückte "Holocaust Challenge" auf TikTok zu einem ernsthaften Informationsangebot geführt hat.
- Zeitzeugen, junge Nutzer und Experten bieten Aufklärung und Informationen über den Holocaust
- TikTok will die vor einem Jahr gestartete Initiative fortsetzen.
Als im Sommer 2020 junge Leute in TikTok-Clips mit fragwürdigen Filtern sterbende Juden in Konzentrationslagern "spielten", war die Empörung groß. Die Gedenkstätte Yad Vashem kritisierte die "Holocaust Challenge". Auch die in Auschwitz bezeichnete sie als "verletzend", warnte aber davor, junge TikTok-Nutzer dafür anzugreifen, um stattdessen auf Aufklärung zu setzen.
Tendenziell ältere Leute vor allem auf Twitter wetterten über das TikTok-Treiben. TikTok selbst löschte Videos, betont aber auch heute, dass damals viel Kritik der Community selbst zu Debatten über die Angemessenheit der Clips und zu deren Löschung durch die jungen Urheber geführt habe.
Bald wurde in der Debatte dann auch auf gelungenere Beispiele von Erinnerungskultur auf Social Media verwiesen, etwa auf die "Eva.Stories", ein digitales Holocaust-Tagebuch auf Instagram und Snapchat.
Und zu den gelungeren Beispielen dürfte inzwischen wohl auch die internationale "Shoah Education and Commemoration Initiative" gehören, zu der auch TikTok als Plattform und Unterstützer gehört.
KZ-Gedenkstätte Neuengamme als Vorreiter
Denn genauer hingesehen hatte damals auch Iris Groschek, in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und das Erreichen junger Menschen. Ihr war aufgefallen, dass die jungen TikTok-Nutzer den Holocaust gar nicht ins Lächerliche ziehen wollten. Und sie fand "spannend, welchen Weg die jungen Leute von sich aus gehen".
Und während die TikTok-Debatte auf Twitter tobte, schrieb Groschek dort Tobias Ebbrecht-Hartmann an, Medienwissenschaftler an der Hebräischen Universität in Jerusalem, auch er ein Ideengeber und heute wissenschaftlicher Begleiter der Initiative. Auch er sagte MDR AKTUELL, dass er die Kritik damals "nicht wirklich angemessen" fand, aber feststellte, dass es bessere Beispiele für "best practice" brauchte. So sei die Idee der Initiative entstanden.
Dazu gehörten Seminare ab Herbst 2021, zu denen das American Jewish Committee Berlin eingeladen hatte, dabei auch Groschek: Gedenkstätten und Museen überlegten, ob und wie Erinnerung an die NS-Verbrechen auf TikTok funktionieren und warum es dazu dort auch "institutionelle Creator*innen" braucht. Zur selben Zeit machte man sich bei TikTok ganz ähnliche Gedanken, weshalb es von dort dafür offene Ohren und praktischen Support gab.
Damit setzten Groschek und ihr Team im November 2021 ihren TikTok-Account auf. Auch dank Verifizierung durch TikTok gewann er mit kurzen Videos schnell an Popularität und gilt heute eben als "best practice".
Heute sieht das so aus: Neuengamme Memorial auf TikTok
Sie verstehe, sagt Groschek, dass ältere Menschen "aus einer anderen Erinnerungskultur" den TikTok-Ton auch negativ erleben. Doch "wir müssen präsent sein in der Online-Welt", in Sprache und Umfeld junger Leute auch außerhalb der Schule. Spätestens in der Corona-Pandemie sei das allen klar geworden. Und gerade auch auf TikTok kommunizierten Jugendliche auf ihre Art über alle möglichen Themen, auch über politische und historische.
"Ich kann in 30 Sekunden nicht die ganze Shoa erklären", sagt auch Groschek, aber bestimmte Aspekte von dem, was damals passiert sei. Ausgrenzung und Mobbing etwa seien durchaus heutige Ansatzpunkte in der Lebenswirklichkeit junger Leute: "Es ging ja auch damals nicht gleich mit dem Morden los."
Junge Leute neben Zeitzeugen und Experten
Inzwischen sehen Gedenkstätten TikTok schon als "Plattform für Bildung, Vermittlung und Kommunikation". Christoph Heubner, als Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, bewundert das Engagement vieler Zeitzeugen auf Social Media, worin die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schon vor einem Jahr hilfreiche "digitale Stolpersteine" sah.
Ein "Icebreaker" war sicher auch Gidon Lev, der heute bei Tel Aviv lebt und nicht nur auf Youtube oder im Deutschlandfunk erklärt, warum er noch im hohen Alter für TikTok tanzt. Schon zuvor hatte die Auschwitz-Überlebende Lily Ebert aus London mit Hilfe ihres Urenkels auf TikTok erste Zeichen gesetzt. Weitere Überlebende folgten, wie Tova Friedman, die heute in den USA lebt.
Auch Friedman war von einem ihrer Enkel, von Aron Goodman, zu TikTok geführt worden. Im Hörfunkbeitrag (oben) erklärt er, warum gerade das für seine Großmutter "ein großartiger Ort" sei, ihre Geschichte zu erzählen.
TikTok bindet Experten ein
Neben diesen Zeitzeugen, die auf eigene Initiative und oft mit der Hilfe jüngerer Verwandter den Weg in diese neuen Medien fanden, sind in die TikTok-Initiative vor allem Gedenkstätten und Museen eingebunden.
Oft agieren für sie dort junge Freiwillige "peer-to-peer", wie Groschek erläutert, nicht selten auf Englisch für internationales Publikum. Denn das sei ein weiterer Vorteil von TikTok. So habe die Gedenkstätte Neuengamme die meiste Resonanz in England und den USA und dann erst in Deutschland.
Dank Algorithmus müssen Nutzer dem Account auch nicht folgen, um die Angebote zu sehen. Sie werden unter Hashtags wie #holocaust ausgespielt, aber auch an Nutzer, die sich etwas anderes etwa über Juden oder Israel anschauen.
Zudem begleitet TikTok die Partner mit Workshops. Das sei wichtig, sagt Groschek, denn neben personellen, finanziellen und datenschutzrechtlichen Aspekten müsse man die Plattform kennen. Ein Youtube-Video funktioniere nicht gleich auch auf TikTok. Auch hilft die Plattform, die Partner zu schützen. Es gebe Ansprechparter und geschulte Moderatoren, erklärt TikTok. Groschek und Ebbrecht-Hartmann sprechen von einem "kurzen Draht für Probleme".
Mehr als zwei Jahre nach der verunglückten "Challenge" und ein Jahr nach dem Start der Initiative sind nun 15 Gedenkstätten und Museen dabei. Neu etwa sind die Arolsen-Archive. Auch Informationen zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald finden sich und Leitlinien für Gedenkstätten und Museen, wie soziale Medien "als positive Technologie eingesetzt" werden können.
Dauerhaftes Engagement
Für TikTok ist das kein Pilotprojekt mehr. "Wir möchten das weitermachen", versicherte TikTok-Sprecherin Andrea Rungg auf Anfrage von MDR AKTUELL. Und auch die Bilanz der Gedenkstätten auf TikTok erscheint positiv, wie auf einem Treffen der Initiative diese Woche in Berlin deutlich wurde.
Ebbrecht-Hartmann sagt zwar: Ein Besuch "am historischen Ort ist durch nichts zu ersetzen". Social Media jedoch könne neue Zugänge schaffen. Als Beispiel nennt er einen Bericht von Eltern, deren Tochter auf TikTok etwas von der KZ-Gedenkstätte in Neuengamme bei Hamburg erfahren habe und eben darum demnächst auch einmal selbst dorthin wolle – von sich aus.
Quellen: MDR AKTUELL
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 27. Januar 2023 | 12:00 Uhr
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