Holocaust-Gedenktag Zwangsarbeit im Dritten Reich: Verbrechen vor aller Augen
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27. Januar 2023, 05:00 Uhr
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs war jede vierte Arbeitskraft in Deutschland eine Zwangsarbeiterin oder ein Zwangsarbeiter. Nicht alle waren Juden. Viele wurden aus besetzten Gebieten in Osteuropa verschleppt. Sie kamen in sämtlichen wirtschaftlichen Bereichen zum Einsatz, manche lebten sogar als Haushaltshilfe bei Privatleuten. Doch auch KZ-Häftlinge gehörten beispielsweise in Leipzig zum Straßenbild. Für die Messestadt zeigt eine digitale Karte das Ausmaß der NS-Zwangsarbeit.
- Auf dem Gebiet des Freistaates Sachsen gab es 70 KZ-Außenlager. Die Häftlinge arbeiteten teils Seite an Seite mit den regulären Beschäftigten von Unternehmen.
- Wie allgegenwärtig NS-Verbrechen im Alltag waren, zeigt das Beispiel Leipzig.
- Auch in Sachsen-Anhalt und Thüringen gab es zahlreiche KZ-Außenlager im Umfeld großer Industriebetriebe.
Vor genau 78 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die sowjetische Armee das Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau im deutsch-besetzten Polen. Es steht oft als Synonym für die millionenfache, geplante und industriell durchgeführte Auslöschung jüdischen Lebens in Europa durch das deutsche Nazi-Regime. Deshalb fällt der Holocaust-Gedenktag auf dieses Datum. Bis heute sind die NS-Verbrechen gedanklich eng verknüpft mit Konzentrationslagern und Gaskammern. Doch sie geschahen auch direkt vor den Augen der deutschen Zivilbevölkerung. Das zeigt das Beispiel Sachsen.
Auf dem Gebiet des Freistaats gab es laut Sächsischer Landeszentrale für Politische Bildung zirka 70 Außenlager der KZs Buchenwald, Groß-Rosen und Flossenbürg, in denen mindestens 43.000 Menschen interniert waren. Mindestens 4.200 starben direkt in den Lagern. Bei den Zahlen handelt es sich allerdings allein um die gesicherten Fälle. Mehrere solcher Lager befanden sich mitten in Leipzig, angrenzend an große Industriebetriebe, in denen die Lagerinsassen oft unter miserablen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten.
700 Orte von NS-Zwangsarbeit allein in Leipzig
Zwangsarbeit war ein flächendeckendes Massenphänomen im NS-Staat. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war laut Bundeszentrale für Politische Bildung mehr als jede vierte Arbeitskraft in Deutschlands Wirtschaft eine Zwangsarbeiterin oder ein Zwangsarbeiter. Diese Menschen, zu denen neben KZ-Häftlingen auch andere Personengruppen gehörten, waren demnach allgegenwärtig und unübersehbar in der deutschen Gesellschaft, mehr noch: Die Deutschen arbeiteten in den Betrieben nicht selten sogar Seite an Seite mit ihnen an den Werkbänken.
NS-Zwangsarbeit war ein sichtbares und öffentliches NS-Massenverbrechen.
"NS-Zwangsarbeit war ein sichtbares und öffentliches NS-Massenverbrechen“, sagt Josephine Ulbricht, Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. Auf einer digitalen Karte hat die Gedenkstätte die Orte von NS-Zwangsarbeit in der Messestadt verzeichnet – es handelt sich um Lager, Unterkünfte, Betriebe. Das Stadtgebiet ist übersät davon. Bislang seien 700 Orte verzeichnet, bei Recherchen stoße das Team jedoch auf immer neue, so Ulbricht. Zwangsarbeit hatte dabei viele Gesichter.
Da ab 1942 fast alle deutschen Männer in die Armee einberufen wurden, zwangsrekrutierten die Nazis in den besetzten Gebieten Arbeitskräfte, darunter viele Frauen. Gegen Ende des Krieges griff die Industrie dann immer stärker auf Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zurück. KZ-Außenlager wurden dann nicht selten direkt bei den Betrieben errichtet. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung haben insgesamt mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter die Rüstungsproduktion sowie die Versorgung der deutschen Bevölkerung aufrechterhalten.
KZ-Außenlager auf Betriebsgelände mitten in der Stadt
Unter den Zwangsarbeitern waren laut Bundesarchiv 8,4 Millionen sogenannte "Zivilarbeiter" – oft aus Osteuropa verschleppte Zivilisten –, 4,6 Millionen Kriegsgefangene und 1,7 Millionen KZ-Häftlinge und "Arbeitsjuden". Die Bedingungen, unter denen sie lebten und arbeiteten, unterschieden sich laut Historikerin Josephine Ulbricht einerseits stark je nach Herkunftsland, Arbeitgeber, "Rassezugehörigkeit" und Status. Die Grenzen seien andererseits fluide gewesen. So hätten auch zivile Zwangsarbeiter etwa bei Fluchtversuch mit einer Einweisung ins KZ rechnen müssen.
"Allein in Leipzig gab es mehr als 75.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter", sagt Ulbricht. Sie hätten vor allem in der Rüstungsindustrie, aber auch als Haushaltshilfen in Privathaushalten, bei den Stadtwerken, den städtischen Verkehrsbetrieben, in Handwerksbetrieben, in privaten Firmen oder bei der Trümmerbeseitigung nach Bombenangriffen geschuftet.
Die Gruppe der KZ-Häftlinge war zwar abgeschotteter als etwa zivile Zwangsarbeiter, aber ebenfalls sichtbar für die Leipziger. In der Stadt gab es laut Ulbricht gleich vier KZ-Außenlager und ein weiteres in Markkleeberg. Ein Hauptprofiteur sei die "Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft" (HASAG) gewesen, der größte Rüstungskonzern Sachsens. Im Sommer 1944 entstand neben dem Fabrikgelände mit mehr als 5.000 weiblichen KZ-Häftlingen das größte Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Darunter waren laut Sächsischer Landeszentrale für Politische Bildung an die 2.000 Jüdinnen, die übrigen Frauen waren politische Gefangene.
Die Deutschen arbeiteten neben KZ-Häftlingen in Fabriken
"Für das KZ-Außenlager 'HASAG Leipzig' wissen wir, dass es im Stadtgebiet lag und auf dem Firmengelände, jedoch abgeschirmt mit Stacheldraht und SS-Wachmännern", beschreibt die Historikerin. Die weiblichen Gefangenen seien jedoch über die Straßen zur Arbeit im Werk geführt worden und damit sichtbar gewesen für die Bevölkerung. "Auch gibt es Berichte, die belegen, dass Leipzigerinnen und Leipziger durch den Zaun auf das Gelände des KZ-Außenlagers schauen konnten. In den Fabriken kamen die gefangenen Frauen dann in Kontakt mit deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen."
In den Fabriken kamen die gefangenen Frauen dann in Kontakt mit deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen.
Unter den NS-Zwangsarbeitern wurden KZ-Häftlinge am schlechtesten behandelt. Sie waren völlig entrechtet und wurden misshandelt. Die Bedingungen konnten laut Bundeszentrale für Politische Bildung je nach Einsatzort schlimmer sein als Sklaverei, da das Regime kein Interesse an ihrem Überleben hatte. Auf sie wendete die SS den Grundsatz "Vernichtung durch Arbeit" an. Wie auf den Seiten der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung nachzulesen ist, starben in Sachsen gerade beim Bau unterirdischer Anlagen viele durch die harte körperliche Arbeit, die mangelhafte Versorgung und die menschenunwürdige Unterbringung. Bei Einsätzen in Industriebetrieben konnten die Überlebenschancen dagegen besser sein.
Zahlreiche KZ-Außenlager für Betriebe in Sachsen-Anhalt und Thüringen
Die NS-Zwangsarbeit in Sachsen ist sehr detailliert dokumentiert. Doch auch Thüringens und Sachsen-Anhalts Wirtschaft stützten sich auf Zwangsarbeit. Einer Publikation der gemeinnützigen Otto-Brenner-Stiftung zufolge gab es beispielsweise in Dessau zwei Außenlager des KZ Buchenwald mit insgesamt 550 Häftlingen. Sie wurden in der dortigen Waggonfabrik und in den Junkers Flugzeug- und Motorenwerken eingesetzt. Auch in Halle gab es demnach mehrere KZ-Außenlager. Etwa bei den Siebel-Flugzeugwerken mit zirka 1.000 männlichen Häftlingen. Außerdem unterhielt die SS-Baubrigade ein Außenlager mit 2.000 Häftlingen in der Saalestadt. In Magdeburg wurden KZ-Häftlinge unter anderem in der Munitionsfabrik Polte eingesetzt. Allein in der heutigen Liebknecht-Straße gab es zu diesem Zweck ein KZ-Außenlager, in dem mehr als 5.000 Frauen und Männern gefangen gehalten wurden.
In Thüringen war beispielsweise Jena ein Hotspot für NS-Zwangsarbeit. Wie Jenas Stadthistoriker Rüdiger Stutz berichtet, waren hier während der Kriegsjahre an die 14.000 Zwangsarbeiter bei insgesamt 320 verschiedenen "Arbeitgebern" untergebracht. 80 Prozent schufteten Stutz zufolge in den Zeiss- und Schott-Werken. Und auch ein KZ-Außenlager hatte Jena: 1.000 Häftlinge aus dem KZ-Buchenwald mussten hier schwere Zwangsarbeit für das Reichsbahnausbesserungswerk verrichten. Wie in Leipzig, war das Lager für Passanten einsehbar.
Zwangsarbeiter aus Osteuropa in Sammelunterkünften zusammengepfercht
Doch nicht nur die Häftlinge und Kriegsgefangenen, sondern auch die sogenannten zivilen Zwangsarbeiter und besonders jene aus Osteuropa lebten unter prekären Verhältnissen. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung durften sie ihre Lager oft nur zum Arbeiten verlassen. Sie seien in zugigen Baracken, Turnhallen oder Tanzsälen untergebracht gewesen. Sie seien ferner durch einen "rassistisch-bürokratischen Repressions- und Kontrollapparat" aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, Polizei und SS streng überwacht worden und in den Lager- und Betriebskantinen nur äußerst unzureichend verpflegt worden. Zwar hätten sie einen geringen Lohn erhalten, konnten sich davon ohne Lebensmittelmarken jedoch kein Essen kaufen und hätten daher ständig Hunger gelitten.
Von solchen Zuständen berichtet Jenas Stadthistoriker Stutz ebenfalls. Auch er kommt wie seine Leipziger Kollegin Ulbricht zu dem Ergebnis, dass Zwangsarbeiter in der Stadt allgegenwärtig und unübersehbar waren. Ein Unrechtsbewusstsein hätten aber wahrscheinlich die wenigstens Bürger gehabt. Rechtfertigung für die Verbrechen habe die NS-Ideologie geliefert. "Gesellschaft wurde hierarchisch gedacht – mit rassistisch begründeten Abstufungen." Ganz unten hätten Juden und Entrechtete gestanden.
MDR (Daniel Salpius)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 27. Januar 2023 | 19:00 Uhr
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