Kriegsberichterstattung als TikTok Wenn der ukrainische Soldat den Moonwalk tanzt
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09. September 2022, 16:51 Uhr
Luxus und Lifestyle, Krieg und Leid – diese Dinge liegen auf TikTok seit Beginn des Ukraine-Kriegs nah beieinander. Wie die ästhetischen Regeln und Formate der Plattform auch die Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet verändern.
Erst erscheint eine Katze, die vom Sofa fällt. Im Hintergrund zu hören: Gelächter. Nächstes Video! Ein Junge tanzt ins Bild und bewegt die Lippen. Im Hintergrund zu hören: der stark diskutierte Song "Layla". So weit, so leichte Kost.
Doch dann das nächste Video: Ein Mädchen rennt durch die Straßen einer offenbar ukrainischen Stadt und filmt sich dabei im Selfie-Modus. Im Hintergrund zu hören: Bombenalarm. Die Video-Überschrift: "Ein typischer Tag in der Ukraine." Auch solche Bilder bekommen Nutzer und Nutzerinnen auf TikTok seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu sehen.
Von "WarTok" war in den vergangenen Monaten deshalb oft die Rede. Dabei ist Kriegsberichterstattung in den sozialen Netzwerken nicht neu. Bereits im syrischen Bürgerkrieg wurden Facebook oder Twitter beispielsweise dazu genutzt, um Proteste zu organisieren und Bilder von der Front zu veröffentlichen.
Doch ist der Krieg in der Ukraine der erste Konflikt, bei dem in dieser Masse deutlich wird, wie sehr die ästhetischen Regeln der sozialen Netzwerke verändern, wie über Krieg berichtet wird – und was die Nutzer und Nutzerinnen sehen wollen.
Im Selfie-Modus an der Front
TikTok ist längst zur Chronisten-Plattform geworden, was den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine angeht. Neben witzigen Dance-Challenges oder Lip-Sync-Videos verzeichnen ernste Zeitdokumente mehrere Milliarden Aufrufe. Nur: Was heißt schon ernst? Denn es mutet auf den ersten Blick doch eher bizarr an, wenn ein offenbar ukrainischer Soldat zum Song "Smooth Criminal" von Michael Jackson im Kriegsgebiet einen Moonwalk präsentiert. Dieses Video aus dem Februar dieses Jahres verzeichnete Aufrufe im zweistelligen Millionenbereich und hunderttausende Kommentare. Es trifft offenbar den Zeitgeist. Verifizieren lässt es sich nicht.
Hochwertige Foto-Reportagen aus Kriegsgebieten oder Videoaufnahmen von Nachrichtenportalen gibt es noch immer. Doch so nah dran, wie ein Soldat an der Front oder ein Mädchen in den ukrainischen Straßen, die im Selfie-Modus filmen, können diese klassischen Formen der Berichterstattung naturgemäß gar nicht sein. Doch es ist genau dieses Nah-Dran-Sein, dieses Mitgenommen-Werden, an das viele gerade junge Menschen auf den sozialen Netzwerken wie TikTok gewöhnt sind. Fast ein Viertel aller deutschen TikTok-Nutzer und TikTok-Nutzerinnen sind unter 18 Jahre alt.
Sie wollen nicht nur das sehen, was in den Nachrichten von Medien berichtet wird. Sie wollen Informationen von den Menschen vor Ort – direkt und ungefiltert, trotz aller möglicher Nebenwirkungen, die diese Kommunikation mit sich bringt: fehlende Quellen, nicht überprüfbare Authentizität oder die Gefahr der Meinungsmanipulation.
Ungefilterte Propaganda schürte so in den vergangenen Monaten den Konflikt. Doch im Sekunden-Geschäft mit der Aufmerksamkeit bleibt auf TikTok keine Zeit für Verifizierung oder Faktencheck. Besser gesagt: die meisten Nutzer und Nutzerinnen nehmen sie sich nicht.
Welche Rolle spielen Filme, Games und Medien?
Dabei formen die ästhetischen Regeln und Formate der sozialen Netzwerke, wie die Menschen in der Ukraine den Krieg dokumentieren. Die Videos sind roh, verwackelt, ohne Kontext, meist läuft beliebige Pop-Musik im Hintergrund. Plötzlich nehmen Soldaten an Dance-Challenges teil, nehmen Familien im Luftschutzbunker Lip-Sync-Videos auf. Und so skurril es vielleicht klingen mag: Für die Ukrainer und Ukrainerinnen ist auch das eine neue Form des bürgerlichen Widerstands. Denn sie zeigen damit zum einen ihren Kampfgeist, ihr Durchhaltevermögen – und symbolisieren andererseits ihre Nähe zur westlichen Welt und deren digitalen Spielregeln.
Doch gab es seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine auch zahlreiche Bilder und Videos zu sehen, die Angst machen. Explodierende Panzer, Angriffe auf Zivilisten – warum schrecken uns solche Bilder nicht ab? Eine immer wieder zu lesende Theorie: Gerade junge Menschen sind durch Videospiele an derartige Szenen gewöhnt, erleben sie täuschend echt an den Konsolen oft selbst.
"Diese Narrative ist absoluter Blödsinn", sagt Marius Lauer. Der Digital-Experte und eSports-Moderator aus Magdeburg sagt: "In einem Game siehst du die Digitalisierung, aber was in Filmen oder Serien zum Teil zu sehen ist, das ist doch eine viel dichtere Darstellung von Brutalität, eine explizitere Darstellung von Gewalt. Dort wirkt das doch viel realer als in Games, echter geht es doch nicht. Und das kann sich jeder anschauen auf Netflix, Amazon und Co."
Ob die Menschen aufgrund dieser Gewaltdarstellungen, egal ob in Videospielen oder in Filmen, seiner Meinung nach empfänglicher sind für Kriegs-Content auf TikTok oder anderen Plattformen? "Natürlich sind die Leute abgehärtet, aber das hat vor allem etwas mit der generellen Entwicklung in den Medien zu tun", sagt Lauer. "Schlimme Sachen werden besser geklickt als andere, das ist leider so. Und oft geht es nur noch um Klicks, nur noch um die dramatischste oder brutalste Schlagzeile. Da haben also auch redaktionelle Nachrichtenportale ihren Anteil dran."
Am Ende seien vor allem die Plattformen wie TikTok in der Pflicht, den Content auf Echtheit zu kontrollieren und unangemessenen Content zu verbannen, so Lauer. Auch die Algorithmen müssten entsprechend angepasst werden. Das passiere bislang aber nur ungenügend.
Appell an TikTok-Influencer
Weltweit verzeichnet TikTok über eine Milliarde regelmäßig aktive Nutzer pro Monat. Die Macht der Plattform haben alle Beteiligten von Kriegsbeginn an erkannt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ermutigte in einer Rede am 24. Februar dieses Jahres auch Influencer auf TikTok dazu, dabei zu helfen, den Krieg zu stoppen.
Selenskyj selbst nutzt die ästhetischen Regeln auf den sozialen Netzwerken für seine eigene Darstellung nahezu in Perfektion: volksnah, oft mit Dreitagebart, das Handy meist selbst in der Hand, vor Ort. Auch in den USA erhielten TikTok-Größen ein Briefing bezüglich der amerikanischen Politik im Ukraine-Krieg, und zwar im Weißen Haus von Präsident Joe Biden.
Alles Zeichen, dass die Plattform längst mehr ist als ungeschickte Katzen und tanzende Teenager. Krieg bedeutet immer auch den Kampf um Bilder – und der findet gerade vor allem auf und nach den Spielregeln von TikTok statt.