35. Jahrestag Paradies oder vertane Chance? Perspektiven auf den Mauerfall
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09. November 2024, 03:30 Uhr
Der Mauerfall gab den Menschen damals große Hoffnungen auf ein Zusammenwachsen Europas und ein friedliches Miteinander. 35 Jahre danach begreifen ihn die einen als gelungen, für viele in der Musik- und Literaturszene wurden Träume Wirklichkeit. Doch es gibt in der Kulturszene auch kritische Stimmen, die den Moment der Wiedervereinigung als vertane Chance begreifen und noch heute geopolitische Nachwirkungen sehen.
- Die Autorin Natascha Wodin sieht in den Ereignissen nach dem Mauerfall eine vertane historische Chance.
- Jan Vogler, der Intendant der Dresdner Musikfestspiele, empfindet Deutschland 35 Jahre nach dem Mauerfall als wiedervereint.
- Der Dichter Durs Grünbein feiert im Blick zurück vor allem den Zugang zur Weltkultur, der durch den Mauerfall möglich wurde.
- Steffen Mensching, Intendat des Theaters Rudolstadt, erkennt in seiner Analyse zum Mauerfall die Schattenseiten im Paradies.
- Der Schriftsteller Marcel Beyer unterstreicht 35 Jahre nach dem Mauerfall die Erkenntnis, dass Demokratie ein Kampf ist.
- Für die Autorin Marlen Hobrack ist die ostdeutsche Identität vergleichbar mit migrantischen Erfahrungswelten.
Die Autorin Natascha Wodin bezeichnet den Prozess der Wiedervereinigung nach dem Mauerfall als vertane historische Chance. Ihre Hoffnung, dass Osten und Westen miteinander ins Gespräch kommen würden und es ein Abwägen der Vor- und Nachteile der beiden deutschen Gesellschaftsordnungen geben könnte, habe sich nicht erfüllt, stellt Wodin in einer persönlichen Analyse zum Mauerfall bei MDR KULTUR fest.
Wiedervereinigung als Weg zum Krieg?
Dabei geht sie sogar noch einen Schritt weiter: In diesem verpassten Moment sieht die Autorin die Grundlage für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: "Schon damals wurde wahrscheinlich der Boden für den Krieg bereitet, der uns jetzt alle bedroht und dessen fortschreitende Eskalation in einem Armageddon enden könnte", so die Überlegungen Wodins. Gleichzeitig gibt sie die Hoffnung nicht auf und wünscht sich, dass der 35. Jahrestag des Mauerfalls ein Tag längst fälliger Besinnung wird.
Ich wünschte, der 35. Jahrestag des Mauerfalls, dem wir so viel verdanken, könnte ein Tag längst fälliger Besinnung werden.
Wodin wurde 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren. Heute lebt sie in Berlin und Mecklenburg. Trotz ihrer düsteren Perspektive auf die Folgen von 1989/90 beschreibt sie ihre Zeit in Ostberlin nach dem Mauerfall als "glücklichste Zeit ihres Lebens" und aufregende "Lücke der Geschichte".
Geeintes Deutschland als gelungene Aktion
Der Intendant der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler blickt dagegen durchweg positiv zurück. "Ich würde sagen, Deutschland ist jetzt wirklich wiedervereint", so Vogler im MDR. Das Zusammenführen der beiden Teile Deutschlands sei ein großes Glück und insgesamt eine gelungene Aktion gewesen, findet der Dresdner Musiker. Er ist der Meinung, man sollte die Teilung heute nicht mehr zu sehr thematisieren. Osten und Westen würden, findet Vogler, immer etwas unterschiedlich bleiben – das sei auch schön so.
Das Zusammenführen der beiden Teile Deutschlands war ein sehr spannender Prozess und insgesamt denke ich eine sehr gelungene Aktion.
Zum Zeitpunkt des Mauerfalls befand sich Jan Vogler mit Ausreisegenehmigung in New York. Mit 25 Jahren sei die Wende für ihn zu einem sehr günstigen Zeitpunkt gekommen, erklärt Vogler. In seiner Reise- und damit musikalischen Tätigkeit sei er in der DDR abhängig von den Entscheidungen des Staates gewesen. Der Mauerfall brachte da Freiheit und berufliche Chancen für den Cellisten: "Plötzlich hatte ich alle Möglichkeiten. Sehr spannend, sehr aufregend! Und hat mein Leben extrem verändert." Nach der Wiedervereinigung habe er zwar auch Diskriminierung erfahren. Dass es als ostdeutscher Musiker schwerer war, sei für ihn aber extra Ansporn gewesen.
Endlich Reisen und Zugang zur Weltkultur
Die Freude über neue Möglichkeiten teilt Jan Vogler mit dem aus Dresden stammenden Dichter Durs Grünbein. Bereits vor dem Mauerfall wollte der Lyriker die DDR verlassen, träumte von einem Studium in Westberlin und dem Zugang zur Weltkultur. "Schon früh war der Plan: Ich muss nach Italien und mich da umsehen", erklärt Grünbein beim MDR. Das tat der gebürtige Sachse Grünbein auch, heute lebt er als erfolgreicher Schriftsteller in Rom. So fällt auch sein persönliches Fazit 35 Jahre nach dem Mauerfall durchaus positiv aus, er sei "nicht unzufrieden."
Durch Mauerfall ins Paradies?
Der geborene Ostberliner und Leiter des Theaters Rudolstadt Steffen Mensching erinnert sich zwar auch wohlwollend an den 9. November zurück, gleichzeitig schwingt in seiner Analyse bei MDR KULTUR das Wissen um die folgenden Geschehnisse mit: "Lächelnde Polizei. Das Paradies war Wirklichkeit geworden. Der Westen nährte alsdann die Illusion, individuelle Freiheit hätte automatisch demokratische Verhältnisse zur Folge."
Der "Ossi" habe, so Mensching, als man ihm blühende Landschaften versprach, die Demokratie gewählt. Jetzt riefen manche enttäuscht nach einem autoritären Ständestaat. Resigniert schlussfolgert Mensching analog zu Natascha Wodin, der Mauerfall sei ein Beispiel für vertane historische Chancen.
Der Ossi wählte, als man ihm blühende Landschaften versprach, die Demokratie, jetzt ruft er, in Teilen, von ihr enttäuscht, nach einem autoritären Ständestaat.
Demokratie ist ein Kampf
Für den Autor Marcel Beyer haben Mauerfall und Wiedervereinigung eine neue Erkenntnis für das Leben in Deutschland hervorgebracht: "Demokratie ist Kampf", stellt Beyer im Gespräch mit dem MDR fest. Der Westen werde länger brauchen, um das zu begreifen.
Dresden ist so etwas wie ein Brennpunkt.
Seine Heimat Dresden sieht er als eine Art Brennpunkt. Man könne hier Dinge beobachten, die anderswo erst später passierten. Der Schriftsteller ist in den Neunzigern aus dem Rheinland nach Dresden gekommen und seitdem dort geblieben.
35 Jahre nach dem Mauerfall sieht er viele positive Veränderungen: Menschen aus dem Kulturbereich könnten jetzt freier arbeiten als in der DDR, "niemand von denen würde auf die Idee kommen, dass sich nichts verändert hätte", sagt Beyer.
Auch für die jüngeren Generationen findet der Autor wertschätzende Worte. Er stellt fest, dass jüngere Menschen kommunikativer sind und einen starken Gemeinschaftssinn entwickeln: "Es wird gelacht auf der Straße, das gab es ja lange überhaupt nicht." Damit einher gehen laut Beyer auch bestimmte Zukunftsvorstellungen der Jugend, denen er durchaus wohlwollend begegne.
Ostdeutsch sein als Migrationserfahrung
Die Leipziger Autorin Marlen Hobrack stellt in ihrem Meinungsbeitrag bei MDR KULTUR fest, dass sie sich als 1986 Geborene lange nur als Europäerin, nicht als Ostdeutsche gesehen hat. Erst durch Zuschreibung anderer entdeckte sie diesen Teil ihrer Identität. Und sie fragt sich, was so ein untergegangener Staat für die Identität bedeutet.
Ist es nicht seltsam, dass Staaten untergehen können? Und was heißt das für die eigene Identität?
Angelehnt an die Migrationsforscherin Naika Foroutan sieht Hobrack Verbindungen in der Situation Ostdeutscher und der von Migranten. Hobrack verdeutlicht den Vergleich anhand konkreter Fragen: "Wer gehört dazu, wer nicht? Wer muss sich integrieren? Und wem verdeutlicht man, dass er keine Forderungen zu stellen hat, weil er sich doch glücklich schätzen darf, dass ihn die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen hat?"
Mit einer persönlichen Erfahrung veranschaulicht die Autorin, was sie meint: Hobracks Aachener Vermieterin habe sie als "widerspenstige Bürgerin der ehemaligen DDR" als anmaßend empfunden: "Was erlaubte ich mir denn? Wie kam ich denn darauf, Ansprüche stellen zu können?", fragt Hobrack.
Nur im gegenseitigen Kontakt ließen sich Vorurteile abbauen, argumentiert die Schriftstellerin. Zum Jahrestag des Mauerfalls wünscht sie sich daher mehr Interesse von Westdeutschen an ostdeutscher Kultur.
Quellen: MDR KULTUR (Katrin Wenzel), MDR Sachsen (Andreas Berger, Michael Ernst)
Redaktionelle Bearbeitung: hro ,bh
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 08. November 2024 | 07:10 Uhr