Jahresrückblick So wurde 2024 über Ost-Identität debattiert
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29. Dezember 2024, 04:00 Uhr
Das Thema Ost-Identität hat auch im 35. Jahr nach dem Mauerfall wieder viele Menschen beschäftigt. Dazu beigetragen haben allerdings auch die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Beides war für die Kultur-Szene – Literatur, Theater, Museen – Anlass, sich mit vielen kritischen Beiträgen zu Wort zu melden, Standpunkte zu überprüfen und Brücken zum Publikum zu bauen. Was und wie wurde 2024 über den Osten diskutiert? Ein Jahresrückblick.
- 35 Jahre nach dem Mauerfall gibt es eine anhaltende Literaturdebatte über die Frage, wer über die DDR schreiben darf – und wie.
- Kritische Selbstüberprüfung und künstlerische Wiederentdeckungen: Auch die Theater und Museen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben sich 2024 ausführlich mit mit DDR-Themen und dem Osten beschäftigt.
- Jubiläen und Todestage ostdeutscher Persönlichkeiten nahmen ebenfalls einen großen Raum ein.
Das Jahr 2024 begann bereits mit einem kleinen Jubiläum: Ein Jahr zuvor, im Januar 2023, war Dirk Oschmanns Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" erschienen und hatte eine neue Debatte um Ost-Identität und DDR-Geschichte ausgelöst. Auch im Folgejahr sollte der Literaturwissenschaftler einer der Protagonisten dieser Debatte bleiben, auch durch den Widerspruch, den er auslöste.
Dabei ging es streng genommen nicht um eine, sondern um mehrere sich berührende Debatten. Die Perspektiven, die sich 2024 auffächerten, waren jedenfalls vielschichtig. Und angesichts der Wahlerfolge der AfD wurde immer öfter der Bogen zu aktuellen politischen Ereignissen gespannt.
Literaturdebatte: Wer darf über den Osten schreiben?
Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stand eine große Literaturdebatte. Belletristik und Sachbücher gehörten gleichermaßen dazu, auch wenn einige sich gar nicht so gerne auf "den Osten" reduzieren lassen wollten, wie die Leipziger Autorin Ruth Maria Thomas nach dem Erscheinen ihres Debüt-Romanes "Die schönste Version". Die Frage, ob ostdeutsche Autorinnen und Autorin auch nicht über den Osten schreiben durften, spielte genau so eine Rolle, wie die Frage, wer über den Osten schreiben durfte. Aufgeworfen wurde sie unter anderem in der Literaturzeitschrift "Neue Rundschau" durch die Dresdner Stadtschreiberin Charlotte Gneuß, die selbst in Ludwigsburg aufwuchs, aber ostdeutsche Wurzeln hat. Es wurde also zunehmend komplex.
Mehr ostdeutsche und mehr junge Autorinnen und Autoren
Rein äußerlich fiel zweierlei auf. Zum einen war es die große Präsenz von Autorinnen und Autoren mit einem Bezug zu Ostdeutschland. Das zeigte sich unter anderem in der Longlist und der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zum anderen fiel auf, dass in den Debatten nicht bloß "alte Hasen" des Literaturbetriebs wie Ingo Schulze, Jenny Erpenbeck oder Clemens Meyer mitmischten. Sondern auch eine neue Generation präsent war, die mit zeitlichem Abstand auf ostdeutsche Geschichte und Identität blickte.
Dazu zählt neben den Autorinnen Gneuß und Thomas der in Görlitz lebende Lukas Rietzschel. Nach den erfolgreichen Romanen "Mit der Faust in die Welt schlagen" und "Raumfahrer" war er 2024 auch als Kommentaror der Landtagswahlen in Sachsen gefragt. Die Ergebnisse erklärte er unter anderem mit infrastrukturellen Versäumnissen in der Politik, aber auch mit fehlendem bürgerschaftlichen Engagement. Für Charlotte Gneuß ("Gittersee") spielte wiederum eine Rolle, dass das "gestörte" kollektive Gedächtnis drohe, in einen politischen Kampf um die historische Deutungshoheit umzuschlagen. Womit sie inhaltlich an Oschmann anknüpft – der die Deutungshoheit eben im Westen sieht.
Wer hat die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte?
Klar war nach den Landagswahlen in Sachsen und Thüringen: Es war der neuen Rechten – ebenso wie dem BSW – gelungen, die DDR-Geschichte politisch zu instrumentalisieren. Ein Moment des Schocks auch in der Kulturszene, die den Einfluss der AfD auf die Kulturpolitik inzwischen deutlich zu spüren bekam. Doch mit dem 35. Jubiläum des Mauerfalls konnte man feststellen, dass dieses historische Ereignis auch unter Künstlern und Kulturschaffenden nach wie vor ganz unterschiedlich bewertet wurde: Während einige die Wiedervereinigung als vollendet ansahen, wie der Intendant der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler, wiesen anderen auf die verpassten Chancen hin. Und die Autorin Natascha Wodin ging sogar so weit, darin den Grundstein für Russlands Krieg gegen die Ukraine zu sehen.
Andererseits gab es 2024 auch mehrere gelungene Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch über die Frage, ob es sich bei Oschmanns Thesen um "woke Identitätspolitik" inklusive Opferstatus oder um einen Akt der Selbstermächtigung handele. Nach "Der Osten: eine westdeutsche Erfingung" fanden 2024 weitere Sachbücher zum Thema große Aufmerksamkeit. Darunter ein neues Buch von Ines Geipel – "Fabelland" – in dem sie anregte, die umkämpfte ostdeutsche Geschichte doch erst mal als Teil der eigenen Identität anzuerkennen, gerade mit ihren Brüchen. Während der Soziologe Steffen Mau in seinem neuen Buch "Ungleich vereint" ein Plädoyer für Diversität und gegenseitiges Anerkennen hielt.
Oschmann versus Kowalczuk
Die meiste Aufmerksamkeit erhielt aber wohl der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, als er den Ostdeutschen einen "Freiheitsschock" sowie autoritäre Tendenzen attestierte und an die Eigenverantwortung appellierte. Sein wütender Tonfall erinnerte an Oschmann, so dass Kowalczuk in der Debatte sofort zum Anti-Oschmann stilisiert wurde. Im August gelang es dann dem PEN Berlin, im Rahmen der überraschend erfolgreichen Veranstaltungsreihe "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen", die beiden zusammen und mit dem Publikum ins Gespräch zu bringen. Es sollte nicht die letzte Begegnung bleiben.
Theater zwischen Vergangenheitsbewältigung und aktueller Politik
Das Erbe der DDR und wie man auch ein junges Publikum dafür interessieren kann, spielte 2024 eine wichtige Rolle auf den Theaterbühnen. Mit Stücken, die junge Hauptfiguren ins Zentrum stellten, wie die Bühnenfassung des Gneuß-Romans "Gittersee" am Berliner Ensemble. Oder ein Leipziger Stadtrundgang auf den Spuren des Kinderbuchs "Fritzi war dabei".
Auch Kindheitstraumata aus der DDR (Kinderkrippen, Leistungssport) wurden neu erzählt, so in Dresden von Ulrike Lykke Langer im autobiografischen Stück "Winterkind". Während in Zittau das interiew-basierte Rietzschel-Stück "Das Beispielhafte Leben des Samuel W." über einen fiktiven AfD-Politiker direkt die Lokalpolitik auf die Bühne brachte.
Kritische Selbstüberprüfung der Museen
Auch an vielen Museen wurde DDR-Geschichte neu bewertet beziehungsweise um weitere Perspektiven ergänzt. Der 35. Jahrestag des Mauerfalls brachte einige Häuser dazu, ihre Dauerausstellungen zu überholen, so die Stasi-Gedenkstätte in Dresden oder das Grenzmuseum Schiffersgrund, das ein bis dahin kaum beachtetes Phänomen ans Licht brachte: den westdeutschen Grenztourismus. Das Hygiene-Museum Dresden nahm im März seine eigene Geschichte kritisch in den Blick. Das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig wiederum konnte im September sein 25. Jubiläum feiern und Bilanz ziehen.
Wiederentdeckte DDR-Kunst
Ebenso wurde die DDR-Kunst neu in den Blick genommen, vor allem die unbekannten Künstler. Den Anfang machte gleich im Januar die Chemnitzer Kunst-Schau "Die gespaltene Generation". Anschließend zeigte im März das MdbK Leipzig den Einfluss italienischer Kunst auf Werner Tübke. Die Wismut-Stiftung erhielt im Thüringischen Ronneburg ein verschollen geglaubtes DDR-Wandbild zurück.
Und auch in Plauen wurde ein imposantes DDR-Wandbild im Rathaus freigelegt. Beim Festival "Osten" in Wolfen erkundete ein Kunstparcours die Chancen einer Region im Umbruch. Und wiederentdeckte Garagen-Landschaften in Chemnitz sowie ein wiederentdecktes Modell der TU Freiberg vom Palast der Republik gaben neue Blicke auf DDR-Architekur frei.
Todestage und Jubiläen: wichtige Stimmen des Ostens
Neben dem historischen Jubiläum "35 Jahre Mauerfall" boten auch Geburtstage und Todestage Anlass, um über Ost-Identität und- Geschichte zu reden. Dazu zählten die 80. Geburtstage des Schriftstellers Christoph Hein (8. April) und des Defa-Regisseurs Volker Koepp (22. Juni) sowie der 85. des Dichters und Dramatikers Volker Braun (7. März).
Mit dem Schauspieler und ehemaligen Intendanten Peter Sodann (Todestag am 5. April) und dem Theologen und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer (Todestag am 9. September) verstummten wiederum zwei wichtige Stimmen des Ostens.
Quelle: MDR KULTUR, redaktionelle Bearbeitung: lm
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 11. November 2024 | 13:10 Uhr