Gespräch Charlotte Gneuß: Warum das kollektive Gedächtnis an die DDR gestört ist
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18. September 2024, 15:42 Uhr
Im Herbst 2023 löste Charlotte Gneuß mit ihrem Debütroman "Gittersee" eine Debatte aus. Es ging um die Deutungshoheit über die Geschichte der DDR, die die Schriftstellerin nur aus Erzählungen kennt. Sie wurde 1992 in Westdeutschland geboren – als Kind zweier Geflüchteter aus der DDR. Auch ein Jahr später lässt Charlotte Gneuß das Thema nicht los. Im Gespräch mit MDR KULTUR erläutert die aktuelle Stadtschreiberin von Dresden, warum es verschiedene Sichtweisen auf die DDR gibt – und ab wann eine zu selektive Deutung zur Gefahr wird.
- Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß erkennt beim Erinnern an die DDR ein Spektrum von der Schilderung des DDR-Unrechts bis zu den positiven Aspekten.
- Bei manchen Menschen sieht sie einen Widerstand gegen DDR-Erzählungen "von oben".
- Ihr Erstlingswerk "Gittersee" löste 2023 eine Debatte über das Schreiben über die DDR-Vergangenheit aus.
Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß sieht einen wachsenden Konflikt, wenn es um das Erinnern an die DDR geht. Immer mehr Menschen, die in der DDR gelebt haben, störten sich an einer "Reduktion der Erinnerung" auf die "Extremsituationen der Diktatur", sagte Gneuß im Gespräch mit MDR KULTUR.
Menschen kritisieren Fokus auf SED-Unrecht
Zwar werde des SED-Unrechts und der Unterdrückung Oppositioneller durch die Staatssicherheit gedacht, aber auch auf das alltägliche Leben verwiesen. Gneuß sagte: "Da gibt es jetzt, glaube ich, mehr und mehr Menschen, die sagen: Nein, warte mal, aber das muss man auch erzählen. Was ist mit der Frauenemanzipation? Was ist eigentlich mit den Polikliniken? Was ist mit den Kinderkrippen?"
Charlotte Gneuß im Gespräch |
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Einen Grund dafür sieht die Autorin in der Erinnerungsarbeit: Die gehe vor allem von ehemaligen Dissidenten aus – "völlig zu Recht", wie Gneuß betonte. Die historische Darstellung in Gedenkstätten, an Gedenktagen, aber auch im Schulunterricht auf der einen Seite und die individuellen Erinnerungen der ehemaligen DDR-Bürger auf der anderen Seite würden so auseinanderklaffen. "So ist das kollektive Gedächtnis an die DDR, glaube ich, ein gestörtes Gedächtnis, also ein nicht einheitliches Gedächtnis", so Gneuß.
Widerstand gegen Erzählung von "da oben"
Eine wachsende Zahl von Menschen widerspreche dieser Erzählung. "Das ist ja konstituierend, auch für das Selbstbild, für die Identität von Personen", sagte Gneuß MDR KULTUR. Wenn man dazu in den Widerstand gehe, gehe man eben auch in den Widerstand gegen die Erzählungen von "da oben", die die anderen über das eigene Leben gemacht hätten.
Zwar sei der "Kampf um die Deutungshoheit" normal und eine gesellschaftliche Debatte könne durchaus zu einem differenzierteren Geschichtsbild führen. Aber gleichzeitig bestehe auch die Gefahr, dass die Opfer der Diktatur nicht mehr angemessen berücksichtigt werden.
Gneuß gab zudem zu bedenken, dass solche "erinnerungspolitischen Kämpfe", also das Aushandeln des Gedenkens an historische Epochen, auch von politischen Akteuren genutzt würden. Die Linke wolle dann die schönen Seiten des Sozialismus abgreifen und die Rechte finde es auch nicht so schlimm, wenn da oben ein starkes Regime herrscht. "Es geht nie nur um die Vergangenheit, es geht immer auch um die Gegenwart", betonte Gneuß.
Es geht nie nur um die Vergangenheit, es geht immer auch um die Gegenwart.
Debatte zur Deutungshoheit um "Gittersee"
2023 veröffentlichte die Schriftstellerin ihren Debütroman "Gittersee". Ein Buch, das im Dresden der 1970er-Jahre spielt und die Geschichte einer zerrütteten Familie erzählt, von Verrat und Verlust, sowie der Frage nachgeht, was manche Menschen in die Arme der Staatssicherheit getrieben hat.
"Am Anfang gab es den Jürgen-Ponto-Preis und dann stand das Buch auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich habe mich extrem gefreut. Es gab sehr gute Kritiken“, erinnert sich Gneuß ein Jahr später. Im Publikum und auch in der Fachwelt findet das Werk zunächst großen Anklang.
Aber die Deutung der DDR-Vergangenheit ist auch ein umkämpftes Feld. Schon vor der Veröffentlichung sorgte das Buch für eine Kontroverse in der Literaturwelt. Schriftstellerkollege Ingo Schulze stellte auf Bitten des S. Fischer-Verlags eine Liste historischer Fehler im Manuskript zusammen.
Das Projekt geriet in die Kritik. Wie viel Fiktion darf sein in einem Buch über die jüngere Zeitgeschichte? Andere warfen die Frage auf, wer eigentlich über die ostdeutsche Geschichte schreiben darf – und wer nicht? Gneuß wurde als Kind von DDR-Flüchtlingen 1992 in Ludwigsburg geboren, ihr Buch spielt 1976 in Dresden-Gittersee. Die Debatte habe sie damals schockiert, sagte Gneuß MDR KULTUR: "Irgendwie hat sich in dieser Situation aber offenbart, dass es da auch um Macht geht, dass es da um Geld geht."
Quelle: MDR KULTUR (Gespräch von Charlotte Gneuß mit Ben Hänchen)
Redaktionelle Bearbeitung: tis, op
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 13. September 2024 | 18:05 Uhr