Bosnien und Herzegowina Sarajevo: Abschied von der Tatra-Straßenbahn
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19. Juli 2024, 17:44 Uhr
Seit März 2024 ist in Sarajevo eine der modernsten Straßenbahnen vom Typ Stadler Rail im Einsatz. Obwohl von der Bevölkerung sehnsüchtig erwartet, gibt es immer noch Liebhaber und Nostalgiker der Vorgängerin, der Tatra-Bahn aus Prag, die seit 40 Jahren das Stadtbild prägt. Straßenbahnen sind in Sarajevo ein Stück Identität – aus historischen Gründen.
"Ohne den Klang der Straßenbahn ist Sarajevo tot", sagt Indira Husejnović lächelnd, während sie die neue Straßenbahn der Marke Stadler Rail gekonnt aus dem Depot lenkt. Seit zehn Jahren ist sie eine von zwölf Straßenbahnfahrerinnen in der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina. Frauen sitzen in Sarajevo seit 1944 am Steuer, als viele männliche Kollegen während des Zweiten Weltkrieges einrücken mussten, von denen einige nicht mehr zurückkehrten.
Sie manövriert das neue Modell in auffälligem Gelb an den alten, zum Teil stark ramponierten Straßenbahnen vorbei, die in den vergangenen 40 Jahren den öffentlichen Nahverkehr prägten. So verbeult und vollgeschmiert wie sie sind, kann man sich kaum vorstellen, dass einige dieser Modelle heute noch Fahrgäste befördern dürfen. Und doch tun sie es! Die meisten dieser Straßenbahnen sind die guten alten Tatra-Bahnen, hergestellt von den Prager ČKD-Tatra-Werken, die auch in Ostdeutschland, etwa in Magdeburg, Gera, Görlitz und Plauen, gelegentlich noch zu sehen sind. Und wie in Ostdeutschland, sind sie auch in Sarajevo Kult.
Eines der ältesten Straßenbahn-Netze Europas
Keine andere Stadt in Europa ist so sehr mit der Straßenbahn verbunden wie Sarajevo. Das liegt auch daran, dass sie hier bereits seit 1885 fährt. Damals noch von Pferden gezogen, seit 1895 elektrisch. Die Bürger Sarajevos brüsten sich gerne damit, dass ihre Stadt die erste in Europa mit einer elektrischen Straßenbahn gewesen sein soll. "Das stimmt nicht ganz", sagt Avdo Vatrić lachend. Der Straßenbahningenieur arbeitet seit 39 Jahren bei den Verkehrsbetrieben der Stadt, von 2013 bis 2019 war er sogar Geschäftsführer. Er ist ein wandelndes Lexikon und kann viel über die Geschichte der Straßenbahn in Sarajevo erzählen, über die er zwei Bücher geschrieben hat. Nächstes Jahr geht er in Pension. Auch mit einem weinenden Auge. "Wenn mich jemand fragt, was die Straßenbahn für mich bedeutet, antworte ich, dass unsere Straßenbahn eine Seele hat", sagt er.
Er ist bereits die dritte Generation Vatrić bei den Verkehrsbetrieben. Ab 1935 arbeitete der Onkel seines Vaters hier, dann sein Vater und jetzt er selbst: "Dieser Betrieb und die Straßenbahnen generell haben einen besonderen Platz in meinem Herzen. Schon als Kind hat mich mein Vater hierher mitgenommen. Die Gerüche in der Werkstatt und die Geräusche haben mich geprägt. Von da an wollte ich hier arbeiten."
Vatrić geht von seinem Büro zum Depot. Gegenüber des Büroeingangs befindet sich ein kleiner Park auf dem Gelände, dem man die Jahre ansieht. Es ist, als wäre man in die 1970er Jahre zurückgereist. An den umliegenden Gebäuden im sozialistischen Stil hat der Zahn der Zeit genagt. Und doch spürt man hier Leben und Leidenschaft. Zahlreiche Obstbäume säumen den Weg. "Einer unserer Mitarbeiter pflanzte sie vor einigen Jahren und hegt und pflegt sie bis heute", erzählt Vatrić schmunzelnd.
Und dann ist da noch ein Mahnmal, wie ein Grabstein. "Hier stehen die Namen unserer Mitarbeiter, die während des Krieges von 1992 bis 1995 gestorben sind", erklärt Vatrić und geht nachdenklich weiter. Sein Gesicht hellt sich erst wieder auf, als er die Nachbauten der ersten Straßenbahnen auf dem Gelände sieht. "Wir waren damals die siebte Stadt in Europa, die eine elektrische Straßenbahn bekam. Schon zwei Jahre, bevor sie in Wien verkehrte", sagt er und läuft auf die Repliken zu: Modell 1885 und 1895 – beide in einem schönen Dunkelgrün.
Der "Grüne Drache" von Sarajevo
"Die ersten Straßenbahnen waren eine Attraktion und wurden Grüner Drache genannt. Viele Künstler ließen sich von ihnen inspirieren. Der kroatische Musiker Šandor Bosiljevac (1860-1918) komponierte sogar eine schnelle Polka, die er 'Sarajevo Tramvaj' nannte", erzählt Vatrić. Er blickt auf das neueste Modell, das gerade langsam an ihm vorbeifährt und das Depot verlässt. "Ich hätte das neue Modell gerne in diesem historischen Grün statt in Gelb gehabt. Einfach, um den Ursprung wieder aufzufangen und den Grünen Drachen wieder zum Leben zu erwecken", sagt er.
Vatrić schaut sich das Satra-Modell an, welches gegenüber parkt. Die Abkürzung steht für Sarajevo Tramvaj. Es sind umgebaute Tatra-Modelle: "Sie haben keine Klimaanlage und sind nicht niedrig genug. Deshalb werden sie nur so lange eingesetzt, bis die neuen Straßenbahnen kommen. Nicht umgebaute Tatras gibt es nur noch wenige. Die meisten sind unbrauchbar, weil es keine Ersatzteile mehr gibt." In Sarajevo fuhr die erste "Straßenbahn aus Prag", wie die Tageszeitungen 1967 titelten. Für damalige Verhältnisse modern und 20 Meter lang, konnte sie bis zu 220 Fahrgäste befördern. Bis zum Anfang des Balkankriegs waren 65 Tatra K-2 im Einsatz.
Bosnienkrieg unterbricht Straßenbahnbetrieb
Am 2. Mai 1992 musste der Verkehr eingestellt werden. Zum ersten Mal in der 107-jährigen Geschichte. Grund dafür war der schwere Beschuss der Stadt durch die Serben. Die Verkehrsbetriebe waren aber auch während des Krieges aktiv, auf eine andere Art und Weise. 1992 wurde das Projekt "Eine Runde für Sarajevo" ins Leben gerufen. Ziel war es, die öffentlichen Verkehrsbetriebe weltweit dazu zu bewegen, den Erlös einer Fahrt mit ihren öffentlichen Verkehrsmitteln für Sarajevo zu spenden, damit die öffentliche Infrastruktur wiederaufgebaut werden konnte.
Die Bittbriefe wurden an 4.500 Städte verschickt. Die Solidarität war sehr groß. Allein die Niederlande haben damals mehr als 90.000 Euro gespendet. Brüssel, Graz, Berlin – alle haben mitgemacht und für Sarajevo sogar noch ein paar Runden mehr gedreht. Bereits 1993 wurde unter dem Schutz der UNPROFOR mit der Instandsetzung des Netzes und der Straßenbahnen begonnen.
Am 14. April 1994 nahmen die Tatra-Straßenbahnen ihren Betrieb in der Hauptstadt wieder auf, immer noch unter dem Schutz der UNPROFOR. Mit dem Start der Bahn dachten die Bewohner auch, dass der Krieg endlich vorbei sei. Doch der dauerte bis 1995. "Für uns endete der Krieg sogar erst 1996, als am 9. Januar eine von Serben abgefeuerte Granate unsere Tatra-Straßenbahn traf und eine Zivilistin tötete", erzählt Senad Mujagić, Direktor der Verkehrsbetriebe.
Mujagić arbeitet seit 29 Jahren für das Unternehmen. Für ihn ist die Tram mehr als nur ein Transportmittel: "Unsere Tram ist ein Symbol des Widerstands, denn unsere Fahrerinnen und Fahrer sind auch unter Beschuss gefahren, dem Feind zum Trotz! Als die erste Straßenbahn nach dem Krieg wieder fuhr und man das vertraute Klingeln hörte, haben die Menschen in der Stadt vor Freude geweint. Da wusste ich, dass Leben in die Stadt zurückgekehrt war!"
Veraltet und gefährlich – die Tram gerät in Verruf
Die kriegsbedingten Schäden im öffentlichen Nahverkehr beliefen sich auf rund sieben Millionen Euro. 1998 waren die Instandsetzungsarbeiten abgeschlossen. Doch für neue Straßenbahnen fehlte das Geld. Außerdem waren die Menschen nach dem Krieg sehr arm und konnten sich nicht einmal ein Straßenbahnticket leisten. Sehr oft sah man in dieser Zeit, wie sich Jugendliche und junge Ehepaare an den hintersten Waggon klammerten, um in den Genuss einer "kostenlosen" Fahrt zu kommen. Die Gefahr, während der Fahrt herunterzufallen, war gering, da die Straßenbahn aufgrund des schlechten Zustandes der Schienen mit etwa 15 km/h sehr langsam fuhr.
In den folgenden Jahren bekam die Straßenbahn einen schlechten Ruf. Die guten Modelle von einst, zu denen auch die Tatras gehörten, waren inzwischen in einem sehr schlechten Zustand – auch das eine Folge des Krieges. Obendrein kam das Straßenbahnfahren in den Ruf, gefährlich zu sein, nachdem der 16-jährige Denis Mrnjavić 2008 von seinen Mitschülern in einer fahrenden Bahn vor aller Augen erstochen wurde.
Neue Straßenbahn-Ära in Sarajevo
Im März 2024 änderte sich alles mit der Ankunft der Schweizer Stadler Rail, einer der modernsten Straßenbahnen der Welt. Bereits 2022 wurden 25 Stück bestellt. Die Zeit bis zur Ankunft wurde genutzt, um das Schienennetz und die Haltestellen zu modernisieren. Die neue Bahn wird von der Bevölkerung sehr gut angenommen. Als Formel-1-Fahrer David Coulthard bei seinem Besuch in Sarajevo auf Einladung des Verkehrsministeriums eine Runde mit der neuen Bahn drehte, nahm dieser clevere Schachzug auch den letzten Skeptikern den Grund, die Straßenbahn zu meiden.
Manche Bürger warten an der Haltestelle sogar lieber auf die nächste Bahn, wenn gerade nicht das neueste Modell vorfährt. Bis alle neuen Straßenbahnen geliefert werden, sind auch noch Tatra-Bahnen im Einsatz. 15 der 25 bestellten modernen Bahnen sind bislang eingetroffen. Direktor Mujagić freut sich auf das neue Straßenbahnzeitalter: "Ich finde es toll, wenn ich Touristen sehe, die mit unserer Straßenbahn fahren, egal ob mit der alten oder neuen! Denn die Strassenbahn von Sarajevo ist wie die Metro für andere Städte!"
Alte Garde trauert Tatra-Bahnen nach
Doch was hält Fahrerin Indira von der neuen Straßenbahn? "Es ist ein großer Unterschied, ob ich eine Tatra oder eine Stadler Rail fahre. Die neue Straßenbahn ist nicht nur für die Passagiere viel komfortabler, sondern auch für uns Fahrer, weil sie viel einfacher zu bedienen ist. Natürlich sind unsere Tatras auch gut. Aber neu ist eben neu."
Ihr Kollege Sabit Muratović, der seit 23 Jahren Straßenbahn fährt, ist da schon etwas nostalgischer: "Die Neue fährt sich natürlich leichter. Aber es fällt mir schwer, mich von den alten Modellen zu trennen. Ich hänge an ihnen, weil ich mit ihnen das Fahren gelernt habe."
Auch der Ingenieur Vatrić hängt an den alten Modellen: "Wir hatten die Idee, ein Museum für unsere Straßenbahnen und ihre Geschichte zu bauen. Aber wir haben noch keine Antwort von der Stadt bekommen. Auch wenn ich im nächsten Jahr in den Ruhestand gehe, hoffe ich doch, dass ich die Eröffnung des Straßenbahnmuseums noch erleben werde."
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 03. August 2024 | 07:17 Uhr