VW Golf II Cabrio 1 min
Bildrechte: Mirella Sidro/MDR

Automobilgeschichte Warum man den Ur-Golf in Bosnien-Herzegowina so liebt

11. April 2024, 05:58 Uhr

In diesem Jahr feiert der VW Golf sein 50-jähriges Jubiläum. Während der Golf I und II bei uns in Deutschland eher auf Golf-Liebhabertreffen zu sehen sind, prägen die ersten beiden Modelle des Autoklassikers heute noch das Straßenbild in Bosnien-Herzegowina. In den 1970er- und 1980er-Jahren waren sie Statussymbole – heute genießen sie Kultstatus und sind manchen Fahrern sogar treue Lebensgefährten geworden.

Mirella Sidro
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Wer nach Bosnien-Herzegowina reist, dem fällt sofort auf: Golf I und II von Volkswagen dominieren das Straßenbild. Die Bandbreite ist riesig: vom gepflegten Modell über individuell gestaltete Exemplare bis hin zu verbeulten Karosserien. Sie sind in der Großstadt, vor allem aber auf dem Land anzutreffen, denn sie stehen im Ruf, jedes Terrain zu bewältigen.

"Ich habe meinen Golf I Cabriolet, Baujahr 1982, vor 18 Jahren gekauft", schwärmt Šeila. Sie fährt das ihrer Meinung nach attraktivste Modell, das einen hohen Wiedererkennungswert hat und sich so von der automobilen Masse abhebt. Umgerechnet 1.300 Euro hat sie damals für ihren 1,8-Liter-Benziner bezahlt. Inzwischen hat sie das Dreifache des Kaufpreises in das Fahrzeug investiert.

Golf-I-Fahrerin Seila aus Sarajevo
Šeila mit ihrem Golf I Cabrio Bildrechte: Mirella Sidro / MDR

Volkswagen Golf als "Nationalauto"

Die Bosnier und Herzegowiner lieben die ersten beiden Modelle des VW Golf. Sie gelten als langlebig, günstig und sparsam im Unterhalt. Doch es gibt noch einen weiteren Grund: Von 1976 bis zum Beginn des Bosnienkrieges 1992 wurden Golf I und II (neben Käfer, Jetta und Caddy) in Vogošća, einem Stadtteil von Sarajevo, produziert. Die Volkswagen AG gründete 1972 zusammen mit vier lokalen Rüstungsfirmen das Unternehmen TAS – "Tvornica Automobila Sarajevo", zu Deutsch "Automobilwerk Sarajevo".

Auch Šeilas Familie lebte in Vogošća. "Mein Vater, mein Großvater, meine Tante und mein Onkel haben vor dem Krieg bei TAS gearbeitet. Mein Großvater war von Anfang an ein treuer Käufer von VW-Fahrzeugen 'made in Sarajevo'. Man erkannte sie an der Aufschrift TAS auf dem Kühlergrill neben dem VW-Logo. Insgesamt besaß er sieben Neufahrzeuge. Sein letztes Modell, der Golf II, Baujahr 1992, befindet sich immer noch in unserem Besitz und ist in einem sehr guten Zustand. Fahrzeuge von der Qualität des Golf I und II werden nicht mehr produziert", erzählt die 42-Jährige, die heute als Vertriebsberaterin arbeitet.

Der VW Golf hat für meine Familie und viele andere in Bosnien und Herzegowina eine ganze Ära geprägt – eine Legende, die Emotionen in uns weckt.

Golfbesitzerin Šeila aus Sarajewo

Golf-I-Fahrerin Seila aus Sarajevo
Šeila aus Sarajewo hegt und pflegt ihren VW Golf Baujahr 1982. Bildrechte: Mirella Sidro / MDR

Als sie zwölf Jahre alt war, brachte ihr der Vater das Fahren bei – natürlich in einem Golf. "Eines der schönsten Erlebnisse mit meinem Golf war, als ich meine Schwägerin, die in den Wehen lag, um drei Uhr morgens in die Geburtsklinik gefahren habe. Das war eine Fahrt voller Aufregung und unvergesslicher Momente. Wenn mein Golf sprechen könnte, würde er viele tolle Geschichten erzählen, die wir zusammen erlebt haben", lacht Šeila. Für sie ist ihr Golf eine Erinnerung an eine schöne Kindheit und an ihre Familie: "Die meisten meiner Verwandten leben nicht mehr. Der VW Golf hat für meine Familie und viele andere in Bosnien und Herzegowina eine ganze Ära geprägt – eine Legende, die Emotionen in uns weckt." Fotos aus dieser Ära hat sie leider nicht mehr: "Die sind alle im Bosnienkrieg verbrannt. Als wir flüchteten, mussten wir sie zurücklassen."

Vorstand und Mitarbeiter feiern im Oktober 1989 in Sarajevo den 300000. Golf, der im jugoslawischen VW-Werk vom Band läuft
Ein Bild aus "guten alten Zeiten": Die Volkswagen-Fabrik in Sarajevo-Vogošća feiert 1989 die Fertigstellung des 300.000-VW-Golf. Bildrechte: picture-alliance/dpa/Wolfgang Weihs

Wie ein Golf den Bosnienkrieg überstand

Im Vergleich zu vielen anderen Politikern in Bosnien-Herzegowina, die durch den Privatbesitz von PS-starken und teuren Fahrzeugen auffallen und sich einen regelrechten Wettstreit darum liefern, wer den größten und stärksten Wagen fährt, besitzt Srdjan Mandić, Bürgermeister der Stadtgemeinde Sarajevo-Zentrum, nur seinen kirschroten VW Golf I, Baujahr 1982: "Ich erinnere mich noch genau daran, wie mein Vater diesen Golf nach Hause brachte. Es war der 23. April 1982, ein verregneter Dienstag. Ich war damals zehn Jahre alt und sofort in das Auto verliebt. Rund 19.000 DM hat er für das damals neue Modell bezahlt. Es ist ein Golf GL, 1.400 Kubikzentimeter mit 60 PS", erzählt er. Noch bevor Mandić seinen Führerschein machen konnte, brachte ihm sein Vater auf einer Lichtung am Berg Trebević oberhalb von Sarajevo das Fahren bei. Anfang der 1990er-Jahre machte er den Führerschein: "Ich war natürlich einer der coolsten Typen hinter dem Steuer eines Golfs", lacht Mandić.

Srdjan Mandić, Bürgermeister der Gemeinde Sarajevo-Zentrum, in/mit seinem VW Golf I
Srdjan Mandić, Bürgermeister der Stadtgemeinde Sarajevo-Zentrum, in seinen VW Golf I von 1982. Bildrechte: Srdjan Mandić / MDR

Am 5. April 1992 begann der Bosnienkrieg und die Belagerung der Stadt Sarajevo, die mit 1.425 Tagen die längste des 20. Jahrhunderts war. "Am Tag des Kriegsbeginns hatten wir es irgendwie geschafft, den Tank mit Benzin zu füllen. Dann stellten wir ihn in unserer Garage ab", erinnert sich Mandić. Während des Krieges beschlagnahmte die Armee private Autos. Da sein Golf aber ein Benziner war und die Armee Diesel bevorzugte, blieb er verschont: "Mein Nachbar und ich hatten trotzdem sicherheitshalber die Reifen abmontiert und die Scheiben entfernt, damit uns das Auto nicht weggenommen wird", erinnert sich Mandić.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie mein Vater diesen Golf nach Hause brachte. Es war der 23. April 1982, ein verregneter Dienstag.

Golfbesitzer Srdjan Mandić, Bürgermeister der Stadtgemeinde Sarajevo-Zentrum

Natürlich ging es im Krieg in erster Linie ums Überleben. "Trotzdem bin ich immer wieder zur Garage gelaufen, um zu sehen, ob mein Golf noch da ist. In all dem Wahnsinn, den wir erlebten, hätte mein Herz geblutet, wenn er nicht mehr da gewesen wäre", erzählt Mandić. Während des Krieges wurde der Golf zur Legende und zum Symbol des Widerstands, denn die Diesel-Modelle fuhren auch mit Speise- und Heizöl und retteten so vielen Menschen das Leben, die rechtzeitig in Krankenhäusern behandelt werden konnten.

Ein Einwohner Sarajvos rennt am 18.12.1994 mit seinem kleinen Soihn an der Hand in Sicherheit.
Ein ikonisches Bild: Während der 1.425 Tage währenden Belagerung von Sarajevo mussten Einwohner oft Rennen, um nicht von Scharfschützen getroffen zu werden. Bildrechte: picture alliance / dpa | epa Ch.Simon

Ein Volkswagen mit sentimentalem Wert

Im November 1995 war der Krieg zu Ende: "Ich erinnere mich an 1996, als meine Freunde und ich den Golf wieder mit Reifen und Fensterscheiben versahen. Vier Jahre lang stand das Auto da und wurde nicht bewegt. Wir fragten uns, ob er wieder anspringen würde", berichtet Mandić. Nach einigen Versuchen sprang das Auto tatsächlich wieder an: "Das Geräusch des aufheulenden Motors war für mich die Bestätigung, dass der Krieg endlich vorbei war."

Seine erste Urlaubsreise führte ihn mit seiner Schwester ans Meer nach Kroatien. Mandić wird nachdenklich: "Es war das erste Mal, dass ich nach dem Krieg die Stadt verließ. Während des Krieges hatte man das Gefühl, dass er nie enden wird und dass man die Stadt nie wieder verlassen wird. Ich werde nie vergessen, wie aufgeregt ich war, als ich zum ersten Mal in den Urlaub fuhr. Als ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder das Meer sah, blieb ich mit meinem geliebten Golf stehen und schaute es einfach nur an."

Inzwischen muss der Bürgermeister von Sarajevo-Zentrum gelegentlich mit seinem Dienstwagen fahren. Privat hat er sich aber nie ein anderes Auto zugelegt – zu sehr hängt sein Herz an dem kirschroten Golf. Als seine Eltern starben, ging es darum, den Besitz zwischen ihm und seiner Schwester aufzuteilen. Alles wurde geteilt: "Aber ich habe sie gebeten, mir den Golf zu überlassen." Trotzdem lässt er den Golf viele Jahre zunächst stehen, weil er ihn an seinen geliebten Vater erinnert.

Srdjan Mandić, Bürgermeister der Gemeinde Sarajevo-Zentrum, in/mit seinem VW Golf I
Srdjan Mandić an seinem kirschroten VW Golf I – das Fahrzeug hat er über den Bosnienkrieg hinweggerettet und will sich kein anderes Auto mehr zulegen. Bildrechte: Srdjan Mandić / MDR

Heute fährt ihn Mandić ab und zu wieder: "Dass er nach so langer Zeit wieder anspringt, beweist, dass Golf I und II 'made in Sarajevo' von sehr hoher Qualität sind." Der in Sarajevo gefertigte Golf erinnert ihn an bessere Zeiten: "Leider ist die politische Situation heute nicht ideal. Aber ich sage: Wenn wir vor dem Krieg eine Fabrik für VW haben konnten, dann sehe ich keinen Grund, warum das heute nicht möglich sein sollte. Hier leben Menschen, die genug Wissen und Energie haben, um auch solche Erfolgsgeschichten zu schreiben. Es ist ein Symbol für eine fruchtbare Wirtschaft und eine Entwicklung nach vorne."

Arbeiter montieren am 31.8.1998 einen Skoda Felicia im VW-Werk bei Sarajevo.
Nach dem Bosnienkrieg ist ein neues Volkswagen-Werk in Vogošća entstanden. Von 1998 bis 2008 wurden dort Fahrzeuge der Marken Volkswagen, Audi und Škoda (im Bild) für den örtlichen Markt zusammengebaut, um Einfuhrzölle zu vermeiden. Bildrechte: picture-alliance / dpa | epa Demir

Der VW Golf und seine Fabrik in Sarajevo zeigen, dass wir heute als Bosnien-Herzegowina ein wertvolles Mitglied der EU werden können.

Golfbesitzer Srdjan Mandić, Bürgermeister der Stadtgemeinde Sarajevo-Zentrum

VW-Werk heute – ein Abglanz des einstigen Ruhms

Die VW-Fabrik war einst eines der ersten Symbole dafür, dass Sarajevo und das ganze ehemalige Jugoslawien ein Teil Westeuropas wurden. Heute gibt es zwar eine VW-Fabrik in Sarajevo, sogar am gleichen Standort, allerdings werden dort längst keine kompletten Pkw mehr hergestellt. Dies lohnt sich nicht mehr, seit 2009 die Zölle zwischen Bosnien-Herzegowina und der EU entfallen sind. Heute ist das Werk nur noch ein Zulieferbetrieb, der Teile für andere Werke des Konzerns herstellt. Trotzdem glaubt Mandić: "Der VW Golf und seine Fabrik in Sarajevo zeigen, dass wir heute als Bosnien-Herzegowina ein wertvolles Mitglied der EU werden können."

Die Kehrseite der Beliebtheit

Laut Statistik war der Golf II übrigens das meist geklaute Auto im Jahr 2023 in Bosnien-Herzegowina. Seine Einzelteile sind immer noch sehr beliebt. Ein weiteres Problem bei den TAS-Modellen war schon immer, dass von diesen beiden Golf-Modellen der Schlüssel leicht zu kopieren war. Sogar dem rechtmäßigen Fahrzeugbesitzer konnte es passieren, dass er mit dem eigenen Schlüssel aus Versehen einen fremden Golf aufsperren konnte. "Ist mir auch schon mal passiert, mit dem Golf eines Freundes", sagt Mandić und lacht.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 06. April 2024 | 07:17 Uhr

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