Mirella Sidro steht im Wald vor einem Wildbach 1 min
Bildrechte: Mirella Sidro/MDR

Umwelt Bedrohen Wasserkraftwerke unberührte Flüsse in Bosnien-Herzegowina?

16. Januar 2024, 10:22 Uhr

In Bosnien-Herzegowina gibt es etwa 70 Prozent gesunde und lebendige Flüsse. Doch dieses einmalige europäische Gut wird bedroht - durch den Bau von Wasserkraftwerken. Internationale und regionale Nonprofit-Organisationen gehen in Zusammenarbeit mit den Anwohnern dagegen vor. Ein besonderes "Sorgenkind" ist die Neretva mit ihrem smaragdgrünen, besonders sauberen Wasser.

Mirella Sidro
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Nera Etwa - die Göttliche, die fließt. Besser hätten die Kelten einen der schönsten Flüsse Europas nicht benennen können. Die Neretva mit ihrem smaragdgrünen Wasser ist ein Wahrzeichen Bosnien-Herzegowinas. 225 Kilometer lang ist ihr Weg von der Quelle bis zur Adria. Weltweit bekannt und Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt wurde sie unter anderem durch "Red Bull Cliff Diving" in der herzegowinischen Stadt Mostar. Die besten Kunstspringer zeigen dabei ihr Können mit einem Sprung ins Wasser aus 20 Metern Höhe von der berühmten Alten Brücke. Selbst im Sommer liegt die Wassertemperatur hier nur bei sieben Grad Celsius, denn die Neretva ist einer der kältesten Flüsse der Welt.

Doch nicht nur deshalb ist sie einzigartig, weiß Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer der 2012 gegründeten Nichtregierungsorganisation (NGO) Riverwatch mit Sitz in Wien, die bedrohte Flüsse weltweit retten will und vor allem gegen große Staudammprojekte kämpft. "Die Neretva ist einer der wertvollsten Flüsse Europas, wenn nicht gar der wertvollste."

Einzigartiges Ökosystem der Neretva

Dies liegt laut Eichelmann unter anderem an der weitgehend unberührten Flussumgebung, die das Flusswasser besonders sauber macht. "Die Berghänge dort sind natürlich bewaldet, sodass das Regenwasser gefiltert und gereinigt wird, ehe es in den Fluss gelangt. Deshalb schimmert das Wasser hellblau bis smaragdgrün", schwärmt der Umweltschützer.

Im Sommer 2023 organisierte Eichelmann eine Neretva-Wissenschaftswoche. Mehrere unabhängige Teams, insgesamt 70 Wissenschaftler aus 17 Ländern, begleitet von Journalisten, Fotografen, Aktivisten und Künstlern, erforschten unterschiedliche Gebiete am und um den Fluss herum. Das Ergebnis: Die Neretva ist der letzte große Hotspot für viele Arten, wie die vom Aussterben bedrohten Weichmaulforellen und etliche Süßwassermolluskenarten.

Alte Brücke über den Fluss Neretva in Mostar
Die Neretwa in Mostar. Die Alte Brücke über den Fluss ist Wahrzeichen der Stadt. Sie wurde im 16. Jahrhundert erbaut, im Bosnienkrieg 1993 zerstört und danach wiederaufgebaut. Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Doch diese Artenvielfalt ist nun durch den Bau vieler Wasserkraftwerke in Gefahr. Im Ganzen sind im Neretva-Gebiet 70 Bauten geplant, wobei die größte Bedrohung von Großprojekten ausgeht. Eines davon ist das Wasserkraftwerk Ulog. "Unser ursprünglicher Plan war, das Gebiet von den Quellen der Neretva bis zur Stadt Konjic zu einem Nationalpark erklären zu lassen. Das hätte viele Vorteile für die Bevölkerung gehabt. Der Ökotourismus, die wichtigste Einnahmequelle, wäre damit garantiert. Doch das ist mit Ulog leider nicht mehr möglich", erzählt Eichelmann.

Bedrohung durch riesiges Wasserkraftwerk

Das Wasserkraftwerk Ulog befindet sich seit 2010 im Bau. Geplant ist eine 35-Megawatt-Anlage mit einem 53 Meter hohen Staudamm. Die Konzession für den Bau bekam die Firma EFT mit Sitz in London. Eigentümer ist der serbische Geschäftsmann Vuk Hamović. Der Kredit für den Bau kommt aus China.

"Noch hat die Natur keinen großen Schaden abbekommen. In dem Moment aber, wo das Wasserkraftwerk in Betrieb geht, kommt es zu einer ökologischen Katastrophe", warnt Eichelmann, der keine große Hoffnung mehr hat, das Projekt noch stoppen zu können. Eigentlich müssen solche Projekte eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen, berichtet der Umweltaktivist. Aber: "Zum Großteil sind diese gefälscht." Aus diesem Grund wolle seine NGO die bestehenden Umweltgutachten juristisch überprüfen.

Im Bau befindliches Wasserkraftwerk Ulog am Fluss Neretva in Bosnien-Herzegowina (Ende Oktober 2023)
Baustelle des Wasserkraftwerks Ulog (Ende Oktober 2023) Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im November 2022 erstellte ein Experte der Berner Konvention, die wassergeprägte Lebensräume schützen soll, nach einem Baustellenbesuch einen Bericht. Seine Empfehlung: sofortiger Stopp des Baus des Wasserkraftwerks Ulog und weiterer geplanter Wasserkraftwerke, da unter anderem die derzeitigen Regelungen zum Schutz von Flora und Fauna unzureichend seien. Im Fall einer Fertigstellung des Kraftwerks sei weiterhin sicherzustellen, dass der für das Ökosystem besonders nachteilige Schwallbetrieb nicht stattfinde.

Warum Schwallbetrieb fürs Ökosystem schädlich ist

Beim Schwallbetrieb wird das Wasser des Flusses nicht kontinuierlich an der Staumauer abgelassen, sondern zunächst im Stausee gespeichert. Erst wenn der Strombedarf steigt, werden größere Mengen Wasser abgelassen und die Turbinen arbeiten mit hoher oder gar maximaler Leistung. So kann man Schwankungen des Strombedarfs ausgleichen. Der Kraftwerksbetreiber bekommt außerdem mehr Geld, weil der Strom in diesen Spitzenzeiten teurer ist.

Allerdings geschieht das auf Kosten der Umwelt. Durch den Schwallbetrieb kommt es zu häufigen Schwankungen der Wassertemperatur. Darauf reagieren Fische und andere Organismen besonders empfindlich. Durch die häufigen Änderungen des Wasserstands unterhalb der Staumauer verlieren Jungfische und Fliegenlarven, die auf strömungssichere Flachwasserzonen angewiesen sind, einen Teil ihrer Lebensräume. Das Wasser wird zudem durch einen höheren Eintrag von Feinsedimenten trüber. Dies und weitere Faktoren führen dazu, dass Biomasse und Artenvielfalt im Fluss abnehmen.

Der Investor, EFT HE Ulog, entgegnet, dass einige Vorwürfe der Umweltschützer "nicht korrekt" seien. Das Projekt sei in Übereinstimmung mit dem Recht in Bosnien-Herzegowina und mit EU-Vorschriften entwickelt worden. Außerdem macht der Investor geltend, dass Ulog eine der ärmsten Gemeinden des Landes sei und das Kraftwerk "dringend benötigte Arbeitsplätze und langfristiges Einkommen" bringe.

Neretva fließt durch grüne Gebirgslandschaft
Das Regenwasser wird an den bewaldeten Hängen auf natürliche Weise gereinigt, bevor es in die Neretva gelangt. Bildrechte: IMAGO / Pond5 Images

Ein weiterer Faktor, der die Lage kompliziert macht: Das Wasserkraftwerk Ulog ist zum Spielball der Politik geworden, denn auch die beiden "Entitäten", die den Staat Bosnien-Herzegowina bilden, nämlich die Föderation Bosnien und Herzegowina (nicht mit dem Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina zu verwechseln) einerseits und die Republika Srpska (Serbische Republik, nicht zu verwechseln mit dem Nachbarland Serbien) auf der anderen Seite, streiten darüber.

Zwei "Entitäten" - der komplizierte Staatsaufbau von Bosnien-Herzegowina

Bosnien und Herzegowina ist ein Bundesstaat, der aus zwei sogenannten Entitäten besteht: der Föderation Bosnien und Herzegowina (nicht mit dem Gesamtstaat zu verwechseln) und der Republika Srpska ("Serbische Republik", nicht mit dem Nachbarland Serbien zu verwechseln, das nicht Teil des Bundesstaates ist).

Die Föderation zerfällt ihrerseits weiter in zehn autonome Kantone, die sich in Gemeinden gliedern. Die Republika Srpska ist ein Einheitsstaat, der sich in 63 Gemeinden gliedert. Außerdem gibt es an der "Nahtstelle" zwischen der Föderation und zwei geografisch voneinander getrennten Teilen der Republika Srpska den formell gemeinsam verwalteten Distrikt Brčko, der de facto unter Selbstverwaltung steht.

In die Zuständigkeit des Bundes fallen die Außenpolitik, der Außenhandel, die Streitkräfte, die Zoll- und Währungspolitik, Migrationsfragen, Telekommunikation und Luftverkehrshoheit. Alle anderen Bereiche werden auf der Ebene der Entitäten geregelt.

Das Wasserkraftwerk wird zwar auf dem Gebiet der Entität Republika Srpska gebaut, allerdings direkt an der Grenze zur Föderation, die unter den Folgen des Großprojekts leiden wird. Die Föderation wirft der Republika Srpska vor, nicht ausreichend einbezogen worden zu sein. Außerdem hätten die vorgeschriebenen Konsultationen nicht stattgefunden.

Die Neretva - ein Fluss, der verbindet

Auch Lejla Kusturica, Direktorin der NGO ACT, Atelier für gesellschaftliche Veränderungen, sieht den Bau des Wasserkraftwerks Ulog kritisch. "Eine der letzten gesunden Oasen der Biodiversität wird hier gerade zerstört und mit ihr der Ökotourismus", sagt sie. Ob Neretva, Una oder Drina - die Flüsse Bosnien-Herzegowinas sind ein beliebtes Abenteuer-Reiseziel für Menschen, die Rafting- und Canyoning-Erlebnisse suchen. 2023 hat der Tourismus ersten Schätzungen zufolge etwa sechs Prozent des Bruttosozialproduktes von Bosnien-Herzegowina ausgemacht. Tendenz steigend.

Für Kusturica ist die Neretva aber auch ein Symbol dafür, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina, einem Land, das auch drei Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg gespalten ist, gemeinsam an einem Strang ziehen können: "Flüsse sind das wertvollste Gut des Landes. Sie verbinden, und wir stehen für das ein, was die Politik hier seit 30 Jahren zu zerstören versucht - nämlich die Tatsache, dass wir alle in Frieden zusammenleben können. Unser gemeinsamer Kampf für die Flüsse beweist das!" Was die Bosnier in diesem Kampf laut Kusturica allerdings brauchen, ist internationale Unterstützung. "Unsere Flüsse gehören nicht nur uns in Bosnien-Herzegowina. Es ist ein Kulturgut Europas, das gerettet werden muss", sagt die Aktivistin.

Umweltschützer: Wasserkraft nicht wirklich öko

Strom aus Wasserkraftwerken gilt als "grün", ist aber Umweltschützern zufolge gar nicht so ökologisch, wie allgemein angenommen wird. Weshalb Wasserkraftwerke so beliebt sind, obwohl es weit umweltfreundlichere Alternativen gibt, die Flora und Fauna nicht negativ beeinflussen, erklärt Umweltschützer Robert Oroz : "Windräder und Fotovoltaikanlagen produzieren nur dann Strom, wenn Wind weht oder die Sonne scheint. Stromherstellung mit Wasser kann man steuern, mit der gewonnenen Energie kann man handeln. Steigt der Strompreis, wird viel Strom produziert, fällt der Preis, wird das Wasser gestaut, und man wartet auf die nächste Gelegenheit, Gewinn zu machen."

Für das Ökosystem hat das negative Folgen. Der gelernte Ingenieur Oroz bekam das aus nächster Nähe mit, als 2005 die ersten Minikraftwerke in der Nähe seines Hauses im Dorf Luke gebaut wurden: "Da konnte ich schon sehen, wie sich das Ökosystem ändert und auf unser tägliches Leben Einfluss nimmt. Es wurde viel Wald abgeholzt, um Rohre zu verlegen und Zugangsstraßen zu bauen. Nach der Regulierung des Schwalls hatten wir niedrigen Wasserfluss, was sich negativ auf Flora und Fauna auswirkte."

Anwohner auch gegen Miniwasserkraftwerke

Als man Miniwasserkraftwerke an "seinem" Fluss Željeznica bauen wollte, in dessen Nähe sein Haus liegt, wurden die Anwohner aktiv. 325 Tage und Nächte hielten sie Wache, um zu verhindern, dass die Bagger mit dem Bau anfangen können. Sie erreichten, dass die Konzession für das Kraftwerk von den Behörden zurückgezogen wurde. Nach ihrem Sieg boten sie ihre Hilfe landesweit an, weil sie bemerkt haben, dass dieses Problem im ganzen Land besteht. 2016 wurde die Koalition zur Rettung der Balkan-Flüsse gegründet. Insgesamt sind es 42 Organisationen, die unter diesem Dach zusammenarbeiten.

Für Oroz ist klar: Eigentlich braucht Bosnien und Herzegowina keine neuen Wasserkraftwerke, da die vorhandenen genug Strom erzeugen und das Land schon jetzt Strom exportiert. 60 Prozent des in Bosnien-Herzegowina erzeugten Stroms kommen aus fossilen Kraftwerken, 40 Prozent ist alternativ hergestellter Strom. Die vermeintlich sauberen Wasserkraftwerke werden errichtet, um auf "grünen" Strom umzusatteln, bei dessen Produktion zwar kein klimaschädliches Kohlendioxid entsteht, die aber dennoch die Natur im Umfeld negativ beeinflussen. Und zumindest bei den Minikraftwerken stehen Kosten und Nutzen offenbar in keinem sinnvollen Verhältnis zueinander: "Aktuell haben wir 122 aktive Miniwasserkraftwerke, die etwa 2,5 Prozent der gesamten Strommenge ausmachen. Ziemlich wenig Energie für den Verlust und Schaden, welche sie auf Dauer anrichten", meint Oroz.

Unsere Autorin

Mirella Sidro ist in Deutschland aufgewachsen. Nach ihrem Ägyptologie-Studium in München absolvierte sie die Fachjournalistenschule in Berlin. Sie arbeitete für verschiedene Lifestyle Magazine mit Schwerpunkt E-Mobilität, Nachhaltigkeit und Kultur. Seit 2021 lebt sie in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, um die Wurzeln ihrer Vorfahren zu erkunden und über die Natur, Kultur und Geschichte des Landes zu berichten. 

Mirella Sidro
Mirella Sidro: Berichtet als Ostbloggerin für den MDR aus Bosnien-Herzegowina Bildrechte: Mirella Sidro/MDR

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten - Der Osteuropa-Podcast | 20. Januar 2024 | 07:17 Uhr

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