Arafats Thüringer "General" - Wo ist Udo Albrecht? Flucht in die DDR
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31. März 2019, 05:00 Uhr
Deutsch-deutsche Grenze bei Büchen (Niedersachsen) am 29. Juli 1981. DDR-Grenzposten beobachten eine Gruppe von etwa zehn Personen auf der bundesdeutschen Seite, die sich mit Schaufeln am Rande des Bahndamms der Interzonenstrecke Hamburg-Berlin zu schaffen machen.
Es sind Beamte des Landeskriminalamtes Düsseldorf, ortskundige BGS-Beamte und ein Staatsanwalt aus Münster. Sie sind zusammen mit einem "gefährlichen Intensivtäter" in den lauenburgischen Grenzraum gekommen, um nach Depots zu suchen, in denen sich Sprengstoff, eine Panzerfaust und Handfeuerwaffen befinden sollen. Der Staatsanwalt hat es ausdrücklich abgelehnt, den Häftling besonders zu sichern, obwohl Grenzschutzbeamte mehrmals dazu raten. Fluchtgefahr bestehe nicht. Außerdem solle die Aussagewilligkeit des Mannes erhalten bleiben. Die Achtlosigkeit der Bewacher hat vielleicht noch einen weiteren Grund: Ein Neonazi wird doch nicht in die DDR flüchten … Die Handschellen werden abgelegt - vom Staatsanwalt persönlich.
Gegen 14:35 Uhr nähert sich ein Personenzug Richtung DDR. Plötzlich rennt aus der Gruppe ein Mann weg, den Bahndamm entlang. Ihm folgt der Staatsanwalt mit gezückter Pistole noch zehn bis 15 Meter auf DDR-Gebiet, bis ihn BGS-Beamte schließlich zurückrufen. Ein Kriminalbeamter ruft: "Schießen Sie!" - Ein BGS-Beamter: "Nicht schießen!" Die Geschosse könnten auf DDR-Territorium einschlagen. Der Flüchtende schreit um Hilfe. Ein DDR-Grenzer geht mit seiner Maschinenpistole in Stellung. 30 Meter nach Überschreiten der Grenze trifft er auf zwei DDR-Grenzaufklärer. Im Rückblick sagt er: "Ich bin überzeugt, dass ich [es] ohne Anwesenheit dieser Grenzposten nicht geschafft hätte, da ich hörte, dass ich noch ein Stück auf DDR-Gebiet verfolgt wurde und außerdem später stürzte."
Der Flüchtling gibt sich als Mitglied der PLO zu erkennen und sagt, dass er in der DDR Dokumente übergeben wolle. Einen Personalausweis hat der Mann nicht dabei. Die Grenzer übergeben den Mann Ermittlern der Staatssicherheit. Dort sagt er aus, dass er Udo Albrecht sei. Zur Legitimation legt er Kopien seines Haftbefehls, Zeitungsartikel und ein Fernschreiben des Verfassungsschutzes vor. Und er gibt an, dass er im Auftrag der Fatah rechtsextremistische Organisationen in der Bundesrepublik beobachtete habe. "Die Informationen", so notiert die Staatssicherheit, "seien durch die ‚El Fatah‘ zur Weiterleitung an die Sicherheitsorgane der DDR bestimmt" gewesen.
Albrecht schildert seine Flucht später so: "Ich habe erst mitgegraben, das Loch wurde immer größer, die Kriminalbeamten haben gegraben und ich habe dann rumgesucht, ob es nicht vielleicht hier wäre oder mehr dort wäre". Dann seien zwei DDR-Grenzposten auf den Bahndamm gekommen und hätten die Arbeiten beobachtet. Als der Zug gekommen sei und seine Bewacher zum Zug geschaut hätten, "da habe ich dann den Sprung gewagt und bin einfach losgerannt", so Albrecht. Zwar hätte ihn noch der Staatsanwalt bis auf DDR-Gebiet verfolgt, aber als sich die DDR-Grenzposten mit MPi im Anschlag hingeworfen hätten, habe der Beamte die Verfolgung aufgegeben.
Für die Staatssicherheit ist Albrecht kein Unbekannter. Mit großem Aufwand forscht sie seit Jahren die rechtsextreme Szene in der Bundesrepublik aus. Etliche westdeutsche Rechtsterroristen sind als Inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet. Und sie hat die Kontakte zwischen Albrecht und der PLO genau registriert.
Albrecht in Stasi-Haft
Zunächst wird Albrecht in die zentrale Untersuchungshaftanstalt nach Berlin-Lichtenberg gebracht. Die Stasi-Untersuchungsabteilung übernimmt den Fall. Albrecht wird befragt. Die Stasi-Leute sind misstrauisch. Will Albrecht die Stasi im Auftrag des BND ausspähen oder vorführen? Die Geheimdienstmitarbeiter schlagen vor, dass die Abteilung für Terrorabwehr unter der Führung von Generalleutnant Gerhard Neiber den Fall "exakt prüfen" soll, da es sich bei Albrechts Grenzübertritt um ein "provokativ geheimdienstlich gesteuertes Spiel gegen die DDR und gegen die PLO" handeln könnte. Gleichzeitig soll die PLO informiert werden. Eine Pressemeldung zu dem Fall soll es nicht geben. Auf "zu erwartende Auslieferungsersuchen" solle "unter Hinweis auf eine libanesische Staatsbürgerschaft" nicht reagiert werden. Über den Fall werden unter anderem Mielkes Stellvertreter Rudi Mittig und Gerhard Neiber informiert.
Dann geht es für Albrecht weiter in das konspiratives "Objekt 74". Der Fahrer hat Schwierigkeiten das Objekt zu finden und hält mehrmals im Wald. Albrecht bekommt eine solche Angst, dass er sich - nach einer späteren Aussagen eines MFS-Mitarbeiters - in die Hosen macht. Später habe Albrecht gestanden, dass er mit seiner Erschießung im Wald gerechnet habe. In dem abgelegenen Forsthaus "An der Flut" bei Briesen in der Nähe von Frankfurt/Oder bringt die Staatssicherheit auch immer wieder RAF-Aussteiger der zweiten Generation unter. Hier arrangiert sie auch die Treffen und die militärische Ausbildung für die noch aktiven Mitglieder der RAF. Zuständig ist die Abteilung XXII - die Terrorabwehr. Den Stasi-Leuten geht es darum, zu erkennen, welche Gefahren durch extremistische Gruppen für die Sicherheit der DDR ausgehen. Gegner sollen identifiziert sowie politische und strategische Absichten erkundet werden. Albrecht durchläuft das übliche erkennungsdienstliche Programm: Handschriften-Proben und Fingerabdrücke werden genommen, Fotos angefertigt: mit Brille und ohne, frontal und im Halbprofil. Außerdem werden im Centrum-Warenhaus am Ostbahnhof für über 800 DDR-Mark Schuhe und Bekleidung gekauft, damit Albrecht seinen Trainingsanzug, den er bei der Flucht getragen hat, ablegen kann. In einem späteren Gespräch mit einem PLO-Spitzenmann sagt Albrecht, dass er befürchtet habe, nach seiner Flucht in die DDR dort "in ein noch schlechteres Gefängnis" zu kommen.
In dem konspirativen Objekt wird der Flüchtling tagelang in die Mangel genommen. Die Staatssicherheit befragt Albrecht ausführlich. Sein Lebenslauf wird abgefragt und geprüft. Albrecht hat ein paar Prozessunterlagen dabei, die er zuvor von seinem Anwalt erhalten hatte. Auch sein Weltbild ist Thema. Albrecht sei der Auffassung, "dass der Zionismus der ‚Weltfeind Nummer eins‘ sei und gewaltsam bekämpft werden müsse", notieren die Vernehmer. "Ausgehend davon entschloss er sich, Verbindung zu verschiedenen gegen Israel tätigen Kräften in arabischen Ländern aufzunehmen." Albrecht nennt kaum Namen. Aber er schwärzt Willi Pohl als CIA-Agenten an, der gerade im Libanon sei, um Kontakte zur PLO zu suchen. In der Vernehmung, so notiert es die Staatssicherheit, "verhält sich Albrecht aufgeschlossen und erklärte mehrfach seine Bereitschaft, alle ihm gestellten Fragen wahrheitsgemäß und umfassend zu beantworten." Albrecht sagt, dass er "alle Entscheidungen" der DDR und der PLO über seinen weiteren Aufenthalt akzeptieren werde. Sein Ziel sei es, "so schnell wie möglich über die DDR wieder in den Libanon zu gelangen", um sich wieder bei der PLO zu melden. Er bitte deshalb um die Ausreise. Die Staatssicherheit legt intern fest, das Büro der PLO in der DDR über Albrecht und den CIA-Vorwurf gegen Pohl zu informieren.
Die Bundesrepublik will Albrecht zurück
Am Nachmittag des 30. Juli klingelt im Büro von Carlos Foth in Ost-Berlin das Telefon. Foth ist Abteilungsleiter für Internationale Verbindungen bei der DDR-Generalstaatsanwaltschaft. Am anderen Ende der Leitung ist Wolfgang Geißel, Generalstaatsanwalt in Hamm. Geißel informiert bei dem deutsch-deutschen Ferngespräch die DDR-Seite über die Flucht Albrechts und die Hintergründe. Seine Botschaft: Im deutsch-deutschen Grenzgebiet könnten gefährliche Waffen den Zugverkehr und Menschen gefährden. Und: Ein Auslieferungsersuchen an die DDR werde vorbereitet. Am folgenden Tag schickt Geißel das schriftliche Gesuch. Er bittet darum, Albrecht "den Behörden der Bundesrepublik Deutschland zu überstellen." Eine rechtliche Grundlage gibt es nicht. Die bundesdeutschen Behörden haben sich mit dem Schreiben nicht leicht getan. Es gibt Überlegungen, ein förmliches Auslieferungsersuchen zu vermeiden. Es könnte zur Folge haben, dass die DDR in anderen Fällen die Auslieferung von Flüchtlingen aus der Bundesrepublik in die DDR verlangt.
Die DDR schweigt wochenlang zu der Bitte. Fast einen Monat nach der Flucht Albrechts schreibt Generalstaatsanwalt Geißler erneut nach Ost-Berlin und bittet um Auskunft. Nun beginnt die DDR, intern eine Antwort zu entwerfen: Albrecht soll nicht ausgeliefert werden. Der Grund: In der Vergangenheit seien im umkehrten Falle auch keine Straftäter aus der Bundesrepublik an die DDR ausgeliefert worden. Als Beispiel wird der Fall Werner Weinhold genannt. Der DDR-Bürger hatte bei seiner Flucht 1975 zwei DDR-Grenzsoldaten getötet. Außerdem: Albrecht sei zwischenzeitlich ausgewiesen worden. Bei dem Entwurf stimmt sich die DDR-Generalstaatsanwaltschaft mit dem Ministerium für Staatssicherheit ab. Am 8. September wird der Brief nach Hamm abgeschickt.
Anwalt Schöttler wird aktiv
Aber nicht nur der Generalstaatsanwalt aus Hamm schickt Briefe nach Ost-Berlin. Auch Albrechts Anwalt Schöttler meldet sich und versucht, sich wieder ins Spiel zu bringen. Sein Mandant ("Inhaber eines Sonderausweises der Al Fatah, Kommandeur innerhalb der Palästinensischen Befreiungs-Organisation") habe mit seinem Grenzübertritt offensichtlich das Ziel gehabt, "über die PLO-Vertretung in Ost-Berlin nach Beirut/Libanon ausgeflogen zu werden." Allerdings habe er bisher keine Nachricht von Albrecht erhalten. Deshalb bitte er um "Stellungnahme", ob sich Albrecht noch in der DDR aufhalte oder ob er "bereits durch Einschaltung der PLO nach Beirut/Libanon ausgeflogen worden" sei. Nach Absprache mit der Staatssicherheit wird die Anfrage nicht beantwortet. Gleichzeitig beantwortet Schöttler Fragen der bundesdeutschen Presse zu Udo Albrecht: Er habe sich mit seinem Mandanten nie über Politik unterhalten. Denn: "Herr Albrecht wusste, dass ich von seinen für mich sehr wirren und diffusen politischen Ansichten nichts hielt." Auch beim Generalstaatsanwalt in Hamm sowie bei den PLO-Vertretungen in Bonn und Ost-Berlin versucht Schöttler Informationen zu sammeln. Gibt es Erkenntnisse über Albrecht? Befindet er sich in einem DDR-Gefängnis? Oder wurde er nach Beirut abgeschoben? Außerdem bittet Schöttler bei der Staatsanwaltschaft um Akteneinsicht, um Presseanfragen beantworten zu können.
Schöttler versucht auch über andere Kanäle an seinen entschwundenen Mandaten zu kommen: Anfang August meldet sich ein IM "Schwalbe" bei der Stasi-Bezirksverwaltung Neubrandenburg. Der Anwalt berichtet, dass ihn Schöttler, den er aus einem früheren Rechtsfall kenne, angerufen habe. Schöttler habe ihm den Fall Albrecht geschildert und erklärt, dass Albrecht keinesfalls, wie in den bundesdeutschen Medien berichtet, ein Rechtsextremist sei. Er, Schöttler, verteidige Albrecht im Auftrag der PLO. Albrecht sei ein "tapferer Palästinenserfreund". Zu seinem Anliegen gibt sich Schöttler wortkarg. Er könne am Telefon nicht alles sagen, da er damit rechnen müsse, dass das Gespräch abgehört werde. Er wolle, dass die Wahrheit über Albrecht bekannt werde. Ansonsten sagt Schöttler laut IM "Schwalbe": "Vielleicht kann ich ihnen auch noch sagen, dass es mir wichtig wäre, wenn sich ein guter Anwalt um ihn in der DDR kümmert. Alles andere müssen sie jetzt selbst erraten."
In der Bundesrepublik ist Albrecht nach seiner Flucht zur Fahndung ausgeschrieben. Der Grenzschutz rechnet damit, dass Albrecht ohne Ankündigung von der DDR heimlich abgeschoben wird. Deshalb werden alle aus der DDR in die Bundesrepublik einreisenden Männer "zumindest einer Sichtkontrolle" unterzogen. Die Behörden rechnen aber auch unmittelbar nach der Flucht damit, dass Albrecht "im Hinblick auf die engen jahrelangen Kontakte [...] zur PLO (insbesondere auch hochrangigen PLO-Vertretern)" weiter in den Nahen Osten fliehen oder dorthin abgeschoben werden könnte.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 31. März 2019 | 06:00 Uhr