Experte im Interview Krise auf dem Wohnungsmarkt: "Wir verlieren mehr Wohnungen, als wir bauen können"
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19. Juni 2023, 17:28 Uhr
Was tun, wenn bezahlbarer Wohnraum vor allem in Ballungszentren immer knapper wird? Matthias Bernt, Experte für Wohnraumpolitik, hält Vergesellschaftung oder eine neue Sozialbindung für wirksame Instrumente.
Insgesamt 400.000 Wohnungen pro Jahr wollte die Ampel-Koalition neu bauen, davon allein 100.000 Sozialwohnungen. Das Ziel wurde verfehlt und kann auch in diesem Jahr bei Weitem nicht erreicht werden. 2022 wurden lediglich rund 20.000 Sozialwohnungen gebaut.
Dabei wird das Problem vor allem in Städten und Ballungsräumen immer dringlicher, auch im Hinblick auf die Anzahl der Menschen in Haushalten. Die wird nämlich immer geringer, gleichzeitig steigt die Zahl der Single-Haushalte und damit der Bedarf nach kleinen, günstigen Wohnungen stetig an. Statista zufolge gab es 2022 rund 16,7 Millionen Einpersonenhaushalte in Deutschland. Eine Berechnung des Statistischen Bundesamts geht von mehr als 19 Millionen Einzelhaushalten bis 2040 aus. Wie aber kann die Krise auf dem deutschen Wohnungsmarkt angegangen werden?
MDR AKTUELL: Herr Bernt, was läuft schief auf dem deutschen Wohnungsmarkt?
Es gibt vor allem zwei widersprüchliche Trends, die sich manifestiert haben: In der Vergangenheit ist viel bezahlbares Wohnen über den Staat sichergestellt worden.
Einerseits darüber, dass der Staat landeseigene oder kommunale Wohnungseigentümer hatte, andererseits darüber, dass der Staat jede Menge Fördergelder für bezahlbare Mieten ausgegeben hat. Diese Förderung war immer so gestaltet, dass sie nur für einen bestimmten Zeitraum gilt. Ist dieser Zeitraum ausgelaufen, ist auch der preissenkende Effekt auf die Mieten kaputt. Und in den 70ern und 80ern ist sehr viel neu gebaut worden. Die Förderung dafür ist jetzt abgelaufen und die Zahl der preisgebundenen Wohnungen geht runter. Gleichzeitig haben viele Kommunen noch in den 2000er Jahren viele Wohnungen verkauft. Ganz weit vorne ist die Stadt Dresden, die auf einen Schlag etwa 48.000 Wohnungen verkauft hat. Kurz gesagt: Der Staat hat sich zurückgezogen und hat dem Markt mehr Einfluss überlassen.
Mit welcher Konsequenz?
Viele Wohnungen, die verkauft worden sind, wurden von finanzorientierten Unternehmen übernommen. Jetzt haben wir auf dem Wohnungsmarkt zu viele Akteure, die auf schnelle Mietsteigerungen und Rendite zielen. Dadurch besteht mehr Druck, Mieten zu steigern, und es gibt gleichzeitig weniger Möglichkeiten, Mietsteigerungen zu begrenzen. Dazu kommt eine wachsende Bevölkerung vor allem in den Ballungszentren, mehr Migration, demographischer Wandel, eine Veränderung der Haushaltsgrößen. Aber die politischen Fehler liegen vor allem darin, sich als Staat zurückzuziehen und renditeorientierten Unternehmen das Feld zu überlassen.
Zur Person: Matthias Bernt Matthias Bernt ist Experte für Wohnraumpolitik und geht der Frage nach, wie mehr sozialer und bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden kann. Er arbeitet als kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunkts "Politik und Planung" am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner sowie als Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Wo könnte der Staat jetzt beispielsweise eingreifen?
Der Staat kann Investitionen fördern und im Gegenzug für die Förderung zum Beispiel geringe Mieten verlangen. Das ist genau das, was mit dem sozialen Wohnungsbau über Jahrzehnte passiert ist. Es ist nur so, dass der soziale Wohnungsbau eine zeitlich begrenzte Haltbarkeitsdauer hat. Ein österreichischer Wohnungsforscher hat es so ausgedrückt: Der soziale Wohnungsbau in Deutschland sei ein Investitionsförderprogramm mit sozialer Zwischennutzung. In den 80er Jahren hatten wir noch etwa vier Millionen Sozialwohnungen in Deutschland, jetzt sind wir bei unter einer Million und jährlich fallen etwa 75.000 Wohnungen aus der Sozialbindung. Wir verlieren von Jahr zu Jahr deutlich mehr Sozialwohnungen, als wir überhaupt neu bauen können.
Kurzstudie: Vergesellschaftung senkt die Miete
Gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftlicher Andrej Holm hat Matthias Bernt für die Rosa-Luxemburg-Stiftung die möglichen Auswirkungen einer Vergesellschaftung von Wohneigentum untersucht. Die Studie kommt am Beispiel Berlins zu folgendem Ergebnis: Für über 200.000 Haushalte bei den sechs größten privaten Wohnungsunternehmen der Stadt könnten die Mieten um durchschnittlich 16 Prozent sinken, wenn die Wohnungen nach dem Vorbild der landeseigenen Wohnungsgesellschaften bewirtschaftet würden. Eine Vergesellschaftung würde darüber hinaus Wohnungen in Stadtteilen zurückgewinnen, die von Gentrifizierung bedroht sind. Allein durch Neubau wäre dieses Ziel nicht zu erreichen.
Stichwort Wohnungsgemeinnützigkeit: Die Ampel wollte ja eine neue Sozialbindung auf den Weg bringen.
Ja, aber da passiert zu wenig. Die Regierung wollte ein Rahmenpunktepapier vorlegen, aber es geht nicht voran. Es wird auch immer wieder darüber geredet, dass man Wohnungsbaugenossenschaften unterstützen soll. Das ist eine gute Idee. In Zürich zum Beispiel ist ein Viertel des Wohnungsbestandes genossenschaftlich, seit über 100 Jahren. Genossenschaften bieten dort bezahlbare Wohnungen mit innovativen Modellen an, werden von der Stadt unterstützt – davon sind wir weit entfernt. Es müsste viel mehr in die Richtung gehen, Träger zu fördern, die nicht profitorientiert wirtschaften.
Kann sozialer Wohnraum allein durch Neubauten geschaffen werden?
Wir haben natürlich gerade in den Ballungszentren auch tatsächlich ein Mengenproblem. Es gibt in großen Städten wie Berlin eine Lücke zwischen der Zahl der Haushalte und der Zahl der zur Verfügung stehenden Wohneinheiten. Es braucht also Neubau. Gleichzeitig haben wir auch ein Preisproblem.
In den meisten deutschen Großstädten hätten etwa 60 Prozent der Haushalte im Alter zwischen 40 und 60 Jahren Anspruch auf sozialen Wohnraum. Aber es entstehen vor allem Wohnungen in den oberen Preisklassen. Die Idee, die Bezahlbarkeitskrise allein durch Neubau zu lösen, hat international nirgendwo geklappt.
Kürzlich wurde bekannt, dass das Gebäudeenergiegesetz doch noch vor der Sommerpause im Bundestag beschlossen werden soll. Birgt das zusätzliche Hürden für den sozialen Wohnungsbau?
Wir befinden uns im Zeitalter des Klimawandels und ein großer Teil der Kohlendioxid-Emissionen kommt aus dem Gebäudebestand. Also wir kommen überhaupt nicht drumherum, etwas zu machen. Die Frage ist, wer die Kosten dafür trägt. Bei Mehrfamilienhäusern mit Mietwohnungen können bei einer energetischen Sanierung die Kosten mit acht Prozent pro Jahr auf die Miete umgelegt werden. Und das bringt gerade Menschen mit niedrigen Einkommen in eine ziemliche Zwickmühle.
Auf der einen Seite haben natürlich gerade Leute mit wenig Geld Interesse daran, ihre Energiekosten gering zu halten. Auf der anderen Seite führt der Einbau genau dieser Verbesserung zu teils enormen Mietsteigerungen.
Das heißt, dass sich einkommensschwache Haushalte nach einer energetischen Modernisierung ihre Wohnung nicht mehr leisten können.
Ja, oder schlimmer noch: Ich wohne in der Berliner Innenstadt, da ist eine energetische Sanierung zum Verdrängungsmodell geworden. Es werden energetische Modernisierungsmaßnahmen vorgenommen, die teils zu so immensen Mietsteigerungen führen, dass langjährige Mieterinnen und Mieter ausziehen müssen.
Und deren Bestandsmietverträge werden ersetzt, durch neue Mietverträge mit natürlich viel höheren Mieten.
Der Wohnungsmarkt muss auch auf die stetig steigende Zahl an Single-Haushalten reagieren. Das sind nicht nur junge Menschen, sondern auch viele Seniorinnen und Senioren.
Ja, ich denke das ist unstrittig. Von links bis rechts sind alle für sozial durchmischte und bezahlbare Innenstädte. Nur der Weg dorthin ist die Frage.
Gibt es irgendeine Stadt, eine Kommune, die es richtig macht?
Es gibt eine Menge Beispiele, an denen man sich im Sinne von "bad practices" abgucken kann, was man nicht machen sollte. Städte wie London zeigen, wohin es führt, wenn man einen Wohnungsmarkt dereguliert und denkt, man baut sich aus der Krise heraus. Aber es gibt auch Anregungen, aus denen man lernen könnte.
Da ist die Stadt Wien ganz vorn mit ihrem Gemeindewohnungsbau. Seit den 1920er Jahren hat die Gemeinde ihren Wohnungsbestand kontinuierlich ausgeweitet. Ungefähr die Hälfte des Bestands gehört heute der Kommune. Das führt dazu, dass Wien eine sozial deutlich durchmischtere Stadt ist.
Zürich habe ich schon erwähnt, dort wurde Genossenschaftliches Wohnen lange gefördert. Ein Viertel der Wohnungen ist dort in der Hand von Genossenschaften. Und die erhalten seit Beginn des 20. Jahrhunderts Land von der Stadt, in Form von Erbpachtverträgen, die über 99 Jahre gelten. Es gibt in Zürich eine große Bandbreite an Genossenschaften für alle möglichen Bedarfsgruppen.
Auch da kann man sich auch eine Menge abschauen. Man muss dafür gar nicht so weit reisen, das geht alles mit dem Nachtzug.
MDR
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 14. Juni 2023 | 10:17 Uhr