Unter der Lupe – die politische Kolumne Die SPD hat den Schaden
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22. November 2024, 18:05 Uhr
Boris Pistorius erklärt per Videobotschaft, dass er nicht Kanzlerkandidat der SPD werden will. Es war die richtige Entscheidung, zu spät kommuniziert. Vorausgegangen ist eine unwürdig geführte Debatte zur K-Frage, die keinem in der SPD gutgetan hat. Jetzt haben die Sozialdemokraten zwar Klarheit in der K-Frage, der Schaden ist dennoch bereits angerichtet. Die Startvoraussetzungen für den Wahlkampf könnten kaum schlechter sein.
- Der Parteivorstand blieb seiner Linie treu und stärkte fortwährend Scholz den Rücken
- Enttäuschte Hoffnungen: Boris Pistorius verzichtet auf Kanzlerkandidatur.
- Popularität ist nicht alles. Das weiß auch Boris Pistorius und will Verteidigungsminister bleiben.
- Der SPD ist selbstverschuldet abhandengekommen, worüber sie am liebsten sprechen wollte: ihre Inhalte.
Was war da nur los in den letzten Wochen? Erst platzte die Ampel und kurz darauf befanden wir uns mitten im Wahlkampf. Gerade noch wurde Olaf Scholz mit stehenden Ovationen von seiner SPD-Fraktion umjubelt, weil er nach quälenden Monaten seinen Finanzminister entlassen hatte, und schon nach einer Woche "grummelte es" laut Fraktionschef Rolf Mützenich wieder an der Basis.
Der Kanzler sei der falsche Mann für die Kanzlerkandidatur, hieß es da. Und mit jedem Tag gab es mehr und mehr Stimmen, die den populären Verteidigungsminister Boris Pistorius aufs Schild heben wollten.
Trotz Gegenstimmen: Parteivorstand stärkte fortwährend Scholz den Rücken
Rudolf Scharping, Gerhard Schröder, Franz Müntefering – nein, ich wusste nicht, dass sie alle noch politisch aktiv sind. Aber sie alle hatten eine Meinung, wer der neue Kanzlerkandidat der alten Dame SPD werden sollte. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass jeder, der ein rotes Parteibuch hat, den Drang verspürte, sich öffentlich zu einem Lager zu bekennen.
Der Parteivorstand blieb seiner Linie treu und stärkte fortwährend Scholz den Rücken. Plötzlich gab es ganze Landesgruppen, die den Kanzler absägen wollten, und auch Thüringens Innenminister Maier wünschte sich plötzlich Pistorius als Kandidaten. Die Debatte über den richtigen Kandidaten musste sein. Aber musste sie tatsächlich in der Öffentlichkeit ausgetragen werden anstatt im Kreisverband?
Es schien ganz so, als hätte die SPD ihr Erfolgsrezept vom Bundestagswahlkampf 2021 komplett vergessen: klare griffige sozialpolitische Forderungen (12 Euro Mindestlohn) und absolute Geschlossenheit, auch wenn nicht alle den Spitzenkandidaten lieben.
Enttäuschte Hoffnungen: Pistorius verzichtet auf Kanzlerkanditatur
Zwischendurch wurde Pistorius immer wieder gefragt, ob er denn nicht vielleicht kandidieren wolle. Wir bekamen 50 kreative Schattierungen des Wortes "Nein" zu lesen und zu hören. Am Ende war es immer die gleiche Aussage: Ich unterstütze Scholz, die SPD hat einen Kanzlerkandidaten. Ich will nicht kandidieren.
Mit der jetzt veröffentlichten Videobotschaft dürfte auch dem letzten Genossen klar sein: in diesem Wahlkampf wird es keinen Neustart mit dem populärsten deutschen Politiker geben. Der Verteidigungsminister, der sich selbst loyaler Parteisoldat nennt, hat reinen Tisch gemacht. Für seine Entscheidung gibt es gute Gründe.
Vom Heilsbringer, der nie einer sein wollte
Erinnern Sie sich noch an den Schulz-Zug, der nie abfuhr? Martin Schulz, einstiger SPD-Kanzlerkandidat, dem bereits vor seiner Nominierung die Herzen der Wähler zuflogen. Schulz hängte Merkel ab und wurde mit 100 Prozent der Stimmen einer Aufstellungsversammlung zum Kandidaten gekürt. Wenige Wochen später rauschten die SPD-Umfragen in den Keller.
Beispiele wie diese zeigen: Popularität ist nicht alles. Das weiß auch Boris Pistorius. Er ist ein Verteidigungsminister, dem zugeschrieben wird, ein richtiger Macher zu sein. Er steht für Wehrpflicht und Kriegstauglichkeit. Reicht das aus, um einen Wahlkampf zu führen, den die SPD mit sozialen Themen gewinnen will?
Das Problem mit der Glaubhaftigkeit
Wie glaubhaft wäre es gewesen, wenn die SPD ihren eigenen Kanzler im laufenden Wahlkampf fallengelassen hätte, um ein anderes Kabinettsmitglied vor den Karren zu spannen? Wie hätte der Wahlkampf mit Pistorius aussehen sollen? Eine fortwährende Distanzierung von den eigenen Inhalten und Regierungsprojekten? Das hätte keinen Sinn gemacht.
Pistorius, der immer wieder sagte, seine Mission bei der Truppe sei noch nicht beendet, will einfach nur genau das weiter tun – eben Verteidigungsminister sein. Ein Amt, das er wahrscheinlich sogar unter einer CDU-geführten Regierung behalten dürfte.
Dass Pistorius jetzt ein Video veröffentlicht und seine Genossen bittet, die Reihen zu schließen, ist der richtige Schritt. Nur kommt er viel zu spät. Alle Unterstützer von Pistorius hätten lieber mal dem Heilsbringer, der keiner sein wollte, zugehört. Jetzt stehen ganze Landesverbände mit Erklärungsnot am Wahlkampfstand. Wir wollten Scholz nicht, aber bitte wählen Sie ihn.
Der Schaden ist bereits angerichtet
Wie soll es jetzt für die SPD weitergehen? Drei Monate Wahlkampf sind sehr wenig Zeit, um sich glaubhaft hinter einen Kanzlerkandidaten zu stellen, den man kurz zuvor noch die Qualität abgesprochen hat. Der SPD ist selbstverschuldet abhandengekommen, worüber sie am liebsten sprechen wollte: ihre Inhalte.
Alle Hoffnungen liegen jetzt auf einem Bundeskanzler, der zwar keine Koalition mehr hat, aber dafür zwei blaue Augen. Dass er mit dem Rücken zur Wand steht, könnte die größte Stärke von Olaf Scholz werden. Zu verlieren hat er nichts mehr. Seine Wahlkampf-Botschaften schreiben sich von selbst: Mich kennen sie. Ich bin außen- und wirtschaftspolitisch berechenbar. Merz ist das nicht. Der will soziale Kürzungen und Raketen an die Ukraine liefern.
Ob das enttäuschte Pistorius-Lager diese Botschaften auch annimmt, darf bezweifelt werden.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 22. November 2024 | 19:56 Uhr
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