Biografie Sahra Wagenknecht: Von der Außenseiterin zur linken Ikone und Parteigründerin
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13. Juni 2024, 13:02 Uhr
Nicht erst durch den Erfolg ihrer Partei bei den Europawahlen mit bundesweit 6,2 Prozent erfährt Sahra Wagenknecht Aufmerksamkeit. Schon seit dem Start ihrer politischen Karriere 1989 fällt sie auf, vertritt mit Klarheit unpopuläre Standpunkte und polarisiert. Dass sie kein Problem damit hat, die Rolle der Außenseiterin einzunehmen, liegt auch an ihrer Kindheit. Als Tochter einer ostdeutschen Mutter und eines iranischen Vaters wurde sie früh ausgegrenzt und musste lernen, sich durchzusetzen.
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Als Sarah Wagenknecht ihren Weg in der Politik beginnt, demonstrieren viele Menschen auf der Straße. Die DDR steht vor dem Zusammenbruch, der Westen verspricht eine bessere Zukunft. Als fast alle Ostberliner den Westteil der Stadt besuchen, bleibt Sahra Wagenknecht bewusst im Osten. "Es war jetzt nicht so mein Drang, die neueste Jeanshose zu besitzen. Ich brauchte das in dem Sinne nicht. Ich hatte ja auch vom Westen das Bild, was ich halt hatte: Kapitalismus ist eben eine Gesellschaft, wo jeder sozusagen nur seinen materiellen Vorteil sieht und gnadenlos seinem Egoismus frönt", erinnert sich Wagenknecht an jene Zeit.
Ich hatte ja auch vom Westen das Bild, was ich halt hatte: Kapitalismus ist eben eine Gesellschaft, wo jeder sozusagen nur seinen materiellen Vorteil sieht.
Sahra Wagenknecht träumt von einer Gesellschaft, in der Geld nicht das Maß aller Dinge ist und tritt noch 1989 als 19-Jährige in die untergehende SED ein – zu einer Zeit, als Millionen die ehemalige Staatspartei verlassen.
Vertreterin eines untergegangenen Systems
Schon kurz nach dem Mauerfall macht sie sich in der Nachfolgepartei PDS einen Namen. Als jüngstes Mitglied wird sie in den Vorstand gewählt – und fällt schnell als "Störfaktor" auf. Sie ist unnachgiebig, provokant und schwimmt gegen den Strom. Besonders ihre Weigerung, sich von stalinistischen Ideen und dem Unrecht der Berliner Mauer zu distanzieren, sorgen für Empörung und Schlagzeilen.
So gerät sie schnell in Konflikt mit der offiziellen Parteilinie. Denn unter Gregor Gysi ist die Parteiführung der PDS in den 1990er Jahren bestrebt, aus der Nachfolgeorganisation der SED eine demokratisch-sozialistische Partei zu machen. Gysi will den Sozialismus von seinen stalinistischen Verzerrungen befreien "und genau diese Vorstellung war für Sahra Wagenknecht ein NoGo", sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Thorsten Holzhauser. Sahra Wagenknecht schreibt in einem Papier, dass der Sozialismus nicht an Stalin gescheitert sei, sondern an der Öffnung zum Westen. Mit dieser Position wird sie in der Öffentlichkeit zur Stalinistin – und in der Partei für Gysi untragbar. 1995 scheidet sie aus dem Parteivorstand aus.
Frühe Politkarierre: Sahra Wagenknecht wird zur Ikone
Trotz herber Angriffe, etwa in politischen Talkshows, bezieht Sahra Wagenknecht deutlich unpopuläre Positionen und verteidigt aufrecht immer wieder ihre Gesellschaftsvision. Bei ihren Befürwortern verfängt das. Wenn man sich die Neunziger Jahre anschaut, merkt man schnell, dass Sahra Wagenknecht von den Medien, aber auch von Teilen ihrer Partei zu einer Ikone gemacht wurde, sagt der Historiker Thorsten Holzhauser.
Sie lässt sich von ihren Widersachern nicht aus der Ruhe bringen, egal wie scharf oder unsachlich die Kritik ist, der sie ausgesetzt ist, bescheinigen ihr auch ehemalige Weggefährten. Die Rolle als Außenseiterin scheint ihr nichts auszumachen. "Man hat das Gefühl, da sitzt Teflon. Ich weiß genau, dass sie zuhört, aber sie zieht ihr Ding durch", erinnert sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow an einen Talkshow-Auftritt Wagenknechts, bei dem sie massiv angegangen wurde.
Man hat das Gefühl, da sitzt Teflon. Ich weiß genau, dass sie zuhört, aber sie zieht ihr Ding durch.
Der Publizist Albrecht von Lucke sieht neben ihrem emotional distanzierten Verhalten auch etwas anderes: "Sie weiß auch einen enormen Vorteil daraus zu ziehen, dass sie in Talkshows immer wieder in eine Rolle geht, wo sie die Angegriffene ist, klassischerweise auch in westlichen Medien, und sich dann als das Opfer einer dominanten Medienkultur stilisieren kann."
Kindheit in Jena: Ausgrenzung und Außenseiterrolle
Sahra Wagenknecht ist Ablehnung, Argwohn und Anderssein von Kindheit an gewöhnt. Sie selbst sagt über diese Zeit: "Es ist sicher so, dass ich durch meine Kindheit gelernt habe, damit umzugehen, dass ich auch mal alleine stehe oder eben was mir wirklich wichtig ist, dass ich das vertrete, was ich für richtig halte. Egal, was die Gruppe um mich herum denkt."
Im Alter von gerade mal vier Jahren erlebt sie zum ersten Mal, was es heißt, abgelehnt zu werden. Als Kind eines iranischen Vaters und einer ostdeutschen Mutter wächst sie in dem kleinen Ort Göschwitz bei Jena bei den Großeltern auf. Sie hört, wie andere Kinder zu ihr sagen "Iiih, wie sieht die denn aus". Ihre schwarzen Haare, die leicht schrägen Augen und ihr dunkler Teint fallen auf und machen sie zur "Außenseiterin". Ihr Biograph Christian Schneider sagt, dass sie von anderen als "Chinesin" bezeichnet wurde.
Ihr Weg mit der Ablehnung umzugehen: Sahra Wagenknecht beschließt intelligenter als die anderen zu sein, lernt mit vier Jahren das Lesen und vertieft sich in Bücher.
Ein politischer Mensch – Vater als Vorbild
Zur Einschulung muss sie zu ihrer alleinerziehenden Mutter in den Prenzlauer Berg nach Ost-Berlin ziehen. Wieder wegen ihres Aussehens gemobbt und gehänselt, lernt sie sich zu wehren und traut sich auch zurückzuschlagen.
Verbindungen zu ihrem Vater gibt es nicht mehr. Denn er ist zu diesem Zeitpunkt bereits zurück im Iran. Ihre Existenz ist das Ergebnis einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte: Ihr Vater war ein Iraner, der in West-Berlin studerte. Ihre Mutter war in Ost-Berlin. Sie führen eine Beziehung über die Berliner Mauer hinweg. "Ein richtiges Familienleben gab's nicht, weil er musste ja immer vor 24 Uhr zurück. Also diese Beziehung war immer von der Mauer überschattet", sagt sie über diese Zeit.
Ein richtiges Familienleben gab's nicht, weil er musste ja immer vor 24 Uhr zurück. Also diese Beziehung war immer von der Mauer überschattet.
Als sie drei ist, geht der Vater in den Iran zurück. Dass sie ihn nie wieder sieht, ist ein Verlust, mit dem sie sich nicht abfinden kann. Sie schreibt ihm Briefe, lernt Persisch – und wird nach seinem Vorbild ein politischer Mensch: "Als ich dann als Jugendlicher anfing, mich mit Marx oder mit den Größen der Arbeiterbewegung zu beschäftigen, war das auch etwas, wo ich das Gefühl hatte, da stehe ich in seiner Tradition. Also wenn ich jetzt einfach nur unpolitisch gewesen wäre, hätte ich so das Gefühl gehabt, ich werde ihm nicht gerecht", sagt Wagenknecht.
Die Wandelbare Politikerin
Die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend wappnen sie für ihre politische Karriere. Als die PDS Anfang der 2000er-Jahre eine schwierige Phase durchmacht, steht Wagenknecht einer Vereinigung mit der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) von Oskar Lafontaine zunächst skeptisch gegenüber. Sie fürchtet, dass sozialistische Inhalte der PDS auf der Strecke bleiben. Doch die Gründung der Linkspartei 2005 und ihre Liebesbeziehung zu Oskar Lafontaine verwandeln ihre Gegnerschaft in eine starke Allianz.
Der Linkenpolitiker Stefan Liebich sieht hier eine starke Entwicklung in Shara Wagenknechts politischer Persönlichkeit: "Nach der Vereinigung von PDS und WASG hat sich die Haltung von Sahra Wagenknecht in einigen wichtigen Punkten geändert. Sie hat einen Schlussstrich zu ihrer Bewertung mit der DDR gezogen und zeigte sich offen dafür, dass es eine Mitte Links Regierung gibt."
Krisen als Stärke
Auch wenn sich Sahra Wagenknechts Image veränderte, zeigte sie immer eine klare Haltung zu den Ereignissen. Besonders in Krisenzeiten zeigt sich ihre Fähigkeit, sich damit Gehör zu verschaffen – egal ob in der Flüchtlingskrise 2015, der Corona-Pandemie 2020 oder dem Ukraine-Konflikt 2022.
2015 positioniert sie sich gegen Angela Merkels Migrationspolitik. Sie will die Kritik nicht allein der AfD überlassen und wird dafür stark angegriffen – auch aus der eigenen Partei. In der Corona-Pandemie gründet sie ihre eigene Marke und verbreitet mit "Wagenknechts Wochenschau" auf YouTube ihre Zweifel an den Corona-Maßnahmen. Als sie sich gegen die Nato-Politik im Ukraine Konflikt positioniert, wirft man ihr Populismus vor und diskutiert darüber, ob das noch linke Positionen seien. Doch das bringt sie nicht von ihren Positionen ab, denn gleichzeitig findet sie immer wieder neue Unterstützer.
Gründung der eigenen Partei BSW
Dass sie schließlich 2023 ihre eigene Partei gründet, befindet der Publizist Albrecht von Lucke als logische Konsequenz: "Sie musste letztlich ihren eigenen Weg gehen, weil sie nicht kompromisswillig war. Ich gründe eine Partei, eine eigene Partei für Wagenknecht. Nur damit war sie in der Lage, Wagenknecht auch in Reinkultur zu verkörpern."
Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) will die Politikone eine Alternative zur etablierten Politik bieten und diejenigen ansprechen, die sich nicht mehr von bisherigen Parteien repräsentiert fühlen, glaubt der CDU-Politiker Mike Mohring: "Die Leute sind auf der Suche, gerade im Osten. Sie finden das Angebot in dieser chaotischen und wirren Zeit nicht bei den Parteien, die derzeit auf dem Markt sind. Und deshalb macht sie ein Angebot, weil sie die Themen aufgreift, die die Leute auch sehen und wo sie nach Antworten suchen."
Die Leute sind auf der Suche, gerade im Osten. Sie finden das Angebot in dieser chaotischen und wirren Zeit nicht bei den Parteien, die derzeit auf dem Markt sind.
6,2 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben ihre Hoffnung auf das BSW bei den Europawahlen gesetzt. Jetzt steht Wagenknecht vor der Herausforderung, diese zu erfüllen.
Trotz und Treue – Das Phänomen Sahra Wagenknecht
Die Dokumentation "Trotz und Treue – Das Phänomen Sahra Wagenknecht" von Henrike Sandner und ein Podcast in der ARD-Audiothek werfen einen detaillierten Blick auf die politische Karriere und das Leben von Sahra Wagenknecht. Sie beleuchten nicht nur ihre politischen Stationen, sondern auch ihre persönlichen Motivationen und Hintergründe. Dabei kommen Weggefährten und politische Gegner zu Wort und geben so diverse Einblicke in eine der streitbarsten politischen Persönlichkeiten Deutschlands.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Trotz und Treue - Das Phänomen Sahra Wagenknecht | 13. Juni 2024 | 20:15 Uhr