Polizeikräfte bei Grenzkontrollen. 5 min
Audio: Kann Deutschland im Alleingang eine "nationale Notlage" erklären? Bildrechte: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Debatte über Migration Im Alleingang kann Deutschland keine "nationale Notlage" ausrufen

30. August 2024, 07:50 Uhr

Als Konsequenz aus dem Messerangriff von Solingen hat CDU-Chef Friedrich Merz die Ausrufung einer "nationalen Notlage" im Sinne der EU-Verträge vorgeschlagen. Damit will er Deutschland ermöglichen, Gesetze zu verabschieden, die gegen geltendes EU-Recht verstoßen würden. Doch kann Deutschland ohne Weiteres eine "nationale Notlage" ausrufen? Fragen dazu beantwortet unser Brüsseler Korrespondent Matthias Reiche.

Was bedeutet es, eine nationale Notlage zu erklären? Welche Zustände müssen in einem Land in der EU herrschen, damit das geht?

Matthias Reiche: Also erstmal bedeutet es, dass man das nationale Recht über das europäische stellen darf. Also dass man Maßnahmen ergreifen kann, die beispielsweise in einem klaren Widerspruch zum EU-Recht stehen, also nehmen wir mal an, Pushbacks durchführen, wenn es um Migranten geht.

Aber es kann natürlich auch um andere Gefahren gehen - Terrorgefahr, eine Pandemie oder eben ein plötzlich und unerwartet starker Zustrom von Migranten, der kann einem Land eine solche Notlage bescheren.

Tja, und haben wir jetzt so eine Notlage?

Das kommt drauf an. Also, ob nun Deutschland eine asylbedingte Notlage erklären kann, das wage ich nicht zu entscheiden. Rein vom Gefühl würde ich sagen, sind Italien, Zypern oder andere Mittelmeeranrainer viel stärker betroffen – auch Spanien beispielsweise, wenn man sich anguckt, was auf den Kanarischen Inseln los ist.

Aber das würde dann die Europäische Kommission entscheiden müssen. Es würde so funktionieren, dass Deutschland die Notlage beantragt bei der EU-Kommission. Die schlägt dann Maßnahmen vor. Und für diese Maßnahmen braucht es dann im Rat der 27 EU-Staaten eine qualifizierte Mehrheit, also 55 Prozent der Mitgliedstaaten müssen dafür stimmen. Das sind im Augenblick 15. Und diese Staaten müssen zusammen auch mal 65 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Das wäre dann Artikel 78 der EU-Verträge.

Also kann Deutschland das gar nicht entscheiden.

Im Alleingang kann Deutschland das auf keinen Fall machen. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, wenn es über die innere Sicherheit geht. Es hat dann nichts vordergründig mit Flüchtlingen zu tun. Aber auch da kann es Deutschland nicht im Alleingang machen. Und es ist eigentlich noch viel schwerer. Bisher wurden alle vergleichbaren Fälle immer wieder vom EuGH dann abgelehnt.

Gehen wir trotzdem mal davon aus, die EU würde mitmachen. Ist es denn wirklich so, dass Deutschland dann die Menschen zurückweisen darf an den deutschen Grenzen, wie es Friedrich Merz darstellt, dass also das Dublin-System wieder eingehalten wird?

Nein, das Dublin-System ist ja gescheitert. Das hat ja die EU selber auch schon eingesehen. Und deshalb gibt es auch Verhandlungen. Es gibt das gemeinsame europäische Asylsystem. Das soll spätestens 2026 greifen, weil eben Dublin nicht funktioniert.

Und Dublin funktioniert natürlich deshalb nicht, weil die Länder an den EU-Außengrenzen sagen: Moment mal, ihr könnt uns doch hier nicht alleine lassen mit den ganzen Flüchtlingen. Deshalb gibt es dann diese Asylreform, die hat - und das ist für Dublin ganz wichtig - einen Solidaritätsmechanismus. Das heißt, die Länder an den Außengrenzen haben die Garantie, dass sie nicht alleingelassen werden in einer Krisensituation.

Und gleichzeitig müssen sie sich dann natürlich verpflichten und sagen: Sie sind im Gegenzug dazu bereit, Flüchtlinge auch zurückzunehmen. So dass beispielsweise Deutschland dann Flüchtlinge nach Italien zurückschicken kann. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn das Gesamtpaket funktioniert.

Und wie reagiert man jetzt in Brüssel auf den Vorschlag von Friedrich Merz, dass eben Deutschland gerne diese Notlage ausrufen möchte, um dann an den deutschen Grenzen Flüchtlinge wieder zurückweisen zu können?

Offiziell äußert man sich natürlich nicht zu politischen Diskussionen, die in einem Mitgliedstaat laufen. Die meisten sind natürlich hier der Meinung, diese deutsche Migrationsdebatte ist dem Wahlkampf geschuldet und natürlich auch ein innenpolitisches Ablenkungsmanöver.

Auch der Kanzler, Olaf Scholz, hat ja gesagt, dass sich europarechtlich irgendwie was ändern muss, ohne da konkret zu sagen, was er sich da vorstellt. Aber man versteht hier natürlich auch nur sehr wenig, warum nun ausgerechnet diese Messermorde in Solingen zu diesen europarechtlichen Konsequenzen führen sollen, oder zu diesen Debatten? Denn in dem Fall haben die bulgarischen Behörden ganz klar gesagt, wir nehmen ihn zurück.

Reaktionen auf den Messerangriff von Solingen

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 29. August 2024 | 14:35 Uhr

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