"Medikamenten-Flohmärkte"? Experten suchen Lösungen gegen Lieferengpässe bei Apotheken
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18. Dezember 2022, 16:40 Uhr
Die aktuellen Probleme bei der Beschaffung von Medikamenten sorgen für teils ungewöhnliche Forderungen: So schlägt der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, Nachbarschafts-Flohmärkte für Medikamente vor. In den Krankenhäusern spitzt sich die Lage weiter zu. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft meldet hohe Krankenstände beim Personal.
- Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will kommende Woche ein Gesetz gegen Medikamentenknappheit vorlegen.
- Rund zehn Prozent des Klinikpersonals fällt nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft derzeit krankheitsbedingt aus.
- Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis sieht im Personalmangel ein größeres Problem für das Gesundheitssystem als die Corona-Pandemie.
Angesichts verbreiteter Lieferengpässe bei Medikamenten fordern Experten neue Wege, um die medizinische Versorgung sicherzustellen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, schlug "Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft" vor: Wer gesund sei, müsse vorrätige Arznei an Kranke abgeben, sagte Reinhardt dem "Tagesspiegel".
Für solche Medikamenten-Flohmärkte könnten auch Arzneimittel infrage kommen, deren Haltbarkeitsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei. In der Not könnten viele Medikamente immer noch gefahrlos verwendet werden.
Grüne fordern Vier-Punkte-Plan gegen Medikamentenknappheit
Laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) wird die Situation verschärft durch unnötige Bürokratie bei der Herstellung von Arzneimitteln in der Apotheke. "Ein individuell hergestellter Fiebersaft in der Apotheke kostet natürlich mehr und die Krankenkassen erstatten das nicht, wenn es nicht auf dem Rezept verordnet steht. Der Arzt kann aber nicht wissen, dass es in der Apotheke keinen Fiebersaft geben wird", sagte Gabriele Regina Overwiening der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Die Grünen fordern von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach einem Bericht des "Spiegel" eine Reihe von Sofortmaßnahmen gegen die Medikamentenknappheit: Ein Vier-Punkte-Krisenplan sieht demnach etwa vor, dass Apotheken auch ohne neues Rezept Alternativprodukte ausgeben können.
Zudem soll der Großhandel verpflichtet werden, alle Medikamente der Weltgesundheitsorganisations-"Liste der unentbehrlichen Arzneimittel" zu bevorraten. Lauterbach will in der kommenden Woche einen Gesetzentwurf vorlegen, der den Lieferengpässen entgegenwirken soll.
Kliniken kämpfen mit Personalausfällen
Unterdessen kämpfen Krankenhäuser weiter mit Personalausfällen und zahlreichen Patienten mit Atemwegserkrankungen. "Wir dürften beim Personal mittlerweile bei einem Ausfall von neun bis zehn Prozent liegen, das heißt, fast jeder zehnte Mitarbeiter ist erkrankt", sagte der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, der dpa. Das seien 30 bis 40 Prozent mehr Ausfälle als zu dieser Jahreszeit üblich.
Fast jeder zehnte Mitarbeiter ist erkrankt.
"Das führt dazu, dass zurzeit in einer ganzen Reihe von Krankenhäusern Betten gesperrt sind oder ganze Stationen abgemeldet werden müssen", so Gaß. Die Kinderkliniken seien davon besonders betroffen, weil dort viele Pflegekräfte mit Zusatzausbildung arbeiteten.
Es gebe keine einfachen Lösungen, sagte Gaß weiter: Er plädiere für weniger Bürokratieaufwand, etwa bei Dokumentationspflichten, und eine vorübergehende Aussetzung von Personaluntergrenzen.
Intensivmediziner Karagiannidis: Mehr Zuwanderung gegen Personalmangel
Nach Einschätzung des Intensivmediziners Christian Karagiannidis wird der Personalmangel in Kliniken das Gesundheitswesen noch stärker belasten als die Corona-Pandemie. Karagiannidis drang im Interview mit der Berliner "tageszeitung" auf mehr Zuwanderung: "Wir werden in allen Berufsgruppen pro Jahr rund 500.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlieren, die in Rente gehen", warnte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (Divi). Wenn nicht jetzt dagegen etwas unternommen werde, "crasht das Gesundheitssystem".
Inzwischen kommt es aufgrund der Überlastung vor allem von Kinderkliniken nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zunehmend zu Anfeindungen oder sogar Übergriffen gegen die dort Beschäftigten. "Es häufen sich Fälle von Androhung oder der tatsächlichen Ausübung psychischer und physischer Gewalt gegenüber dem Gesundheitspersonal", sagte DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt der "Rheinischen Post".
Eltern müssten teils stundenlang in den Notaufnahmen sitzen oder kranke Kinder auf Krankenhausfluren übernachten, beklagte sie.
dpa/AFP (jan)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 18. Dezember 2022 | 14:30 Uhr