Unter der Lupe – die politische Kolumne Der Mythos der Lohn-Preis-Spirale

26. März 2023, 05:00 Uhr

Kaum gehen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vermehrt auf die Straße, um höhere Löhne einzufordern, warnen Arbeitgeberverbände vor einer drohenden Lohn-Preis-Spirale. Auffällig ist, dass gerade die Personengruppen vor zu hohen Lohnansprüchen warnen, die am wenigsten von Energiepreisen und Inflation betroffen sind. Anstatt einer Debatte über Horrorszenarien könnte Deutschland eine Prise Solidarität und einen höheren Mindestlohn gebrauchen, meint Hauptstadtkorrespondent Torben Lehning.

Egal ob im öffentlichen Dienst oder beim Flughafenpersonal: Gerade vergeht kaum eine Woche, ohne erneute Streikankündigungen. Inflation, steigende Zinsen und Energiekrise führen eben nicht nur zu Hilferufen von Gasanbietern und Banken, sondern auch zu Lohnforderungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Schaut man sich dazu die Kommentierungen von so manchen Expertinnen und Experten, Politikerinnen und Politikern an, sind diese Streiks selbstsüchtig motiviert, die Gewerkschafts-Forderungen gar völlig überzogen. Horrorszenarien von einer sich selbst befeuernden Lohn-Preis-Spirale machen die Runde.

Die Logik der Lohn-Preis-Spirale

Die Logik hinter dieser Argumentation ist schnell umrissen: Energiekrise und Inflation führen zu höheren Preisen. Wenn jetzt auch noch die Beschäftigten mehr Geld für ihre Arbeit einfordern, müssen die Arbeitgebenden die Preise anheben, um ihre Produktionskosten zu decken. Tatsächlich hat Deutschland zwischen Energiewende und steigenden Preisen vieles zu befürchten, aber wohl kaum eine Lohn-Preis-Spirale.

Gewinn-Preis-Spirale

Im Gegenteil: In den letzten drei Jahren haben viele Unternehmen Rekordgewinne eingefahren. Hier geht es nicht nur um Internet-Giganten wie Amazon, Google und Apple, sondern auch um Siemens, VW, Bosch und Mercedes. Dem gegenüber steht in den letzten drei Jahren ein durchschnittlicher Reallohn-Verlust der Beschäftigten von vier Prozent.

Wie kommt es dazu? Viele große Unternehmen sehen in der Krise ihre Chance und satteln auf die inflationsbedingten Preissteigerungen noch ein paar Gewinnmargen oben drauf. Die Folge: Reiche werden reicher, Arme werden ärmer.

Menschen mit kleinem Budget bekommen die Krise besonders stark zu spüren. Gurken, Butter, Klopapier – es sind gerade die Preise für Lebensmittel und Gegenstände des alltäglichen Bedarfs, deren Kosten in der Krise besonders stark gestiegen sind. Oft sind Preissenkungen auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. Die Forderung nach mehr Lohn sind gerade für Geringverdienende nicht nur nachvollziehbar, sondern auch unabdingbar. Dazu kommen noch die steigenden Energiekosten.

Wenn Energieunternehmen, wie im vergangenen Jahr passiert, ihre Mehrkosten an die Kunden weiterreichen, dadurch die Preise steigen und die Unternehmen dabei weiter Gewinne machen, lässt sich wohl eher von einer Gewinn-Preis-Spirale sprechen.

Überzogene Lohnforderungen?

Aktuell entzündet sich die Lohn-Preis-Spiralen-Debatte vor allem an den Streiks im Öffentlichen Dienst. Von so manchen Kommunen und Politikerinnen und Politikern werden die Lohnforderungen der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst von 10,5 Prozent als überzogen dargestellt. Arbeitgeberverbände fürchten eine Sogwirkung für Lohnforderungen anderer Berufsgruppen. Bedenkt man, dass die Inflation im vergangenen Jahr um acht Prozent gestiegen ist und im laufenden Jahr um fünf bis sechs Prozent steigen könnte, würden die aktuellen Lohnforderungen der Streikenden noch nicht einmal die Inflation ausgleichen.

Das Problem – die fehlende Tarifbindung im Osten

Bei all den Grabenkämpfen um Lohnforderungen, gerät leicht in Vergessenheit, dass es sehr viele Menschen gibt, die gar keinen Tarif haben, über dessen Ausgestaltung sie verhandeln könnten. Im Osten sind davon weitaus mehr Menschen betroffen, als im Westen der Republik. Mehr als die Hälfte aller Ostdeutschen hat keinen Tarifvertrag. Für sie bedeutet das in der Regel, geringere Löhne, bei oftmals längeren Arbeitszeiten.

Politik mit Augenmaß gefragt

Von der Bundesregierung braucht es jetzt kluge Impulse für Betriebe und Beschäftigte. Eine weitere Mindestlohnerhöhung könnte Letzteren enorm helfen. Gerade für Menschen in Berufen ohne Tarifbindung war die Mindestlohnerhöhung im Oktober letzten Jahres wichtig. Der Osten profitierte dabei besonders stark. So bekamen zum Beispiel im Kreis Sonneberg in Thüringen 44 Prozent der Arbeitnehmenden auf einen Schlag mehr Geld. Das Plus könnte inflationsbedingt bald aufgebraucht sein. Eine Bundesregierung, die sich den sozialen Ausgleich auf die Fahnen geschrieben hat, sollte zumindest über eine Korrektur nachdenken.

Doch auch die Wirtschaft braucht Hilfe. Kleinere und mittlere Unternehmen, von denen es im Osten besonders viele gibt, können große Lohnsteigerungen oft nicht zahlen. Energieintensive Betriebe wie Bäckereien oder die Glasindustrie haben in der Energiekrise schwere Verluste gemacht. Fallen sie weg, mangelt es in manchen Regionen an Arbeitgeber-Alternativen.

Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung auch ihrer steuerpolitischen Verantwortung nachkommt und Korrekturen vornimmt, von denen auch kleinere Betriebe profitieren können. Hier ist eine Politik mit Augenmaß gefragt. Es braucht eine starke Wirtschaft, die gute Löhne zahlen kann und eine starke Tarifbindung, die Betrieben und Beschäftigten gute Arbeit sichert.

Solidarität statt Spaltung

Neidvoll geführte Debatten über das Streikverhalten bestimmter Berufsgruppen helfen dabei wenig weiter. Besonders in der Krise brauchen wir mehr Verständnis füreinander. Gute Löhne sind gerade jetzt für diejenigen wichtig, die wenig haben. Die Gewerkschaften müssen ihnen den Rücken stärken, weitreichende Lohnverhandlungen sind unabdingbar. Dabei sollten die Gewerkschaften nicht nur für all jene laut auftreten, die das Privileg genießen, einen Tarifvertrag zu haben. Um Wohlstand zu sichern braucht es auch Tariflöhne in großen Betrieben, wie Amazon oder Infineon. Doch nicht nur die Gewerkschaften stehen hier in der Verantwortung.

Wer sagt eigentlich, dass die Politik große Unternehmen mit Wohlfühl-Subventions-Paketen umgarnen muss, ohne von ihnen Tariflöhne für die Beschäftigten einzufordern? Von dieser Idee könnte man auch im Falle von öffentlichen Ausschreibungen Gebrauch machen. Für beide Schritte fehlt derzeit der politische Wille.

Wenn erst einmal mehr Betriebe im Osten Tarife zahlen, würde uns das zukünftige Debatten über Lohn-Preis-Spiralen wahrscheinlich nicht ersparen, aber diese um einiges erträglicher machen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 22. März 2023 | 06:15 Uhr

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