Unter der Lupe – Die politische Kolumne Das Scheitern der deutschen Gesundheitspolitik

09. Januar 2023, 16:56 Uhr

Mangel an Medikamenten, überlastete Krankenhäuser, überfordertes medizinisches Personal. Die Notrufe aus dem deutschen Gesundheitswesen in den Tagen rund um Weihnachten zeigen das Scheitern der bisherigen Gesundheitspolitik. Mit einer Art Planwirtschaft versuchte sie, die Kostensteigerungen der vergangenen Jahre einzudämmen. Stattdessen hat das die Situation nur verschärft. Es fehlt an der Ehrlichkeit, dass wir alle mehr für unsere Gesundheit zahlen müssen, wenn wir immer älter werden.

Eine Erfahrung aus eigenem Erleben. In Berlin ruft eine Frau mit starken Unterleibsschmerzen kurz vor Weihnachten den Notarzt. Eine Einweisung ins Krankenhaus ist dringend notwendig. Doch schon die Suche nach einem Bett in einer Berliner Klinik bezeichnet der Mediziner als Roulette. Es dauert, bis er fündig wird. Fünf Stunden wartet die Patientin dann in der Notaufnahme. Die hohen Entzündungswerte deuten auf eine schwere Erkrankung hin.

Trotzdem wird sie wieder nach Hause geschickt und soll am nächsten Tag einen Internisten aufsuchen. Der entdeckt im Ultraschall die Ursache, die nur im Krankenhaus behoben werden kann, und weist die Frau wieder ein. Doch in der Notaufnahme lehnt ein Arzt erneut eine stationäre Aufnahme ab. Erst wenn ein möglicher Akutfall auftrete, eventuell ein Darmverschluss, solle sie sich wieder melden. Willkommen im deutschen Gesundheitswesen.

Ärzte in Krankenhäusern verwalten oft nur noch den Mangel

Dem Arzt in der Notaufnahme kann man keinen Vorwurf machen. Er verwaltet nur den permanenten Mangel an Betten, Ärzten, Pflegern und zuletzt auch Medikamenten in deutschen Kliniken. Gern wird das immer noch mit der angespannten Situation durch drei Jahre Corona-Pandemie begründet. Doch schon davor war die Situation nicht besser.

Vor Jahren gestand mir ein Chefarzt, er dürfe nicht darüber nachdenken, wo die Patienten abgeblieben sind, die er trotz grenzwertiger Befunde aufgrund mangelnder Kapazitäten abweisen musste und die nie wieder aufgetaucht sind. Die Lage in den Krankenhäusern ist allerdings nur ein Symptom für das Scheitern der deutschen Gesundheitspolitik. Und mangelnder Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern, allerdings auch mangelnder Ehrlichkeit von uns selbst.

Verdopplung der Gesundheitskosten in den letzten 20 Jahren

Zwischen 2000 und 2020 haben sich die Gesundheitsausgaben von 214 Milliarden Euro auf 440 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Mit einer Art Planwirtschaft haben Politik und Krankenversicherungen versucht, diese Kostenexplosion zu händeln. Da Beitragserhöhungen der Sozialversicherungen immer unpopulär sind, sollten die Anbieter von Gesundheitsleistungen in die Pflicht genommen werden.

Bereits in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts traf es die niedergelassenen Ärzte. Eine Budgetierung für jede Praxis wurde eingeführt, verbunden mit einem immensen bürokratischen Aufwand. Vor allem für Allgemeinmediziner rechneten sich immer weniger Aufwand und Nutzen. Gerade in ländlichen Gebieten fanden die Landärzte deshalb oft keine Nachfolger mehr.

Aus der Not wollten Medizinunternehmen eine Tugend machen. Sie kaufen in Dörfern und kleinen Städten Praxen auf und besetzen sie mit angestellten Ärzten. Die Bürokratie übernehmen gemeinsame Verwaltungs- und Rechenzentren. Doch diese, sicher auch profitable Hilfe gegen die Unterversorgung ruft den Sozialneid auf den Plan. Als Heuschrecken verschrien, will Gesundheitsminister Lauterbach trotz der Vorteile das Geschäftsmodell beenden. Gerade Gesundheitspolitik ist nicht immer logisch.  

Prinzip der Fallpauschalen gefährdet Existenz der Krankenhäuser

Wer bei Schmerzen schon jetzt keinen Arzt mehr auf dem Dorf findet, dem bleibt oft nur die Notaufnahme im nächsten Krankenhaus. Dazu wird er demnächst noch weiter fahren müssen als ohnehin schon. Viele Kliniken stehen vor der Insolvenz. 300 Krankenhäuser haben in den vergangenen Jahren in Deutschland bereits dichtgemacht. Grund sind die sogenannten Fallpauschalen. Stationäre Leistungen werden nach einer Art Katalog bezahlt. Er definiert klar für die verschiedenen Erkrankungen, wie lang für welche Kosten eine Behandlung im Krankenhaus erfolgt.

Nur hält sich nicht immer die Genesung von Kranken an die Vorgaben der jeweiligen Fallpauschale. Zugleich wachsen die Kosten der Krankenhäuser für Gehälter, Unterhalt und Energie schneller als die Leistungen aus den Fallpauschalen. Im vergangenen Jahr wurden die zwar um etwas mehr als zwei Prozent erhöht. Doch eine Inflationsrate von zehn Prozent riss weitere Löcher in den Budgets der Kliniken. Lauterbach plant nun eine Reform, die alles besser machen will. Die Kliniken sollen sich zwar weiter über das Geld aus den Fallpauschalen finanzieren, aber dazu einen Grundbetrag für den Betrieb erhalten.

Hört sich zunächst gut an, ist aber ein vergiftetes Geschenk. Denn gleichzeitig sollen kleine Kliniken in der Fläche nur noch gering vergütete Leistungen anbieten dürfen, sodass der Grundbetrag nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Die Länder haben nun Widerstand angekündigt. Denn ein Krankenhaus ist ein notwendiger Teil staatlicher Daseinsvorsorge und kritischer Infrastruktur in den Regionen.

Rabattverträge der Kassen führten zu Medikamentenmangel

Früher war Deutschland mal die Apotheke der Welt. Nun leidet es an einem Mangel an Medikamenten, selbst an Grundpräparaten wie Fiebersaft oder Schmerztabletten. Vor Jahren entschied die Politik entgegen der Gesetze der Marktwirtschaft, dass die Pharmaunternehmen für ihre Produkte Rabattverträge mit den Krankenversicherungen schließen müssen. So wurde allerdings die Herstellung von Medikamenten in Deutschland immer weniger rentabel. Firmen verlagerten die Produktion nach Asien oder stellten sie ganz ein.

Kurzfristige Lösungsvorschläge für den entstandenen Medikamentenmangel, wie Flohmärkte oder Tauschbörsen für Medikamente, lassen am Verstand der Ideengeber zweifeln. Jetzt die Rabattschranken zu lockern, ist der erste richtige Schritt. Aber eigentlich müssten sie ganz abgeschafft werden, um Entwicklung und Produktion von Medizinprodukten hier wieder attraktiv zu machen. Dagegen werden sich aber die Krankenkassen wehren, weil sie sich dann vor dem finanziellen Kollaps sehen. Es sei denn, man erhöht die Beiträge.

Wenn wir länger leben, müssen wir auch mehr für unsere Gesundheit bezahlen

Und damit sind wir bei uns selbst. Wenn wir länger leben und gerade am Lebensende mehr medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollen und müssen, ist nicht zu verhindern, dass es für uns als Versicherte und Patienten deutlich teurer werden wird. Allein in den vergangenen zwanzig Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen von 81,3 auf 83,4 Jahre und von Männern von 75,6 auf 78,5 Jahre gestiegen.

Noch ist der Grundbeitrag für die gesetzliche Krankenversicherung mit 14,6 Prozent stabil, obwohl die Kosten steigen und sich das Defizit der Krankenversicherungen allein 2022 auf 17 Milliarden Euro beläuft. Nur bei den Zusatzbeiträgen von derzeit durchschnittlich 1,6 Prozent nehmen einige Kassen Erhöhungen vor. Um höhere Beiträge zu vermeiden, sollen nun Rücklagen der Krankenversicherungen aufgelöst werden. Doch was, wenn auch die aufgebraucht sind? Allein Appelle, mehr für die eigene Gesundheit zu tun, werden wohl nicht helfen.

Sicher könnte die Einführung der elektronischen Patientenakte und Krankenkassenkarte mit allen unseren Gesundheits- und Behandlungsdaten viel Geld sparen, weil zum Beispiel Doppeluntersuchungen verhindert werden. Aber auch das wird nicht reichen. Nach dem Staat rufen und Steuerzuschüsse wie bei der Rente verlangen? Damit würden es, wenn auch indirekt, die Bürger trotzdem zahlen.

Stattdessen muss die Politik endlich ehrlich sagen, dass wir mehr bezahlen müssen für ein längeres Leben mit einem hohen Standard in der medizinischen Versorgung: mit guten Krankenhäusern oder Praxen, nicht nur in den großen Städten, sondern auch auf dem Land, mit gut ausgebildeten Ärzten und gut bezahlten Pflegekräften, mit den Verfahren und Medikamenten des modernen medizinischen Fortschritts. Unsere Gesundheit darf uns nicht einfach nur lieb, sondern muss uns auch teuer sein.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 05. Januar 2023 | 19:30 Uhr

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