Sozialleistung Warum viele Berechtigte das Bürgergeld nicht nutzen

07. Mai 2024, 08:10 Uhr

Seit gut einem Jahr heißt die Grundsicherungsleistung für Menschen nicht mehr Hartz IV, sondern Bürgergeld. Damit sollte das Stigma vom "Hartzen" überwunden werden. Doch seit Inkrafttreten des Bürgergeldes wird erneut heiß diskutiert: Ist es zu hoch, sodass Menschen nicht arbeiten gehen? Könnte man nicht angesichts leerer Kassen gerade im Sozialbereich ordentlich kürzen? Eine Studie der Ernst-Abbe Hochschule Jena zeigt: Viele Berechtigte nehmen die Sozialleistungen überhaupt nicht in Anspruch.

"Würde man beim Bürgergeld Veränderungen machen, stärkeren Anreiz geben wieder arbeiten zu gehen, wären 100.000 Menschen in Arbeit und drei Milliarden Euro weniger Sozialausagaben", sagte der ehemalige Gesundheitsminister und CDU-Vize Jens Spahn im November MDR AKTUELL. In einem anderen Gespräch forderte er deutliche Sanktionsverschärfungen gegen Bürgergeldempfänger.

Sozialwissenschaftler Felix Wilke von der Ernst-Abbe-Hochschule Jena erlebt in der ganzen Breite der Bevölkerung Vorurteile. Bürgergeldempfänger seien faul. "So eine Auffassung ist ungefähr bei der Hälfte der Gesellschaft verbreitet und daraus mündet dann eigentlich auch so eine Anspruchshaltung: 'Wer es nicht wirklich braucht, soll es doch auch nicht beantragen.'"

Viele Menschen nehmen Bürgergeld nicht in Anspruch

Erwartungshaltungen und Stigmata, die Wirkung zeigen. Wenn Wilke Vorträge über seine Arbeit hält, dann stellt er das Publikum oft vor folgende Frage: Wie viele Menschen nehmen das ihnen zustehende Bürgergeld nicht in Anspruch?

"Also das sind Zahlen, die immer wieder für Überraschung sorgen und gerade Akteure, die mit Bürgergeld-Empfängern zu tun haben, sind dann besonders überrascht, dass die Quoten so hoch sind", sagte Wilke. Um das Ratespiel nicht in die Länge zu ziehen: Es ist eine erhebliche Größenordnung. "Also vier von zehn Leuten, die Bürgergeld beziehen könnten, beziehen das dann nicht."

Armut ist ein Trauma, das sich ein Leben lang fortsetzt

Kurzfristig spare das dem Staat jedes Jahr viele Milliarden an Ausgaben, erklärt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Langfristig wirke sich das aber negativ aus, gerade auch weil unter den Anspruchsberechtigten viele Familien mit Kindern sind. "Armut bedeutet für viele ein Trauma, das sich ein Leben lang fortsetzt. Heißt, ein Kind, das in den ersten Jahren seines Lebens Armut erfahren hat, wird davon ein ganzes Leben geprägt und hat eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, selber im Erwachsenenalter in Armut zu landen."

Sozialforscher Wilke hat in seiner aktuellen Studie mit Menschen gesprochen, warum sie die Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Bürgergeld zu beantragen, gelte oft als persönliches Scheitern und ist schambesetzt. Mit den Anträgen seien häufig Prüfungen bei Verwandten verbunden, die besonders belastend seien. Zuerst würden Anspruchsberechtigte daher Arbeit suchen, Tauschangebote ausmachen, Familienstrukturen nutzen. "Die sind teilweise auch sehr findig im Finden von Lösungen, wie man ohne Geld Alltag strukturiert, oder mit sehr wenig Geld."

Bürgergeld kein Almosen, sondern Rechtsanspruch für jeden

Ideen, wie mehr Menschen ihren Anspruch geltend machen können, gibt es einige. Dazu Fratzscher, vom DIW: "Indem man die Menschen nicht zwingt, einen Antrag zu stellen und jetzt mal sehr salopp gesagt die Hosen runterzulassen."

Es müsse klarer kommuniziert werden, dass das Bürgergeld kein Almosen sei, sondern ein Rechtsanspruch für jeden Menschen in unserer Gesellschaft. Das fordert auch Wilke. "Bei der Rente würden sie nie auf die Idee kommen: Verdienen sie das jetzt, was sie da jetzt bekommen?"

Experten halten von Sanktionen des Bürgergelds wenig

Grundsätzlich bleibe aber ein politisches Problem bestehen. "Man macht etwas und danach steigt die Quote der Empfängerinnen und Empfänger. Man hat danach quasi mehr Ausgaben und auch höhere offizielle Armutsquoten."

Dennoch ist Wilke überzeugt, dass wir als Gesellschaft diese Leistungen aus Gründen der Gerechtigkeit erbringen sollten. Von den aktuellen Debatten um Sanktionen und Verschärfungen hält er wie auch Marcel Fratzscher wenig. Zu groß der bürokratische Aufwand, zu hoch das Stigma für die Anspruchsberechtigten, zu gering der finanzielle und wirtschaftliche Nutzen.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 29. März 2024 | 07:11 Uhr

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