Eine Person sitzt am Tisch mit dem Handy und informiert sich über den Antrag für Bürgergeld.
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Sozialkritik Bürgergeld-Bingo: Reichen 502 Euro im Monat zum Leben?

26. Oktober 2023, 16:43 Uhr

Zurücklehnen, Nichtstun und Geld kassieren: Diesem Vorwurf sind Empfänger von Bürgergeld mitunter ausgesetzt. Mit dem Online-Planspiel "Bürgergeld-Bingo" will die Diakonie mit den Vorurteilen aufräumen und die Öffentlichkeit für die Lebenswelt von Menschen in Armut sensibilisieren. Interessierte können dabei spielerisch ausprobieren, ob sie ihre Ausgaben so verteilen können, dass ihnen der Regelsatz von 502 Euro im Monat zum Leben reicht.

Die Diakonie Deutschland hat am Mittwoch das Online-Planspiel "Bürgergeld-Bingo" vorgestellt. Wie der Verband in Berlin mitteilte, soll das Spiel die finanziellen Probleme von Bürgergeld-Empfängern verständlich machen. Interessierte erhalten einen spielerisch-virtuellen Einblick, wie Menschen mit 502 Euro im Monat leben. Sie können ausprobieren, ob sie ihre Ausgaben so verteilen können, dass ihnen der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen reicht.

Das Spiel wolle "Fakten statt Fake über Armut" vermitteln, erklärte die Vorsitzende der Diakonie, Maria Loheide. Mit dem Spiel wolle man sich an die breite Öffentlichkeit richten, die man über theoretische Erklärungen nicht erreiche. Im Vordergrund stehe, Vorurteile gegenüber Menschen, die Bürgergeld beziehen, abzubauen.

Außerdem solle es dem Argument entgegenwirken, dass Betroffene lieber Sozialleistung erhalten anstatt zu arbeiten: "Wir wollen weniger Populismus und Patentrezepte und Hartleibigkeit im Umgang mit Armut. Es gibt nicht die Bürgergeld-Beziehenden. Es gibt Menschen, die es trotz massiver Bemühungen nicht schaffen, endlich aus der Armut herauszukommen". Für viele Menschen sei das Leben mit Bürgergeld kein Spiel, sondern täglicher Mangel, ergänzt Loheide.

Sozial- und Wohlfahrtsverbände kritisieren Berechnung des Bürgergeldes

Neben der Diakonie wurde das Spiel von der Selbstorganisation von Menschen mit Armutserfahrung Armutsnetzwerk e.V., dem Evangelischen Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt und dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt Bayern initiiert. Auch sie kritisieren eine einseitige Debatte in der Öffentlichkeit. "Es wird oft über Bürgergeldbeziehende gesprochen, als wären sie eine fremde und schwer bewegliche, homogene Gruppe. Aber wir haben es mit Erwerbstätigen und Erwerbslosen, mit Alleinerziehenden, mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die täglich darum kämpfen, durchzukommen", betont Gudrun Nolte vom Evangelischen Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt.

Allen voran bemängeln die Verbände die Berechnung des Bürgergelds. Dieses solle zwar die grundlegenden Bedürfnisse sichern, reiche aber oftmals nicht aus, erklärt Jürgen Schneider vom Armutsnetzwerk e.V. Jeden Euro umzudrehen und dann zu entscheiden, wo noch am ehesten gekürzt werden könne, das sei für in Armut Lebende bittere Realität, ergänzt Schneider: "Das Bürgergeld wird einfach falsch berechnet, das zeigen Experten. Da werden Statistiken erhoben, Vergleichsgruppen herangezogen, die selbst im totalen Mangel leben und dann wird noch an den ermittelten Ausgaben herumgekürzt. Was dabei herauskommt, ist nicht wirklich ein Existenzminimum. Es ist nur das, was im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt und dann zurechtgerechnet wurde."

Das liegt laut der Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker an den methodisch unzulänglichen Umsetzung des so genannten Statistikmodells. Das ziehe die Konsumausgaben eines unteren Einkommensbereichs als Indikator für das soziokulturelle Existenzminimum heran. Dabei kritisiert sie besonders die Auswahl der Referenzgruppe ohne Berücksichtigung ihrer faktischen Teilhabemöglichkeiten. "Da ist zunächst eine statistische Vergleichsgruppe, die selbst im absoluten Mangel lebt. Die so ermittelten Ausgaben werden dann noch willkürlich gekürzt."

Sie nennt ein Beispiel: Eine Hälfte der Referenzhaushalte zieht auf dem Balkon Gemüsepflanzen, die andere Hälfte besucht regelmäßig Fußballspiele. Beide Gruppen geben im Schnitt fünf Euro monatlich dafür aus, die Summe der "unechten" Durchschnitte (jeweils 2,50 Euro) beläuft sich auf fünf Euro. Wenn jeglicher gärtnerischer Bedarf gestrichen wird – wie es die gesetzliche Regelung vorsieht –, verbleibt nur der eine unechte Durchschnitt von 2,50 Euro. Im Ergebnis können beide Teilgruppen unter den Grundsicherungsbeziehenden ihren Bedarf nicht decken.

Zwar solle das Bürgergeld erhöht werden, erklärt Becker. Das gleiche aber lediglich inflationsbedingte Verluste der Vorjahre aus, Deswegen fordern die Verbände eine Neuberechnung und Erhöhung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro im Monat.

Bürgergeld-Bingo: Leben mit 502 Euro im Monat

Beim "Bürgergeld-Bingo steht jeden "Spieler" ein Bürgergeld in Höhe von 502 Euro zur Verfügung. Das ist so viel wie ein Erwachsener monatlich erhält. Das Geld kann er mittels einfacher Klicks auf 12 Lebensbereiche wie Gesundheit, Kommunikation, Mobilität, Hobby oder Ernährung verteilen. Es muss genau überlegt werden, wie das Geld aufgeteilt wird, dass man im Rahmen des aktuellen Regelsatzes des Bürgergeldes von 502 Euro bleibt. Nur wer genau diesen Betrag einhalten kann, für den heißt es "Bingo".

Konzipiert wurde das Spiel von Philip Büttner vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt Bayern. Er setzt darauf, dass nicht lange Erklärungen entscheidend für ein besseres Verständnis seien, sondern ein Perspektivwechsel. Für ihn sei das Förderversprechen, das der Bund durch die Reform Anfang des Jahres mit dem Bürgergeld erreichen wollte, nicht eingelöst worden. So seien Gelder für Weiterbildungen und andere Fördermaßnahmen nicht da, um Menschen wieder in lohnende Arbeit zu vermitteln.

Es bleibt viel Hartz-IV im Bürgergeld.

Philip Büttner vom Kirchlichen Dienst

Bürgergeld statt Hartz IV

Seit dem 1. Januar 2023 gibt es das Bürgergeld. Es war ein zentrales Reformvorhaben der Ampel-Koalition und ersetzt das Hartz-IV-System. Mit neuen Ansätzen und Regelungen soll es Menschen besser unterstützen und helfen, langfristig gute Beschäftigung zu finden.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte an, den Regelsatz für Alleinstehende im kommenden Jahr von 502 Euro im Monat auf 563 Euro anzuheben. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit von Juni diesen Jahres beziehen bundesweit rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 20. Oktober 2023 | 15:30 Uhr

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