Polizei und Bahnsicherheitsdienst sperren den Zugang zu den überfüllten Zugabteilen ab 22 min
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Verkehrsexperte "Im Ausland wussten viele nicht, wie ernst die Probleme der Deutschen Bahn sind"

14. Juli 2024, 12:51 Uhr

Fußballfans konnten in den vergangenen Wochen die Europameisterschaft buchstäblich in vollen Zügen genießen. Das große Chaos sei zwar ausgeblieben, sagt Verkehrsexperte Christian Böttger. Insgesamt sieht er die Bahn aber über die EM hinaus in einer tiefen Krise. Als problematisch wertet er etwa, dass auf denselben Strecken immer mehr Züge führen. Auch gehörten Aktivitäten der Bahn auf den Prüfstand, die nichts mit dem Eisenbahnbetrieb in Deutschland zu tun haben.

MDR AKTUELL: Wie gut hat die Bahn den Belastungstest Fußballeuropameisterschaft aus Ihrer Sicht gemeistert?

Wirtschaftswissenschaftler Christian Böttger
Wirtschaftswissenschaftler und Bahn-Experte Christian Böttger Bildrechte: IMAGO / teutopress

Christian Böttger: Es ist sicherlich nicht perfekt gewesen. Es hat ein paar Störungen gegeben, aber keine massiven Ausfälle. Man muss auch sehen: Fußballfans sind eine schwierige Zielgruppe für die Bahn. Sie fahren alle zur gleichen Zeit in eine Richtung, sie verursachen eine Überlast. Manchmal ist es mit der Disziplin und der Regeleinhaltung durch die Fans auch etwas schwierig. Das ist kein Spezifikum der EM, sondern das ist bei jeder großen Fußballveranstaltung so, dass es da Ärger gibt und hinterher Züge kaputt sind.

Es war aber sicherlich ein Schlaglicht, im Ausland wussten viele nicht, wie ernst die Probleme der Deutschen Bahn sind. Aber es war jetzt keine Katastrophe gegenüber dem sonstigen Zustand, den wir in Deutschland haben.

Aber die Bahn hatte sich ja vorbereitet auf jeden EM-Tag. Bis zu 10.000 zusätzliche Sitzplätze im Fernverkehr, hieß es. War davon nichts zu merken?

Doch, in den meisten Fällen hat man diese zusätzlichen Fahrgäste ja auch gut wegbekommen. Und es gab dann eben Einzelfälle, wo dann auch die mediale Aufmerksamkeit größer wird. In meinem Newsfeed beispielsweise tauchen immer noch diese paar Österreicher auf, die vor drei Wochen in eine Baustelle geraten sind. Das wird dann von den Medien, die für die Tage zwischen den Spielen Stoff suchen, begeistert aufgenommen. Aber das meiste hat einigermaßen ordentlich funktioniert.

Ist das so ein Problem, dass wir uns gern auf das stürzen, was nicht funktioniert in Deutschland?

Das sicherlich. Wir haben ja auch das alte Sprichwort "Pünktlich wie die Bahn". Wir haben eine Krise des öffentlichen Verkehrs. Wir werden auch nach der EM weiter Störungen haben, und in den Wochen vorher war es genau so.

Eine Bahnsprecherin verwies darauf, dass die Infrastruktur in die Jahre gekommen sei und dass im Juni durch Unwetter und Hochwasser jeden Tag 400 ICEs an Dammbrüchen und überfluteten Straßen vorbei mussten. Sind die Probleme bei diesem Turnier damit benannt?

Ja, in der Tat gab es an einigen Tagen Unwetter, die das Problem weiter verschärft haben. Und das Thema mit der alten Infrastruktur ist ja jetzt eigentlich das neue Narrativ der DB. Man sagt im Prinzip: Ganz plötzlich haben wir Anfang 2023 gemerkt, dass unsere Infrastruktur alt und verrottet ist, und brauchen deshalb dringend mehr Geld vom Bund.

Die Fachleute haben das länger gewusst, die DB und die Politik haben das jahrelang nicht wahrhaben wollen oder zumindest nicht öffentlich gesagt.

Wie abgewirtschaftet ist denn die Infrastruktur – mit dem Schienennetz, mit den Stellwerken, mit den Leitungen?

Man hat natürlich zu wenig investiert, das ist ein ernstes Problem. Und in dem Moment, wenn sie es reparieren, müssen sie auch wieder Strecken sperren. Ich glaube aber, es gibt einen weiteren Aspekt, und den schiebt die DB zurzeit sehr in den Hintergrund: Nämlich, dass das Netz einfach überlastet ist.

Wir haben aus meiner Sicht also zwei Probleme mit der Infrastruktur. Das eine ist tatsächlich die hohe Alterung und der Verschleiß. Das andere ist aber auch, dass wir in den letzten Jahren immer mehr Züge gefahren haben. Die Zahl der Zugfahrten je Kilometer ist in den letzten 20 Jahren um 15 Prozent gestiegen. Und das in einer Infrastruktur, die gleich geblieben oder nominal sogar noch ein bisschen geschrumpft ist.

Außerdem fahren wir in Deutschland anders als in vielen anderen Ländern einen extremen Mischbetrieb: Auf vielen Strecken fahren direkt nacheinander ein Güterzug, ein ICE, ein Regionalzug und in einigen Regionen sogar noch eine Straßenbahn. Wir können in dem Bestandsnetz eigentlich gar nicht so viele Züge fahren, wie wir es heute tun, und ich sehe mit Erschütterung, wie ungerührt Politiker immer noch versprechen, dass man in diese Infrastruktur noch weitere Fahrten reindengeln wird. So werden wir das Netz nie wieder stabil bekommen.

Wo kann man denn sinnvollerweise als erstes den Schalter umlegen? Lässt sich eine Investitionsstrategie der Bahn erkennen?

Nein. Wir haben ja seit 20 Jahren zunehmend die Festlegung, dass die Infrastruktur vom Bund bezahlt wird. Es wird also nur das neu gebaut oder saniert, was der Bund bezahlt. Der Bund ist in diesem Punkt aber völlig chaotisch – wie übrigens auch bei anderer Verkehrsinfrastruktur. Wenn Sie auf die Autobahn gucken, auf den Ausbau der digitalen Infrastruktur oder die Wasserwege, dann sieht das dort nicht viel besser aus.

Wir haben keine Planung, sondern es wird nach Haushaltslage und nach politischen Prioritäten Gelder rauf- und runtergefahren, sodass die Industrie darauf kaum noch reagieren kann.

Geld gibt es doch eigentlich genug – zuletzt wurden die Mittel für die Verkehrswende sogar noch erhöht …

Nein, der Eindruck ist falsch, wenn ich das korrigieren darf. Es gibt zwei große Töpfe. Der eine ist für Ersatzinvestitionen, also Investitionen, die getätigt werden müssen, um das Bestandsnetz zu erhalten. Da hat der Bund 2007 angefangen, das zunächst mit zweieinhalb Milliarden Euro im Jahr zu unterstützen. Inzwischen ist man da bei etwa acht Milliarden gelandet.

Einen weiteren Topf gibt es für den Neu- und Ausbau. Für diesen Topf gab es vor 20 Jahren vier Milliarden Euro im Jahr und dann hat eine Regierung – übrigens damals noch Rot-Grün – die Summe auf 1,5 Milliarden gekürzt. Damit ist der Neubau von Strecken mit wenigen Ausnahmen fast komplett zum Erliegen gekommen. Und die Industrie hat sich dem auch angepasst, da können sie jetzt also nicht einen Schalter einfach umlegen. Selbst wenn jetzt nochmal drei Milliarden extra zur Verfügung stünden, könnten wir die gar nicht ohne Weiteres ausgeben, weil wir gar nicht so schnell planen und bauen können.

Passt es da auch ins Bild, wenn jetzt darüber diskutiert wird, Fernverkehrsverbindungen in den Osten Deutschlands oder in Ferienregionen streichen zu wollen?

Das ist ja so ein Teil von einem großen politischen Gerangel zwischen der DB, die mehr Geld vom Bund will, und dem Bund. Aber die Strecken, um die es geht, sind weitgehend solche, die relativ schwach genutzt werden. Da einen Zug rauszunehmen, würde das Überlastungsproblem nicht lösen. Das Überlastungsproblem ist in den Knoten: in Frankfurt, in München, in Hamburg, in Köln und die Zulaufstrecken.

Bis zum nächsten sportlichen Großereignis in Deutschland ist ja noch ein bisschen Zeit. Was genau würden Sie der Bahn jetzt empfehlen, wie sie die Zeit bis dahin nutzen kann?

Politisch brauchen wir sicher eine bessere Steuerung. Ich glaube, das heutige System mit den Aufsichtsräten, die im Hauptberuf Staatssekretäre oder Bundestagsabgeordnete sind, funktioniert nicht wirklich. Das hat auch der Rechnungshof intensiv kritisiert.

Es braucht klarere Ziele durch die Politik und eine höhere Transparenz. Momentan halten die DB und das Ministerium die Transparenz auf ein absolutes Minimum. Ein Punkt wäre also zu sagen, dass die DB einen jährlichen Bericht veröffentlichen muss, in dem drinsteht, was sie macht, was nichts mit Eisenbahn in Deutschland zu tun hat, wie viel Geld sie damit verdient hat oder wie viel Geld sie damit verloren hat.

Weil sie zum Beispiel über Tochterunternehmen sehr viel auch im Ausland unterwegs ist …

Sie macht ja alle möglichen Beteiligungen. Sie ist an Drohnenfirmen beteiligt, an Drohnenflughäfen und alle möglichen lustigen Sachen. Das wird so gut wie möglich vertuscht, was die Bahn dort wirklich tut. Ich kann also auch nicht sagen, es ist sinnvoll oder nicht. Es ist geheim.

Man sollte die Aktivitäten der DB kritisch überprüfen und sagen: Alles, was nicht mit der Bahn zu tun hat, sollte man bei nächster Gelegenheit verkaufen, wenn es wirtschaftlich irgendwie vertretbar ist. Also die Bahn wirklich konzentrieren auf den Eisenbahnbetrieb in Deutschland und alles, was dazu hilft.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 14. Juli 2024 | 06:00 Uhr

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