Von Asyl bis Zeitenwende Die Bilanz der Ampel-Koalition
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16. November 2024, 12:48 Uhr
Die Ampel-Koalition ist Geschichte. Doch was bleibt vom ersten Bündnis von SPD, Grünen und FDP auf Bundesebene? Was setzte die Regierung um Bundeskanzler Olaf Scholz durch, was ließ sie liegen? Eine Bilanz mit Stimmen von Kritikern und Fachleuten aus Mitteldeutschland.
Inhalt des Artikels:
- Aufbruch als "Fortschrittskoalition"
- Verteidigung: Ukraine-Krieg und Zeitenwende
- Energie und Klimaschutz: Gaskrise und Heizungsgesetz
- Wirtschaft: Strukturelle Probleme ungelöst
- Arbeit und Soziales: Mindestlohn und Bürgergeld
- Asyl und Migration: Dauer-Debatte und Verschärfungen
- Gesellschaft und Demokratie: Liberal bei sexueller Selbstbestimmung
Aufbruch als "Fortschrittskoalition"
Die scheidende Bundesregierung formulierte zu Beginn hohe Ansprüche. Den Koalitionsvertrag überschrieben Sozialdemokraten, Grüne und Liberale am 7. Dezember 2021 mit dem Titel "Mehr Fortschritt wagen". In der Präambel hieß es, die Koalition wolle die "notwendige Modernisierung vorantreiben" und "eine neue Dynamik auslösen". Nach der Ära Merkel herrschte Aufbruchstimmung. Im ARD-Deutschlandtrend nach der Wahl sagte die Hälfte der Befragten, SPD, Grüne und FDP stünden für einen Neuanfang. Jeder zweite Bundesbürger hielt Olaf Scholz zu diesem Zeitpunkt für einen guten Bundeskanzler.
Auf den 177 Seiten ihres Vertrages versprachen die Parteien unter anderem mehr Klimaschutz, eine Digitalisierung der Verwaltung, eine Modernisierung der Infrastruktur sowie bezahlbares Wohnen und ein Ende von Hartz IV. Das Projekt "Frag den Staat" identifizierte später 271 messbare Vorhaben, welche die Ampel angehen wollte. Laut diesem "Koalitionstracker" setzte das Bündnis ein gutes Drittel der Projekte ganz oder teilweise um. Ein weiteres Drittel sei zumindest begonnen worden.
Verteidigung: Ukraine-Krieg und Zeitenwende
Der Abschnitt zum Thema Bundeswehr ist im Koalitionsvertrag lediglich eineinhalb Seiten lang. Zu Russland heißt es: "Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig". Knapp drei Monate nach Unterzeichnung war das Makulatur. Russland überfiel am 24. Februar 2022 die Ukraine. Drei Tage später hielt der Kanzler seine "Zeitenwende"-Rede. Kein Ereignis prägte die Regierungszeit so wie dieses.
Gemeinsam mit der Union legte die Ampel ein Sondervermögen für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro an. Die Kosten für die Unterstützung der Ukraine, etwa für Geflüchtete oder Waffen, belaufen sich bislang auf 37 Milliarden Euro. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Wir werden viel Zeit verlieren.
Der Jenaer Konfliktforscher Rafael Biermann sagt: "Der Kanzler hat mit der Ausrufung der Zeitenwende die deutsche Sicherheitspolitik angemessen auf die neue Sicherheitslage ausgerichtet und Führungsstärke gezeigt." Danach habe die Ampel jedoch "halbherzig und zögerlich" agiert, bilanziert der Professor für Internationale Beziehungen der Universität Jena. Weder habe die Bundesregierung der Ukraine die Mittel gegeben, ihre Territorien zurückzuerobern, noch sei die Bundeswehr in den nötigen Zustand versetzt worden. "Beides bleibt Aufgabe einer künftigen Bundesregierung."
Der ehemalige Nato-General Erhard Bühler zeigt sich in seinem MDR-Podcast ebenfalls unzufrieden. Es gebe nach Ausschöpfen des Sondervermögens keine weitere Finanzplanung für die nötigen Investitionen. Aufgrund des Wahlkampfs und der danach anstehenden Regierungsbildung könnten wichtige Entscheidungen bei der Beschaffung nicht getroffen werden. "Wir werden viel Zeit verlieren", sagte Bühler.
Energie und Klimaschutz: Gaskrise und Heizungsgesetz
Der Ukraine-Krieg wirkte sich drastisch auf die Energieversorgung und die Wirtschaft aus. Die Preise für Strom und Gas stiegen, die Inflation erreichte Rekordhöhen. Die Koalition reagierte mit Energiepreisbremsen. Unternehmen ermöglichte sie, steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämien zu zahlen. Über einer Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken stritten FDP und Grüne so lange, bis der Kanzler per Richtlinienkompetenz einen Kompromiss festsetzte. In Norddeutschland entstanden im Schnellverfahren Terminals für Flüssiggas. Kohlekraftwerke wurden wieder hochgefahren.
Für wochenlange Diskussionen sorgte 2023 die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes, bekannter als Heizungsgesetz. Wirtschaftsminister Robert Habeck zog das Vorhaben wegen des Krieges vor, um im Gebäudesektor schneller Energie zu sparen. Der Entwurf des Grünen-Politikers wurde vorab öffentlich. Es entstand der Eindruck, die Menschen müssten nun funktionierende Heizungen durch Wärmepumpen ersetzen. Das Gesetz schwächte Habeck später ab. Zudem stellte die Ampel hohe Förderungen für neue Heizungen in Aussicht.
Gaskrise, Atomkraftdebatte und Heizungsgesetz überschatten, dass die Koalition auch einige ihrer Ziele erreichte. Sie verbesserte die Bedingungen für Wind- und Solarenergie. Der Ausbau der Eneuerbaren nahm wieder Fahrt auf. Ihr Anteil wuchs kräftig.
Man ist bei weitem nicht so weit gekommen, wie man kommen wollte.
Kritiker sehen unterm Strich nur erste Schritte für besseren Klimaschutz. Heike Wex, Physikerin am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig, sagt: "Es gab Erfolge, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbaren Energien, beim 49-Euro-Ticket und anderem." Der Ukraine-Krieg und die daraus folgende Inflation hätten klimafreundliche Politik jedoch erschwert, schätzt die Forscherin, die sich bei "Scientists for Future" engagiert.
Die Klima-Ökonomin Claudia Kemfert bezeichnet die Klimapolitik der Ampel in ihrem MDR-Podcast als wenig ambitioniert. "Sie hat ein paar Dinge am Anfang gut auf den Weg gebracht, aber dann ist ihr die Luft ausgegangen." Auf der Habenseite sieht Kemfert die Verbesserungen bei Wind- und Solarenergie. Demgegenüber hingen aber zahlreiche wichtige Gesetze aufgrund des Koalitionsbruchs momentan in der Schwebe. Kemfert bilanziert: "Man ist bei weitem nicht so weit gekommen, wie man kommen wollte."
Wirtschaft: Strukturelle Probleme ungelöst
Gaskrise und Inflation bremsten die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland aus. Doch die Regierung trägt nach Einschätzung von Ökonomen auch selbst Verantwortung für die schlechte wirtschaftliche Lage. Sie löste strukturelle Probleme nicht oder nur ansatzweise, etwa die ohnehin hohen Energiepreise, Fachkräftemangel oder die Überbürokratsierung. Der Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, sagt: "Die Bundesregierung hat es nicht vermocht, einen klaren wirtschaftspolitischen Kurs zu steuern, der – bei aller geopolitischen Unsicherheit in der Welt – Haushalten und Unternehmen zumindest eine gewisse Planungssicherheit bezüglich relevanter Rahmenbedingungen im Inland gibt."
Die Zahlen sehen zum Ende der Regierungszeit schlecht aus. Das Bruttoinlandsprodukt liegt in etwa auf dem gleichen Niveau von vor drei Jahren, die Arbeitslosenquote ist gestiegen und die Wirtschaftsweisen prognostizieren für 2025 allenfalls ein sehr geringes Wachstum. Bezeichnend für die Lage: Mit Volkswagen steckt das größte Unternehmen des Landes zum Ende der Regierungszeit tief in der Krise; die Ansiedlung eines Werks von Intel bei Magdeburg liegt auf Eis; die "Wachstumsinitiative" der Regierung harrt noch der Umsetzung – trotz lauter Hilferufe aus der Wirtschaft.
Finanzpolitisch hat die Bundesregierung bereits mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 den Boden verloren.
Beim Thema Wirtschaft zeigten sich die Unterschiede der drei Partner vielleicht am deutlichsten. In den Monaten vor dem Koalitionsbruch präsentierten alle drei Parteien eigene Positionen zum Thema. Finanzminister Christan Lindner und Kanzler Scholz hielten separate Gipfeltreffen mit der Wirtschaft ab. Eine Einigung auf einen gemeinsamen Weg scheiterte an unterschiedlichen finanzpolitischen Vorstellungen. Während SPD und Grüne mehr Schulden aufnehmen wollten, um Investitionen zu tätigen, lehnte die FDP das ab.
Wirtschaftswissenschaftler Holtemöller sagt: "Finanzpolitisch hat die Bundesregierung bereits mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 den Boden verloren. Seitdem ist es ihr nicht gelungen, die öffentlichen Finanzen zukunftsgerecht zu ordnen." Das Gericht hatte die Umwidmung von Corona-Mitteln in einen Klimafonds für verfassungswidrig erklärt, wodurch 60 Milliarden Euro in der Planung fehlten.
Arbeit und Soziales: Mindestlohn und Bürgergeld
Trotz schlechter Haushaltslage setzte die Ampel besonders viele Vorhaben im Sozialbereich um. Die SPD löste zentrale Wahlkampfversprechen ein. Der Mindestlohn stieg per Gesetz auf 12 Euro, das Bürgergeld ersetzte das Hartz-System. Von der Mindestlohn-Erhöhung profitierten insbesondere Frauen und Beschäftigte in Ostdeutschland. Auch die Einführung des Bürgergeldes und mithin die Erhöhung der Bedarfssätze nutzte den ostdeutschen Bundesländern, weil hier die Arbeitslosenquoten im Durchschnitt höher sind als in den westdeutschen Ländern.
Für Familien wurden ebenfalls Leistungen ausgebaut. Unter anderem erhöhte die Ampel das Kindergeld, stockte die Zahl der Kinderkrankentage auf und weitete das Wohngeld aus. Bei der Rente gelang Historisches: Zum 1. Juli 2023 erreichte der Rentenwert Ost das gleiche Niveau wie im Westen.
Andererseits stritt die Ampel beim Thema Rente anhaltend. Lange Zeit einigte sie sich nicht auf ein geplantes Rentenpaket. Dabei wollte die Regierung erstmals mit Anlagen am Kapitalmarkt zusätzliche Einnahmen für die Rentenversicherung generieren und das Rentenniveau stabilisieren. Diese Reform kommt nun nicht mehr.
Das Bürgergeld schafft neue Perspektiven und Chancen für Arbeitslose und für viele Menschen mehr Sicherheit.
Ebenso wenig gelang der Ampel die Umsetzung der Kindergrundsicherung, ein zentrales Wahlkampfversprechen der Grünen. Mit dem Projekt sollten zahlreiche Sozialleistungen für Familien gebündelt werden. Das Bundeskabinett verständigte sich zwar nach langem Zwist auf einen Gesetzentwurf, aber im Bundestag kam es zu keinem Beschluss mehr.
Nach Einschätzung der Landesleiterin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Sachsen-Anhalt, Susanne Wiedemeyer, trübt das Scheitern der Kindergrundsicherung die sozialpolitische Bilanz: "Damit wurde die Chance verpasst, die Unterstützungsleistungen für Kinder und Jugendliche substanziell zu verbessern." Negativ sei auch, dass die Renten nicht stabilisiert würden und eine umfassende Pflegereform fehle. Das Bürgergeld und die Erhöhung des Mindestlohns gehörten hingegen zu den Pluspunkten. "Das Bürgergeld schafft neue Perspektiven und Chancen für Arbeitslose und für viele Menschen mehr Sicherheit. Die höheren Regelsätze lindern existenzielle Nöte besser als frühere Leistungen."
Asyl und Migration: Dauer-Debatte und Verschärfungen
Spätestens im Wahlkampf zur Europawahl 2024 und den folgenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen geriet die Zuwanderung zum wichtigsten Thema. Landkreise und Städte warnten vor einer Überlastung bei Unterbringung und Integration von Geflüchteten. Union und AfD forderten von der Ampel beständig Verschärfungen am Asylrecht, Grenzkontrollen und mehr Abschiebungen – mit Erfolg.
Ein Fanal für den Kurswechsel der Ampel: Im Oktober 2023 zitierte der "Spiegel" den Kanzler auf dem Titel mit der Aussage "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben." Passend zu dieser Aussage stimmte Deutschland im Frühjahr 2024 nach jahrelangen Verhandlungen schärferen EU-Asylregeln zu. Die Pläne sehen unter anderem Asylverfahren an den EU-Außengrenzen vor.
Innenpolitisch setzte die Regierung ebenfalls mehrere Verschärfungen um. So weitete die Ampel unter anderem den Ausreisegewahrsam von zehn auf 28 Tage aus, führte an den Binnengrenzen stationäre Kontrollen ein, beschloss eine Bezahlkarte für Asylbewerber und schob Menschen in das von den islamistischen Taliban regierte Afghanistan ab.
Beim Thema Asyl sieht die Chemnitzer Migrationsforscherin Birgit Glorius allerdings generell begrenzte Möglichkeiten einer Bundesregierung: "Denn um Fluchtursachen abzubauen und damit den Wanderungsdruck in Richtung Europa und Deutschland zu mindern, benötigt es eine gemeinsame Anstrengung der internationalen Gemeinschaft." Glorius lobt, dass die Ampel "wichtige Etappen" geschafft habe, um Deutschland zu einem "modernen Einwanderungsland" zu machen. Sie verweist auf die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz.
Gesellschaft und Demokratie: Liberal bei sexueller Selbstbestimmung
Die Ampel trat auch für einer Liberalisierung und Modernisierung in gesellschaftspolitischen Fragen an. Hier setzte sie angekündigte Vorhaben um. Sie strich etwa das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche (Paragraph 219a), legalisierte teilweise Anbau und Konsum von Cannabis und verabschiedete ein Selbstbestimmungsrecht, damit nicht-binäre beziehungsweise trans- und intersexuelle Menschen freier über ihren Namen und Personenstand entscheiden können.
Die scheidende Bundesregierung schrieb sich zudem den Schutz gesellschaftlicher Vielfalt auf die Fahne, insbesondere vor der Bedrohung durch den Rechtsextremismus. Das manifestierte sich in der Regierungszeit etwa durch mehrere Verbote extremistischer Gruppen. So verbot Innenministerion Nancy Faeser (SPD) etwa die "Hammerskins", die "Artgemeinschaft" und das "Compact"-Magazin. Letzteres setze das Bundesverwaltungsgericht jedoch vorläufig aus.
Nachdem das Magazin "Correctiv" Anfang 2024 von einen Treffen von hochrangigen AfD-Vertretern berichtete, demonstrierten in Deutschland viele tausend Menschen gegen Rechtsextremismus. Darauf reagierte die Regierung mit einem 13-Punkte-Plan. Einer der Punkte ist der Schutz des Bundesverfassungsgerichts, welcher noch vor der Neuwahl im Februar mit Stimmen der Opposition umgesetzt werden soll.
Der Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus an der Uni Jena, Johannes Streitberger, konstatiert, dass die Gefahr durch den Rechtsextremismus trotz der Bemühungen in den letzten Jahren größer geworden sei: "Es kommt zu mehr Gewalt- und Straftaten, das Personenpotenzial wächst, die Rechtsrock-Szene erholt sich und die Zahl der Demonstrationen nimmt zu." Thüringen-Monitor und die Leipziger Autoritarismus-Studie verzeichneten eine Zunahme rechtsextremer Einstellungsmuster. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft hinterlasse es daher eine klaffende Lücke, dass die Regierung kein Demokratiefördergesetz zustande gebracht habe. Mit dem von Kabinett schon verabschiedeten Vorhaben sollten Demokratieprojekte dauerhaft verlässlich finanziert werden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Fernsehen | 07. November 2024 | 19:30 Uhr
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