Nach AfD-Wahlerfolgen "Strukturen der extremen Rechten haben sich etabliert"

08. Juli 2023, 05:00 Uhr

Die AfD ist in Ostdeutschland besonders erfolgreich. Das hat auch etwas mit Transformationsprozessen nach der Wende zu tun, sagt Rechtsextremismusforscher Oliver Decker und erklärt im Interview, welche Folgen dies für die Demokratie hat.

Frage: In der vergangenen Woche ist der erste AfD-Landrat in Thüringen gewählt worden, nun in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt der erste hauptamtliche Bürgermeister für diese Partei. Viele sehen dadurch sogar die Demokratie in Gefahr – gerade in Ostdeutschland. Wie können andere Parteien darauf reagieren?

Antwort: Ich denke, die Bevölkerung selber ist insgesamt gefordert. Aber von der Politik erwarte ich an der Stelle auch eine klare Auseinandersetzung und eine klare Benennung des Problems, auch Auseinandersetzungen mit den Ursachen.

Was sehen Sie denn als Ursachen?

Die wesentlichen Ergebnisse des Policy Papers sind im Grunde genommen, dass die Demokratie in Ostdeutschland als Idee immer noch eine sehr hohe Akzeptanz hat. Aber sobald es ans Konkrete geht, sowohl die verfassungsmäßige Ordnung, aber auch vor allen Dingen die Alltagserfahrung in der Demokratie, gibt es eine sehr hohe Unzufriedenheit.


Zur Person und zur Studie Oliver Decker ist Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle Praxis an der Sigmund-Freud-Universität Berlin. Er ist auch Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts in Leipzig und gibt seit 2002 die Autoritarismusstudie mit heraus. Decker hat zusammen mit anderen vor Kurzem das "EFBI Policy Paper 2023-2: Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie" herausgegeben. Ein Ergebnis dieser repräsentativen Befragung: 91 Prozent der Ostdeutschen können sich mit der Demokratie als Idee identifizieren, allerdings ist weniger als die Hälfte zufrieden mit ihrem Alltagserleben in der Demokratie. 77 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern meinen sogar, sie hätten keinen Einfluss darauf, was die Regierung macht.

Die Demokratie hat in Ostdeutschland als Idee immer noch eine sehr hohe Akzeptanz.

Oliver Decker Rechtsextremismusforscher

Was bedeutet das?

Das spiegelt sich auch wieder in dem Gefühl, keinen Einfluss zu haben auf die Regierung, beziehungsweise es auch für sinnlos zu halten, sich zu engagieren. Es bedeutet auf jeden Fall einen Legitimationsverlust der parlamentarischen Demokratie wie wir sie derzeit haben.

Was sticht dabei in der Studie besonders hervor?

Dass es einzelne Bundesländer gibt, die sehr, sehr hohe Werte haben – gerade in Ostdeutschland sind unterschiedliche Einstellungsdimensionen besonders hoch. Sachsen-Anhalt hat zum Beispiel einen sehr hohen Anteil an manifestiert rechtsextremen – mit über zehn Prozent.

Zum Policy Paper und Ausländerfeindlichkeit   Die Befragung unter 3.500 Menschen aus Ostdeutschland hat auch ergeben, dass sieben Prozent ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Elemente der Neo-NS-Ideologie würden zwar nicht im selben Maße offen geäußert, antisemitische und sozialdarwinistische Statements finden aber ebenfalls Zustimmung – ein Drittel der Bevölkerung stimmt ihnen vollständig oder teilweise zu. Ausgeprägt ist die Zustimmung in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dort sei das Potenzial für extrem-rechte und neonazistische Parteien, Wähler zu finden, besonders hoch. Jeder zweite wünscht sich eine ‘starke Partei‘, die die ‚Volksgemeinschaft‘ insgesamt verkörpert.

Die Ausländerfeindlichkeit in den ostdeutschen Bundesländern ist hoch, obwohl es hier den geringsten Anteil gibt. Wie kommt es dazu?

Die Ressentiments sind nicht aufgrund von Erfahrungen da, sondern weil die Menschen eine massive Aggression haben, die sie dann auf irgendwelche Menschen projizieren. Der Psychologe würde von einer Sündenbock-Logik sprechen. Wir haben es nicht mit einem Phänomen zu tun, das durch Migranten verursacht ist, sondern was sehr stark motiviert durch eine Wut ist, die ohnehin schon in der Bevölkerung existiert.

Die Ergebnisse ihrer Studie sind nicht neu, sondern seit 20 Jahren relativ konstant. Was bedeutet das für die politische Einstellung besonders der Menschen in Ostdeutschland?

Als wir mit unserer Studienreihe 2002 begonnen haben, konnten wir in West wie Ost sehen, dass diese rechtsextreme Einstellung über alle Bevölkerungsgruppen hinweg sehr weit verbreitet ist. Das ist etwas, was damals nicht auffiel, weil diese rechtsextrem Eingestellten noch sehr stark gebunden waren an die CDU und SPD. Diese Wählerbindung hat sich gelockert.

Was hat sich geändert?

Es wird sichtbarer. Nun wird eine rechtsextreme Partei gewählt, zum Teil auf lokaler Ebene in den ostdeutschen Bundesländern sogar offen neonazistische Parteien. Hier hat sich etwas verändert. Die Menschen wählen und handeln nun in der Breite, wie sie denken. Das war vorher nicht so klar.

Welche Folgen hat das?

Mit dieser hohen Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Demokratie lösen sich auch andere Elemente. Wir befinden uns in einer sehr massiven Konfliktsituation. Wir haben einen offenen Konflikt um die Frage: Wie wollen wir zusammenleben in der Gesellschaft?

Was sind die Konfliktpunkte?

Was sind Vorstellungen davon, was Demokratie eigentlich auszeichnet? Was ist eine plurale Demokratie? Wie steht es um Minderheiten, Richtungen, ähnliches. Und das ist etwas, was jetzt neu verhandelt wird und mit einer größeren Dringlichkeit auch verhandelt werden muss.

Ist die Demokratie also im Osten nie richtig angekommen?

Was wir derzeit sehen, hat mit der DDR gar nicht mehr so viel zu tun, sondern vielmehr mit Nachwende und Transformationserfahrungen, die die Menschen gemacht haben. Wir müssen eher schauen: Was war die Entwicklung der letzten 30 Jahre, die diese massive Unzufriedenheit mit der Demokratie verursacht haben.

Was war die Entwicklung der letzten 30 Jahre, die diese massive Unzufriedenheit mit der Demokratie verursacht haben.

Oliver Decker Sozialpsychologe

Welche Faktoren sehen Sie?

Die Unzufriedenheit, die wir momentan sehen, hat mit Sicherheit sehr viel mehr mit den Erfahrungen nach der Wende und den Transformationsprozessen zu tun. Der Weg in die Demokratie und die Vereinigung wurde von den Menschen in der DDR selber angestoßen. Alles, was danach kam, wurde sehr stark vom Westen dominiert. Und viel von den Demokratie-Erwartungen, die bei den ostdeutschen Menschen existiert hatten, haben sich nicht realisiert.

Spielen auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle?

Das ist ein großer Einflussfaktor. Wer Sorge hat, dass es der deutschen Wirtschaft demnächst schlecht geht, stimmt auch deutlich häufiger rechtsextremen Aussagen zu.

Haben Rechtsextremisten in den vergangenen 20 Jahren mehr Einfluss bekommen?

Die rechtsextreme Einstellung ist nach unseren Messungen im Langzeitverlauf nicht gestiegen. Das, was sich verändert hat, ist, dass sie jetzt momentan handlungsleitend werden.

Was heißt das?

Es gibt Strukturen der extremen Rechten, die haben sich etabliert. Sie können mittlerweile auf Netzwerke zurückgreifen, die sich gut etabliert haben und damit natürlich auch stärker an Einfluss gewinnen, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Hat das auch etwas speziell mit der AfD zu tun?

Der AfD ist es gelungen, das zu realisieren, was die NPD zwar plante, aber nicht geschafft hat: den Brückenschlag zwischen der Straße und einem nationalkonservativen Lager. Das entfaltet zum einen Erfolge an der Wahlurne. Andererseits sehen wir gerade, dass eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die als Ressentiment in der Bevölkerung existiert, zu einem politischen Programm gemacht wird.

Sie befürchten, dass es zu einer weiteren Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft in Ostdeutschland kommt?

Das ist jetzt nicht allein das Problem, dass es auch Interessensunterschiede gibt. Aber diese Gruppen reden nicht mehr miteinander. Es ist im Grunde genommen eine Form von innerer Kampfhaltung, in der sich viele Menschen befinden. Das ist in den rechtsextremen Gruppen noch stärker ausgeprägt. Es entspricht ihrer Ideologie.

Und das hat Folgen für die Demokratie?

Dazwischen noch eine Vermittlung hinzubekommen ist sehr schwierig, wenn sie grundsätzlich davon ausgehen, dass ihr Gegenüber überhaupt keine Berechtigung hat für seine politische Position, dann werden sie auch keinen demokratischen Aushandlungsprozess hinbekommen.

Weil es voneinander abgegrenzte Gruppen sind?

Wir haben es unserer Einschätzung nach mit einer Entgrenzung zu tun durch beständige Transformationsprozesse, die so etwas wie einen Wunsch nach Abgeschlossenheit, Abgegrenztheit und auch Gruppenidentität mit hervorbringt. So versuchen viele Menschen wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, in einer Zeit, in der sie ständig flexibel sein müssen.

Dafür brauchen wir eine starke Zivilgesellschaft, die sich in diese Auseinandersetzung begibt.

Oliver Decker Professor

Aber muss das eine Demokratie nicht auch aushalten können – auch wenn es extreme Auffassungen sind?

Ich denke, die muss sie nicht aushalten können. Aber es gehört eben zur Aufgabe der Demokratie, in eine offensive Auseinandersetzung mit diesen Inhalten zu gehen. Dafür brauchen wir eine starke Zivilgesellschaft, die sich in diese Auseinandersetzung begibt.

Es ist aber doch auch Aufgabe der Politik.

Wie gesagt, ich denke, die Bevölkerung ist insgesamt gefordert. Aber von der Politik erwarte ich eine Auseinandersetzung mit den Ursachen. Und dazu gehört auch, dass sie die demokratische Partizipationsrate gerade in Ostdeutschland stärkt. Hier gibt es massive Defizite.

Quelle: mpö

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 05. Juli 2023 | 20:15 Uhr

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