"Die Allee" Wie ein Roman die Architekturgeschichte der DDR neuentdeckt
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12. Februar 2025, 04:00 Uhr
Hermann Henselmann war Chefarchitekt Ost-Berlins. Er entwarf Teile der damaligen Stalinallee und den Berliner Fernsehturm, mit dem Jentower in Jena oder dem Leipziger Uniriesen prägte er aber auch Innenstädte in Mitteldeutschland. Nun hat seine Enkelin Florentine Anders einen Roman über Hermann Henselmann vorgelegt, der ihre Familiengeschichte auf kundige und mitreißende Weise mit der Architekturgeschichte der DDR verbindet.
- Florentine Anders' Roman "Die Allee" bespricht das Leben des DDR-Architekten Hermann Henselmann, der sich zum Visionär seiner Branche etabliert.
- Hinter dieser schillernden Fassade ist sein Familienleben gezeichnet von Gewalt, die er auf seine acht Kinder und seine Frau ausübt.
- Der Roman verwebt beide Ebenen geschickt miteinander, überfrachtet dadurch allerdings auch Handlungsstränge.
Als kurz nach der Gründung der DDR der Wiederaufbau Berlins beginnt, hat der Architekt Hermann Henselmann Großes vor: Er will an die Moderne anknüpfen, die unter den Nationalsozialisten verpönt war. Doch Moskau verordnet einen strengen Kurs. Gebaut werden soll nach den Prinzipien des sozialistischen Realismus. Gefragt sind nationale Traditionen und kein internationaler Stil. Hermann Henselmann, 1905 im Südharz geboren, setzt trotzdem darauf, seine Ideen umsetzen zu können.
Visionärer DDR-Architekt, privat ein Choleriker
Der Roman "Die Allee" zeichnet das Leben von Hermann Henselmann nach – von den frühen 30er-Jahren bis zu seinem Tod 1995: Mit den nötigen Beziehungen schafft er es, als junger Architekt im Krieg als "unabkömmlich" zu gelten. Nach dem Kriegsende, das er in Gotha erlebt, übernimmt Henselmann die Leitung der Hochschule für Bauwesen in Weimar. Später wird er zum Chef-Architekten Ost-Berlins und versteht es, andere mit seinen visionären Ideen in den Bann zu ziehen. Im Privaten neigt er zu Wutausbrüchen.
Diese bekommen vor allem seine acht Kinder zu spüren: Seine Tochter Isa erleidet im Krieg ein Hörtrauma, das lange unentdeckt bleibt. Sie wird fortan bestraft, weil sie nicht auf die Anweisungen der Eltern hört. Sein Sohn Andreas, der fürs Bettnässen regelmäßig eine Tracht Prügel bezieht, hat im Heizungskeller eine Stelle gefunden, aus der ihn kein Erwachsener herausholen kann.
Familiengeschichte trifft DDR-Kulturszene
Neben Hermann Henselmann rückt der Roman auch seine Frau und seine Tochter Isa besonders in den Fokus. Sie leidet seit ihrer Kindheit unter der Wut des Vaters und der fehlenden Liebe der Mutter. Isas spätere Unabhängigkeit ist schwer erkämpft: Sie wehrt lange Anwerbungsversuche der Stasi ab und sitzt für sechs Wochen in einer so genannten "Tripperburg" ein.
"Die Allee" erzählt somit vom DDR-Alltag in beinahe all seinen Facetten. Der anfängliche Idealismus hat ebenso Raum wie spätere Repressalien. Zudem tritt das Who's Who der DDR-Kulturszene auf. Denn der Familie standen unter anderem Bertolt Brecht und Brigitte Reimann nahe. Letztere recherchiert offenkundig an ihrem Roman "Franziska Linkerhand", als sie sich von Hermann Henselmann über eine seiner Baustellen führen lässt.
Ein Parforceritt durch die jüngere Geschichte
Der Roman "Die Allee" leidet mitunter darunter, dass er sehr viel erzählen muss: das schillernde Leben von Hermann Henselmann, der Versuch seiner Frau und seiner Kinder, auf eigenen Beinen zu stehen, und die politischen Umwälzungen von sechs Jahrzehnten. Dadurch kann nicht jede dramatische Wendung, gerade im Leben von Isa, ihre erzählerische Wucht entfalten. Ein kundiger und mitreißender Parforceritt durch die jüngere Geschichte, nicht zuletzt durch die Architekturgeschichte der DDR, ist "Die Allee" aber allemal.
Angaben zum Buch:
Florentine Anders: "Die Allee"
Galiani Berlin
erscheint am 13. Februar 2025
ISBN: 978-3-86971-320-5
352 Seiten
24 Euro
Redaktionelle Bearbeitung: gw
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | KULTUR am Nachmittag | 10. Februar 2025 | 17:40 Uhr