Analyse zum Koalitionsvertrag Ein Großer Wurf mit Vorbehalten
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11. April 2025, 11:24 Uhr
Union und SPD tun es wieder. Die fünfte schwarz-rote Koalition hat sechs Wochen nach der Bundestagswahl eine vertragliche Grundlage und steht kurz vor dem Abschluss. Der Blick in das Schriftstück offenbart einen großen Schluck aus der Pulle, viele Chancen, alte Strukturen, Umetikettierung, ein paar offensichtliche Klientel-Geschenke und ein über allem schwebendes großes Fragezeichen. Namentlich: den Finanzierungsvorbehalt.
- Beschlüsse zum Sondervermögen sind Grundlage für wirtschaftliche Planbarkeit
- Renten bleiben ohne richtige Reform – Nachteil für junge Generation
- Milde seitens der SPD beim Thema Asyl und Migration, Union mit strenger Hand
- Reformierung des Bürgergelds und Heizungsgesetz könnte sich auf Namensänderung beschränken
- Alle Vorhaben stehen unter einem "Finanzierungsvorbehalt"
Betont unaufgeregt und strebsam präsentieren sich die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD am Mittwoch in Berlin, als sie ihren Koalitionsvertrag vorstellen. Nüchtern grau, nahezu bieder, ist der Hintergrund der Bühne, die im Ausschussgebäude des Bundestages aufgebaut wurde. Ein Kontrast zur Ampel, die sich vor dreieinhalb Jahren in einem schicken Industriegebiet mit Backsteinoptik und grellen Farben präsentierte.
Hier im Parlament werden wir umsetzen, was wir heute ankündigen – so der schnörkellose Subtext zum Titel des schwarz-roten Vertragswerks: "Verantwortung für Deutschland". Taten statt Tamtam – das wollen Union und SPD vermitteln. Aber jetzt raus aus der Stilkritik und rein in die Inhalte.
Chancen und ein Schluck aus der Pulle
Schwarz-Rot will die schwächelnde deutsche Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Die Mittel der Wahl sind Steuererleichterungen für Unternehmen, ein Industriestrompreis oder auch erheblich erleichterte Abschreibungen für große Investitionen. Bürokratieabbau und Klimaschutz inklusive.
Gepaart mit den 500 Milliarden Euro an zusätzlichen – schuldenfinanzierten – Investitionen in die Infrastruktur könnte das eine gesamtwirtschaftliche Wirkmächtigkeit entfachen, die über die gekannten Größenordnungen der letzten Jahre bei Weitem hinausgeht. Das birgt Chancen für die marode Infrastruktur, für abgehängte Regionen, für Wohnungsbau, Klimaneutralität und Arbeitsplätze in Ost und West.
Manche Wirtschaftsverbände goutieren schon jetzt, dass endlich wieder Planbarkeit in die Bundesrepublik einkehre. Wohlgemerkt eine Planbarkeit, die ohne die Sondervermögen-Beschlüsse des alten Bundestages vor wenigen Wochen – also auch dank der Grünen – so nicht möglich geworden wäre.
Verkrustete Strukturen
Das heutige Rentenniveau von 48 Prozent soll bis 2031 gesetzlich festgeschrieben werden. Für baldige Rentner ist das super, für junge Menschen weniger. Die demografische Entwicklung frisst den Rentenanspruch junger Menschen auf, wenn es zu keinen grundlegenden Reformen kommt. Diese wollen Union und SPD laut Koalitionsvertrag jetzt prüfen.
Tiefgreifende Ideen, den Fachkräftemangel zu beheben, eine Steuerreform und eine Beendigung des Zwei-Klassen-Gesundheitssystems hätten gerade weniger gut gestellten Menschen, die leider immer noch häufiger im Osten der Bundesrepublik anzutreffen sind, womöglich mehr geholfen als ein zeitlich begrenztes "Weiter so" auf Pump.
Was für Rente und Krankenversicherung gilt, gilt auch für die sonstigen Ausgaben von Union und SPD. Fürs Erste sind wir flüssig, aber ohne weitere Reformen etwa bei Genehmigungsverfahren, wird auch der angepeilte Booster für die Infrastruktur hinter den Erwartungen zurückbleiben.
Migration und Flucht
Das Grundrecht auf Asyl bleibt in Deutschland bestehen. Weder für Migranten noch für Flüchtlinge gibt es auf absehbare Zeit Obergrenzen. Diese Umstände tragen die Handschrift der SPD. Die Union hat durchgesetzt, dass Menschen mit besonders guten Integrationsleistungen anstatt nach derzeit drei Jahren, bald nur noch nach fünf Jahren eingebürgert werden dürfen. Der Familiennachzug wird ausgesetzt, die Bezahlkarte für Flüchtlinge wird bundesweit eingeführt.
Sonst will die neue Bundesregierung die gemeinsame europäische Asylpolitik in deutsches Recht gießen, an den Grenzen in Absprache mit den europäischen Partnern zurückweisen und schneller abschieben. All das hängt – wie auch schon in der vergangenen Legislaturperiode – vor allem von unseren Partner- und Drittstaaten ab.
Klientel-Geschenke und Umetikettierung
Neues Etikett und gleicher Inhalt: Heizungsgesetz und Bürgergeld dürfen sich laut Koalitionsvertrag auf neue Namen und leichte Änderungen freuen. An deren Ausgestaltung wird das nicht viel ändern.
Das Bürgergeld wird nicht restlos gestrichen. Hinter das verfassungsrechtlich zugesicherte Existenzminimum kann und darf auch die Union nicht zurückschreiten, auch wenn sie den Eindruck erwecken möchte. Auf die positiven Klima-Effekte des Heizungsgesetzes ist die Union ebenfalls angewiesen. Die geltenden EU-Verträge, das 1,5 Grad-Ziel sind bindend. Wir dürfen also gespannt sein, wie das neue Gebäudeenergiegesetz mit dem trotzigen Zusatz "technologieoffen", am Ende heißen wird.
Weiter bleibt auch die Frage unbeantwortet, ob wir jemals eine Bundesregierung mit CSU-Beteiligung ohne Agrardiesel-Subvention und Mütterrente erleben werden. Die Evergreens der bayerischen Christsozialen haben es auch in diesen Koalitionsvertrag geschafft. Doch halt! Die Finanzierung könnte wackeln.
Das große Fragezeichen
Fast alles, was Union und SPD verhandelt haben, steht unter einem sogenannten "Finanzierungsvorbehalt". Es soll also nur das gemacht werden, was auch bezahlt werden kann. In so unsicheren Zeiten wie diesen, in denen die Launen des US-Präsidenten Börsenkurse einstürzen lassen können und staatliche Einnahmen schwer kalkulierbar sind, scheint ein solches Vorgehen auch angeraten.
Somit stehen die Mütterrente oder auch die Pendlerpauschale auf dem Prüfstand. Die Sondervermögen sollen dafür nicht herhalten. Die sogenannte "Zusätzlichkeit" derselbigen soll garantieren, dass Schwarz-Rot die Schulden-Milliarden nur für Projekte außerhalb der laufenden Haushalte anwendet.
Genau hier wird die Öffentlichkeit den Koalitionären auf die Finger gucken müssen. Sonst dürfte das größte Pfund der kommenden Koalition schnell verpuffen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 10. April 2025 | 17:45 Uhr