Bernd Siggelkow, Chef der Arche in Berlin 20 min
Hören Sie das gesamte Interview als Podcast: Sven Kochale und Arche-Gründer Bernd Siggelkow im "Interview der Woche" Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services

Interview der Woche Gründer des Kinderhilfswerks Arche: "Wir haben jeden Tag mit der Ohnmacht des Staats zu tun"

13. April 2025, 09:27 Uhr

Der Gründer des Kinderhilfswerks Arche, Bernd Siggelkow, sieht die Politik im Umgang mit Kinderarmut und sozialen Brennpunkten in einer Ohnmacht. Im Interview mit MDR AKTUELL kritisiert er fehlende Perspektiven für benachteiligte Familien, überforderte Behörden und eine fehlgeleitete Sozialpolitik.

MDR AKTUELL: Herr Siggelkow, beobachten Sie in der Politik hin und wieder ein schlechtes Gewissen?

Bernd Siggelkow: Ich weiß nicht, ob man "ein schlechtes Gewissen" sagen kann. Aber natürlich gibt es wichtige Themen, gerade Wirtschaft, Migration, Wohnungsbau. Da stecken wir in der Krise. Wir haben so viele Krisen. Und in all den Jahren, seitdem es ein Armuts- und Reichtumsbericht gibt, gehen die Themen Kinderarmut, für die wir stehen, ganz häufig unter.

Bernd Siggelkow Bernd Siggelkow ist Pastor und Sozialarbeiter. 1995 gründete er in Berlin-Hellersdorf das Kinderhilfswerk "Die Arche", um sozial benachteiligten Kindern Halt und Perspektiven zu geben. Heute ist die Arche bundesweit an über 30 Standorten aktiv. Siggelkow wuchs selbst unter schwierigen Bedingungen auf und engagiert sich seit Jahrzehnten für Chancengleichheit. Für sein Wirken erhielt er u. a. das Bundesverdienstkreuz und den Bambi.

Wir haben dann eben mit all diesen Problemen zu tun, wo man vielleicht jetzt ganz aktuell Menschen ins Land holt und die dann in Einrichtungen wie der Arche parkt. Oder bei Corona nicht bei den Menschen ist, sondern einfach alles zumacht und sich nicht darüber Gedanken macht, was dann letztendlich passieren kann. Und vor allem jetzt bei dieser großen Bildungsmisere, die uns immer bewusster wird, wo Kinder auf der Strecke bleiben und wir 60.000 Schulabgänger haben, die gar keinen Schulabschluss schaffen.

Warum meinen Sie, dass bei Ihnen in der Arche die Kinder geparkt würden? Das würde bedeuten, dass sich der Sozialstaat ausgerechnet um diese Gruppe nicht kümmert.

Was macht er denn in letzter Instanz? Mir ist es ganz deutlich geworden, als der Angriffskrieg gegen die Ukraine ausbrach. Da kamen auf einmal viele Frauen mit ihren Kindern nach Deutschland. Wir haben dann ein Versorgungszentrum in der Hauptarche eröffnet, wo die Kinder und die Eltern sich Lebensmittel, Kleidung und Spielzeug nehmen konnten. Also alles, was sie zurückgelassen hatten.

Mir ist aufgefallen, dass die Frauen den ganzen Tag an ihrem Handy waren, weil sie versucht haben, ihre Männer zu erreichen. Sie haben sie aber nicht erreicht. Im besten Fall war der Akku leer und im schlimmsten Fall war der Mann nicht mehr da und die Frauen waren allein.

Wenn es das Ehrenamt in Deutschland nicht geben würde, auf das sich die Politik häufig verlässt, dann würde vieles schiefgehen.

Bernd Siggelkow Gründer Kinderhilfswerk "Die Arche"

Man hat sie ins Land gelassen, hat ihnen Wohnraum und auch Geld gegeben. Aber die Möglichkeiten, sich auszutauschen, die gab es nicht. Dann haben wir einen Hof geöffnet und haben bis zu 300 Menschen dort gehabt, die sich den ganzen Tag miteinander beschäftigt haben. Wir haben Mitarbeiter eingestellt, die die Sprache gesprochen haben, um diesem Trauma, was viele erlebt haben, vorzubeugen und zu unterstützen. Und wenn es das Ehrenamt in Deutschland nicht geben würde, auf das sich die Politik häufig verlässt, dann würde vieles schiefgehen.

Das war von Ihnen wahrscheinlich so nicht geplant? Sie haben vermutlich gehofft, dass die Politik sehr schnell Lösungen finden würde?

Natürlich hat jeder damit gerechnet, dass der Krieg hoffentlich schnell zu Ende geht. Wir wollten alle keinen Krieg in Europa. Mittlerweile zieht sich das seit drei Jahren hin. Dann haben wir seit 2015 auch eine Flüchtlingswelle. Wir haben immer größere Herausforderungen, alles ist teurer geworden. Gerade die Menschen, mit denen wir arbeiten, also bedürftige Familien, die haben es auch immer schwerer. Wir haben mittlerweile Eltern in der Einrichtung, die verzichten auf eine Mahlzeit, damit ihre Kinder wenigstens satt werden.

Müssen Sie auch Anfragen ablehnen und Kinder wegschicken?

Also das würde mir das Genick brechen. Wir haben natürlich in vielen Einrichtungen kaum noch Kapazitäten. Wir haben in Bremerhaven im letzten Jahr eine Einrichtung eröffnet, konzipiert für 50 bis 60 Kinder. Da kommen mittlerweile hundert Kinder. Die Mitarbeiter rufen schon um Hilfe und sagen: "Wir brauchen zusätzliche Angestellte."

Wir decken das auch alles nur durch Spenden. Dadurch wird es immer schwieriger. Jeder Mitarbeiter, den ich einstelle, kostet mich Geld. Das Geld muss irgendwo herkommen. Deswegen steht uns manchmal das Wasser bis zum Hals bei all diesen Herausforderungen.

Oder nehmen wir mal die Deutschkurse. Meine Tochter unterrichtet in der Einrichtung der Arche in Hellersdorf Deutsch für die Eltern, deren Kinder in unsere Einrichtung kommen. Aber mittlerweile schicken die Jugendämter uns auch Eltern, weil sie selber nicht genug Deutschlehrer haben. Wir haben mit der Ohnmacht des Staates jeden Tag zu tun und ob wir es dauerhaft schaffen werden, weiß ich nicht. Aber wie gesagt: Das Wasser steht uns schon ziemlich weit oben.

Dabei ist die staatliche Unterstützung im Sozialbereich gerade für Kinder und Familien breitgefächert. Warum kommt es aber nicht immer an?

Vielleicht gibt der Staat das Geld zu viel in Bürokratie. Ich habe mit einer Direktorin gesprochen und habe gesagt, in Berlin geben wir 13.000 Euro pro Kind aus. Für die Bildung in Bayern sind es nur 9.600. Trotzdem sind wir beim Bildungsranking an vorletzter Stelle. Wo bleiben denn diese 13.000 Euro? Sie sagte: "Das weiß ich nicht."

Genauso geht es uns auch. Fließt es in die Bürokratie, fließt es in die falschen Kanäle? Wir merken einfach, dass das System überfordert ist. Dass man sich Probleme auch immer wieder in die gleichen Gebiete holt. Ich muss schon wieder über die Geflüchteten reden. Wir haben in den Ballungsgebieten viele geflüchtete Menschen, weil dort der Wohnraum günstig ist. Weil man vielleicht da auch sowieso schon Probleme hat – dann kann man noch mehr Probleme dazu setzen.

In einer Wohlstandsregion entstehen solche Flüchtlingseinrichtungen nicht. Man müsste vielleicht eine bessere Durchmischung stattfinden lassen, damit nicht auch noch Subkulturen entstehen, die wir ja auch noch haben. Also es gibt kaum etwas, mit dem wir nicht zu tun haben. Die Frage ist letztendlich: Wenn das Geld so viel ausgegeben wird, merkt man am Ende des Tages gar nicht, dass es bei dem Bürger so ankommt.

Geben Sie uns einen Einblick in ihre Arbeit. Was macht die Arche besser als der Sozialstaat?

Wir arbeiten nicht an Programmen oder Lerninhalten, sondern wir versuchen, den Menschen als Mensch zu sehen und ihn auch über Beziehung und Liebe zu erreichen. Das heißt, wenn ein neuer Mitarbeiter in die Arche kommt, dann fragen alle Kinder ihn, wie lange er bleibt. Das hat etwas mit Wertigkeit zu tun hat. Diese Wertigkeit haben wir häufig nicht mehr. In der Grundschule werden die Lehrer in der Hälfte der Zeit ausgetauscht. Es fehlt dieser kontinuierliche Ansprechpartner. Wir haben Mitarbeiter, die arbeiten schon seit vielen Jahren am gleichen Kind. Sie sind immer für sie da, kennen die Lebensgeschichten und die Lebensumstände.

Wir gehen sehr niedrigschwellige Wege. Wir klingeln an den Türen, besuchen die Eltern zu Hause, ohne uns anzumelden. Wir versuchen, in allen Bereichen erstmal zu sagen: "Glaub' an dich, mach' was aus deinem Leben und ich unterstütze dich dabei." Und nicht: "Ich erwarte in erster Linie von dir."

Nehmen wir mal die vielen Aufstocker, also alleinerziehende Mütter, die arbeiten gehen und nebenbei noch zum Jobcenter rennen müssen, um da ihr Geld zu holen. Da ist mein Vorschlag zum Beispiel, die Arbeit zu subventionieren. Das Jobcenter soll das Geld direkt an den Arbeitgeber überweisen und dann der Mutter mit aufs Konto, damit sie nicht noch zum Jobcenter gehen muss. Dann hat der Job auch wieder einen Wert. Dann wird die Arbeit subventioniert und sie muss nicht alimentiert werden. Da riefen mich gleich einige Leute vom Jobcenter an und sagten: "Das ist eine großartige Idee, können wir ganz schnell umsetzen und ist für uns viel weniger Bürokratie."

Die Frage ist, warum solche Vorschläge dann eben nicht angenommen werden. Man hat das Gefühl, da sitzen Leute, die sind ohnmächtig. Man sitzt denen gegenüber, aber sie haben keine Ahnung von dem, was an der Basis passiert. Ich glaube, das ist die Herausforderung. Da kommen Politiker in solche Einrichtung wie Bahnhofsmission, Tafel oder Arche gucken sich das an und sagen: "Wow, das ist ja krass, was Sie machen. Vielen Dank." Und das wars.

Was hat sich in der Arbeit der Arche seit seit Beginn der Migrationsbewegung im Jahr 2015 in Deutschland verändert?

Wir merken einen unglaublichen Sozialneid nach zehn Jahren Fluchtsituationen. Wir haben viele Familien, die seit Jahren auf eine Wohnung warten. Wir haben ganz viele Familien mit drei bis sechs Kindern. Die wohnen auf engsten Raum in einer Drei- bis Vier-Raum-Wohnung, finden aber keine Wohnung. Dann bauen Wohnbaugesellschaften in unseren Gebieten Wohnungen und halten diese für die Geflüchteten zurück. Was ich aber auch verstehe, das will ich gar nicht werten. Aber natürlich ist das für die Familien, die seit Jahren versuchen, sich zu verbessern, ihre Lebensumstände zu verändern, ein Problem. Da wächst ein Neid.

Wir merken einen unglaublichen Sozialneid nach zehn Jahren Fluchtsituationen.

Bernd Siggelkow Gründer Kinderhilfswerk "Die Arche"

Ein Problem, das dazu führt, dass dann auch extrem gewählt wird. Da kenne ich leider viele Familien, die sich vergessen fühlen von der Politik. Wir haben immer mehr Menschen, die zu uns kommen und die sozusagen in Ghettos geparkt werden. Da wohnen nur Menschen unter sich. Da entsteht eine Subkultur, eine Ghettoisierung. Wenn man nicht rauskommt und seinen Horizont nicht erweitert, dann muss man sich nicht wundern, dass der Antisemitismus sich ausbreitet. Das haben wir übrigens auch schon lange vor dem 7. Oktober 2023 gesagt, dass wir diese Beobachtung machen. Jetzt merkt die Öffentlichkeit, dass es richtig schlimm geworden ist.

Wir merken jeden Tag, dass sich unsere Kinder immer mehr radikalisieren, weil sie merken, dass ihnen keiner richtig zuhört.

Bernd Siggelkow Gründer Kinderhilfswerk "Die Arche"

Das ist auch ein Vakuum, was vorher da war. Dieses Vakuum wird gefüllt und irgendwann platzt die Bombe. Wir merken jeden Tag, dass sich unsere Kinder immer mehr radikalisieren, weil sie eben merken, dass ihnen keiner richtig zuhört. Wenn sie dann nicht die Möglichkeiten haben, Organisationen wie die Arche zu finden, wo sie aufgeklärt werden, wo ihre Brille abgesetzt wird, dann wird es schwieriger in unserem Land. Das merken wir ganz stark. Die Gewaltbereitschaft hat zugenommen. Nicht nur, weil es eben viele Flüchtlinge gibt, sondern weil junge Leute schon sehr früh erkennen, was ihre Perspektiven sind. Wenn sie keine Perspektive haben, werden sie gewaltbereit.

Das Interview führte Sven Kochale.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 13. April 2025 | 08:16 Uhr

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