Eine Person hat ein Smartphone in den Händen. An den Handgelenken ist die Person mit einer Kette gefesselt. 6 min
Ob Bahnticket oder Arzt- und Behördentermin – ohne Smartphone und Internet geht fast nichts mehr. Wer sich dem verweigert, läuft Gefahr, abgehängt zu werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia

Digitaler Lifestyle oder Digitalzwang? Kein Leben ohne Internet und Smartphone?

12. Juli 2024, 00:01 Uhr

Um im beruflichen und privaten Leben erfolgreich zu sein oder überhaupt daran teilhaben zu können, scheint es immer notwendiger zu werden, digitale Technologien zu nutzen. Der Arbeitgeber, gesellschaftliche Normen und das eigene Bedürfnis, nicht abgehängt zu werden, zwingen uns immer häufiger zu einem weiteren Schritt in Richtung digitale Abhängigkeit.

Wie gut funktioniert eigentlich noch ein Leben jenseits von digitalen Einflüssen?

Filme und Serien über Streamingplattformen schauen, mit Freunden über Social Media in Kontakt bleiben, Online-Banking per Handy, Terminvereinbarung auf der Internetseite der Arztpraxis, E-Rezepte via digitaler Gesundheitskarte einlösen, Schnäppchen nur im Internet, Lebensmittel einkaufen im hybriden Supermarkt, kassenlose Bezahlmöglichkeit, Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr per App kaufen, das Paket aus der App-gesteuerte Packstation holen, ein Auto über eine Carsharing-App mieten oder auch "nur" das Ablesen des Energieverbrauchs oder das Antragstellen auf Einbürgerung und Bürgergeld – digital, versteht sich …

Nahezu alles ist nur noch über digitale Plattformen und Apps – auf sämtlichen (zuvor entsprechend eingerichteten und meist mobilen) Endgeräten online einsehbar, buchbar, kündbar und verabredbar.

Was für die meisten der Generationen jenseits der Formular-und-Kugelschreiber-Zeiten – und damit derer, die noch nie eine Überweisung, Kündigung oder Steuererklärungen per Hand schreiben oder ausfüllen mussten – heute oft vollkommen selbstverständlich ist, lässt viele andere zögern.

Wird die digitale Schranke zur sozialen Barriere?

Immerhin zählen rund drei Millionen Menschen in Deutschland zu den sogenannten Offlinern. Was einer von DeStatis veröffentlichten Studie nach bedeutet, dass fünf Prozent unserer Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 74 Jahren noch nie das Internet genutzt haben.

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Und auch wenn sie nicht aus der besagten Studie hervorgehen, zählen Digital-Experten und Organisationen wie der Paritätische Gesamtverband, die Initiative D21 oder BAGSO, die sich für digitale und soziale Gerechtigkeit aller einsetzen, hier neben einem geringen Einkommen, um sich Internetverträge, -anschlüsse und internetfähige Geräte leisten zu können, bisweilen auch Unwissen und Unsicherheit sowie eine teilweise noch immer fehlende digitale Infrastruktur, insbesondere in ländlichen Gegenden, auf.

Wiederum setzt andere der stetige technische Fortschritt oder eine eventuelle Erfolglosigkeit, Herr über die vielen Digitalangebote und Anwendungen sein zu müssen, unter Druck. Hinzukommen Sorgen und Ängste um Datenschutz und Sicherheitsrisiken.

Bei all dem allerdings auch nicht zu vergessen: Es gibt unter uns immer noch Menschen, die sich bewusst gegen Handynutzung und Internet entscheiden – ganz freiwillig.

Finger tippen auf einer Tastatur mit Video
Möglichst keinen digitalen Fußabdruck im Netz hinterlassen und auf anonymes Surfen setzen? Warum man seine Daten besser schützen und wissen sollte, was Tor, VPN und der Ingoknito-Modus sind. Bildrechte: Colourbox.de

Alle digital unterwegs? Davon sind wir noch weit entfernt.

Journalist und Philosoph Alexander Grau spricht sich für ein Recht auf ein analoges Leben, ohne Smartphone, aus. Die zunehmende Digitalisierung auf alle Lebensbereiche sieht er kritisch. In einem Beitrag von NDR Story stellt er unter anderem die Frage: "Wie demokratisch ist das eigentlich?"

Alexander Grau erklärt: "Hier passiert einfach etwas – und zwar historisch unumkehrbar – über das wir nie abgestimmt haben. Und da stellt sich natürlich sehr wohl die Frage, ob wir uns von dieser – einer einzigen Technologie und letzten Endes von diesem einen albernen kleinen Gerät – nämlich diesem Smartphone – wirklich abhängig machen wollen – und dass wir uns eigentlich ein Leben schaffen, das auf allen Bereichen – Konsum, Behördengänge, Gesundheitsversorgung bis zur Partnerschaftswahl – dass unser ganzes Leben auf dieses kleine Kästchen angewiesen ist. Das ist auch ein hohes Maß an Unfreiheit."

Wahlfreiheit – Grundrecht auf analoges Leben

Ein Leben ohne Internet, ohne Smartphone, ohne Apps – das muss möglich sein und bleiben. Dieser Meinung ist auch Leena Simon. Die Netzphilosophin arbeitet für die Initiative Digitalcourage, die ein "Recht auf Leben ohne Digitalzwang" im Grundgesetz verankern will. Die Forderung an den Bundestag beinhaltet, dass es zu digitalen Angeboten stets auch eine analoge oder datenschutzfreundliche Alternative geben muss.

"In dem Moment, wo ich faktisch gar keine andere Wahl mehr habe, weil ich zum Beispiel auf dem Bürgeramt Termine nur noch online kriege oder weil ich nur noch mit der Bahn reisen kann, wenn ich ein Smartphone habe, ist ja ein faktischer Zwang gegeben", verweist Leena Simon im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur auf die Kehrseite des digitalen Standard, der im Umkehrschluss schon heute auch dazu führt, dass Menschen ohne Internet und Smartphone an einigen Stellen nicht mehr am öffentlichen Leben teilhaben können.

Leena Simon zählt dennoch nicht zu den Technologie-Gegnern. Vielmehr sieht sie parallel zu alternativen Dienstabwicklungen ohne Internetzwang auch eine Chance darin, wenn Unternehmen und Dienstleister bessere technische Lösungen anbieten würden. Verärgert zeigt sie sich hingegen beispielsweise über Krankenkassen, Banken und Co., die ihre Apps ausschließlich in Verbindung mit einem Google-Account für den Download zur Verfügung stellen. Die Hürde dabei: Ohne Google-Account keine Apps!

Leena Simon erklärt: "Es kann doch nicht wahr sein, dass ich, um mit meiner Krankenkasse zu tun zu haben, erst ein Geschäftsverhältnis mit Google eingehen muss. Das ist ein US-Konzern, der überhaupt nichts mit meinen Gesundheitsdaten am Hut hat und der, wie ich finde, da auch nichts verloren hat. Ich selbst nutze einfach kein Google. Zu den Apps, um die es geht, habe ich überhaupt keinen Zugang. Und dann muss ich halt immer wieder sagen: 'Entschuldigung, stellen Sie die App bitte anders zur Verfügung, weil so krieg ich sie nicht.'"

Dem Internetzwang Einhalt bieten

Auch die Frage der technischen Sicherheit hält Leena Simon bei ihren Überlegungen um alternative analoge Möglichkeiten für einen weiteren, wichtigen Aspekt:

"Wenn es wirklich darum geht, die Teilhabe am öffentlichen Leben – also die Grundversorgung – sicherzustellen, dann muss es [...] eine alternative Option geben. In dem Moment, wo Technik ausfällt, braucht es ja eine Vollback-Option. [...] Auch was Sicherheitsaspekte angeht, ist es wirklich keine gute Empfehlung, sich da rein auf Technik zu verlassen. Da sollte es auch immer noch eine analoge Alternative dazu geben. Und die nutzt dann auch denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer, sagen: Ich möchte es lieber noch auf dem analogen Weg tun."

Digitale Kluft verringern

Auf der anderen Seite setzen sich inzwischen viele Initiativen dafür ein, möglichst allen Menschen den Zugang zum Internet, zu digitalen Anwendungen und Angeboten zu ermöglich. Ob Internet- und Smartphone-Kurse für Seniorinnen und Senioren oder eine Vor-Ort-Hilfe im Verein: Es gibt schon einige, dennoch aber zu wenige Möglichkeiten, um alle Interessenten zu erreichen. Wichtig ist jedoch die Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Geschwindigkeiten eines jeden, um bei der Digitalisierung einsteigen oder auch Schritthalten zu können.

In Sachen digitale Gerechtigkeit seien unter anderem auch die Politik und Wirtschaft gefordert, findet Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Netzwerks für die digitale Gesellschaft "Initiative D21". Im Gespräch mit Deutschlandfunk zum Thema "Vielfach nur noch digital – der zunehmende Online-Zwang" erzählt sie: "Ich wünsche mir, dass es positive Erfahrungsmöglichkeiten in den jeweiligen Lebensumgebungen der Menschen gibt – bei jüngeren sind das ganz andere als bei den älteren. Ich wünsche mir, dass es konkret Angebote weiterhin vor Ort gibt. Dass man da aber [...] kreative neue Ideen entwickelt, wie man Angebote gestalten kann, um wirklich auch vor Ort eine Unterstützung zu geben. Und ich wünsche mir auch, dass wir in eine kontinuierliche Nachsorge kommen, dass wenn man sich so ein Gerät angeschafft hat, dass man da auch eine Möglichkeit hat, Nachsorge zu treffen. Und das wird eine Finanzierungsthematik sein. Ich glaube, wir brauchen da eine Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen."

Im selben Gespräch führt auch Gwendolyn Stilling, Sprecherin des Paritätischen Gesamtverbands, bei dem sie das Projekt: #GleichImNetz zur digitalen Teilhabe leitet, aus. "Wir müssen die Chancen der Digitalisierung positiv nutzen, sodass sie auch das Leben für viele Menschen leichter macht. Und das funktioniert nur, wenn wir digitale Teilhabe wirklich für alle ermöglichen, jeden mitnehmen, keinen zurücklassen. Und dafür braucht es Geld, dafür braucht es Unterstützung."

Medien im Fokus

Ein Mann ist in drei Situationen abgebildet: in nachdenkender Pose, mit einem Tablet in der Hand, mit einer Kamera in der Hand. Im Hintergrund ist eine Fernsehregie zu sehen.
Reporter wie Olaf Nenninger arbeiten oft unter Zeitdruck, damit ein Nachrichtenbeitrag noch am selben Tag gesendet werden kann. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Foto: Daniela Dufft
Ein Mann im Rollstuhl spricht in eine Kamera auf einem Stativ.
Aus dem digitalen Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen mit einer Krankheit machen, können Betroffene Hoffnung und Mut schöpfen. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Ein Reporter steht in kniehohem Wasser und spricht in ein Mikrofon. Eine Person mit Kamera filmt ihn.
Der Klimawandel beeinflusst alle Lebensbereiche. Die Herausforderung für Journalisten ist es, das Thema als Teil ihrer Berichterstattung anzusehen und lösungsorientiert zu berichten. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | dpa
Eine junge Frau sitzt umgeben von Büchern auf dem Boden und filmt sich mit einem Smartphone.
Auf der Videoplattform TikTok diskutieren, empfehlen und rezensieren vor allem junge Frauen in kurzen Videos Bücher. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia

Sicher in der digitalen Welt

Ein Politiker steht vor Mikrofonen, lächelt in die Kamera und reckt beide Daumen nach oben. Das Foto hat mehrere digitale Bildfehler.
Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen meint, Desinformation gefährde die Demokratie. Manche Experten halten die Angst vor Fake News für übertrieben. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Kinder arbeiten im Unterricht auf ihren Tablets.
Ab dem nächsten Schuljahr werden Schulkinder in Thüringen im neuen Fach Medienbildung und Informatik unterrichtet. Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services
Ein Mann und eine Frau posieren mit ihrem Säugling für ein Selfie.
Bevor Kinder fünf Jahre alt sind, sind bereits durchschnittlich 1500 Bilder von ihnen im Netz, so eine Studie. Und einmal online, haben die Eltern keine Kontrolle mehr darüber, wie die Bilder verwendet werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Zwei Kleinkinder sitzen nebeneinander und haben ein Smartphone und ein Tablet in der Hand.
Der Medienkonsum von Kindern kann mittels verschiedener Apps besser von den Eltern kontrolliert werden. Bildrechte: Panthermedia | MDR MEDIEN360G

Rundfunk, Presse und Politik

Im Hintergrund sitzt eine Person. Sie ist nicht erkennbar. Im Vordergrund ist ein Mikrofon zu sehen.
Lokaljournalisten, die in Dörfern und Kleinstädten arbeiten, laufen Gefahr, dass sich ihr Berufsleben auch auf ihr Privatleben auswirkt. Sie haben Sorge vor Übergriffen, weil nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Wohnorte oder Autos häufig bekannt sind. Bildrechte: MDR MEDIEN360G
Stilisierte Grafik zur ARD-Reform mit dem ARD-Logo am Haken eines Krans und einem grafisch dargestellten Baugerüst mit einem Bauarbeiter sowie Geldscheinen im Bildhintergrund. mit Video
Was soll der Öffentlich-Rechtliche leisten? Was soll er kosten? Darüber wird derzeit viel diskutiert. Dass es Reformbedarf gibt, das ist weitgehend Konsens. Nicht nur in der Politik, auch in den Rundfunkanstalten selbst. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G