Person mit Papiertüte auf dem Kopf schreit in ein Megafon. 5 min
Streiten ohne Hass - Welcher Weg führt zurück zu einer konstruktiven Streitkultur? Bildrechte: IMAGO

Meinungsaustausch Lebendige Streitkultur ohne Hass

01. Juli 2024, 11:59 Uhr

Unterschiedliche Meinungen haben und miteinander darüber ins Gespräch zu kommen kann bereichernd sein. Häufig gerät man jedoch in Streit, fühlt sich angegriffen oder nicht gehört. Vor allem in den sozialen Netzwerken äußert sich das in aggressiven Kommentaren.

Vom rauhen Umgangston bis zur virtuellen Gewalt

Migration, Gendern, der Rundfunkbeitrag, Klima: In den sozialen Netzwerken herrscht bei kontroversen Themen oft ein rauer Umgangston. Anfeindungen bis hin zur Anstiftung von Gewalt, rassistische Beleidigungen und ausfällige Kommentare präsentieren sich in den Kommentarspalten längst in einer neuen Dimension: der virtuellen Gewalt.

Der einst lebendigen Streitkultur scheinen Streit und Lebendigkeit abhanden gekommen. Aus Angst vor Anfeindungen und Beleidigungen trauen sich viele Menschen nicht mehr, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Steht die Gesellschaft vor der Spaltung – in diejenigen, die respekt- und emotionslos stets im Angriffsmodus auf Konfrontation gehen und in die, die sich aus den Diskussionen zurückziehen ?

"Das ist sehr negativ geworden. Und es wird auch immer negativer", äußert sich eine Passantin im Gespräch mit MDR MEDIEN360G. "Es ist weiter weg von diesem Zusammenhalt – immer mehr hin zu dieser Einzelmeinung von jedem."

Sachliche Argumentation wird oft überhört

Doch woher kommt dieser Trend, der für viele eine Wand aus Negativität, Respektlosigkeit und manifestierte Gewalt in den sozialen Netzwerken darstellt?

Diese Stimmungslage erforscht Marc Ziegele, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-​Heine-Universität Düsseldorf. Er sagt: "Man redet ja letztendlich in den letzten Jahren vor allem über Hass und Hetze, über Beleidigungen und Co. und schenkt den konstruktiven und den sachlichen Elementen in solchen Diskussionen wenig Aufmerksamkeit. Die gibt es aber." Nur würden sie oftmals überhört.

Das ist [...] ein Problem für unsere Demokratie.

Prof. Dr. Marc Ziegele | Kommunikationswissenschaftler an der Heinrich-​Heine-Universität Düsseldorf

Und "das ist [...] ein Problem für unsere Demokratie, was man angehen sollte", betont der Kommunikationswissenschaftler und verdeutlicht: "Es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass das Lesen von [...] respektlosen Beiträgen, Meinungen polarisieren kann. Also Leute, die davor eine Meinung haben, die werden in ihren Meinungen noch verhärteter, nachdem sie solche Kommentare gelesen haben und quasi noch kompromissloser gegenüber dem anderen Lager. Und das ist natürlich in einer Gesellschaft, die eigentlich auf Kompromisse und Debatte ausgelegt ist, schon problematisch."

Pressefreiheit bedroht

Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Medienbranche. Deren Glaubwürdigkeit wird vor allem in Kommentaren häufig in Frage gestellt. Kritik an Beiträgen, die nicht die eigene Meinung betreffen, wird lauter und findet oft nicht mehr nur im digitalen Raum statt.

Im Hintergrund sitzt eine Person. Sie ist nicht erkennbar. Im Vordergrund ist ein Mikrofon zu sehen.
Lokaljournalisten, die in Dörfern und Kleinstädten arbeiten, laufen Gefahr, dass sich ihr Berufsleben auch auf ihr Privatleben auswirkt. Sie haben Sorge vor Übergriffen, weil nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Wohnorte oder Autos häufig bekannt sind. Bildrechte: MDR MEDIEN360G

"Zunehmende Medienfeindlichkeit: Zahl der Angriffe auf Journalisten erneut gestiegen" titelt der MDR in einem Beitrag, der die aktuellen Zahlen zur "Feindbildstudie" des European Centre for Press and Media Freedom von gewalttätigen Übergriffen gegen Medienschaffende veröffentlicht. So gab es 2023 deutschlandweit 41 Angriffe auf Medienvertreter und -redaktionen, die Dunkelziffer ist um einiges höher.

"Eine große Zäsur für die Lage der Pressefreiheit in Deutschland war auf jeden Fall die Pandemie", bestätigt Katharina Weiß, Pressesprecherin von Reporter ohne Grenzen, das gegenwärtige Bild vom stetig wachsenden Frust über die aktuelle Politik, der sich immer häufiger an Medienschaffenden entlädt. "Seitdem beobachten wir, wie stark sich pressefeindliche Tendenzen hierzulande und gerade auch in ländlichen Milieus verfestigt haben", erzählt sie.

Wir müssen (anders) reden?!

Mangelnde Diskussionsbereitschaft und verhärtete Fronten sind nicht förderlich, um zu einer angemessenen, bereichernden und konstruktiven Streitkultur zurückzufinden. Dafür bräuchte es neue Impulse – und vielleicht sogar öfter mal ein anderes Satzzeichen:

Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke analysiert im Gespräch mit dem NDR Kultur, dass viele in der Politik – aber auch im Netz – getätigte Äußerungen häufig und teils sogar mit mehreren Ausrufezeichen versehen seien, was oft allein "eine Absolutsetzung der eigenen Meinung" unterstreiche. Albrecht von Lucke wertet dies als Form "einer gewissen hermetischen Abriegelung der eigenen Argumentation" und meint außerdem: Es signalisiert unter anderem, "dass man nicht mehr bereit sei, andere Meinungen überhaupt noch anzuhören und in den Diskurs oder in die Debatte zu gehen."

Dahingehen schlussfolgert von Lucke: "Wir müssen ungeheuer aufpassen, dass diese Kultur des Ausrufezeichens nicht zu manifester Gewalt wird. Dann geht jede Demokratie zugrunde." Eine erste Lösung, die er dafür sieht: "Das Fragezeichen wäre ein großer Gewinn. Fragen stellen, um das eigene Argument zur Sprache zu bringen, wäre ein Gewinn."

Die Zivilgesellschaft selbst muss irgendwie lernen, zu streiten – ohne sich zu hassen.

Prof. Dr. Marc Ziegele | Kommunikationswissenschaftler an der Heinrich-​Heine-Universität Düsseldorf

Auch Kommunikationswissenschaftler Marc Ziegele spricht sich dafür aus, dass wir lernen sollten, die Argumente des anderen wieder zu hören. Er wünscht sich: "Die Zivilgesellschaft selbst muss irgendwie lernen, zu streiten – ohne sich zu hassen."

Medien, Meinungsbildung, Streitkultur

Auf einem Gewässer schwimmt ein durchsichtiger Ball, in dem eine Person steht.
Durch den Einfluss von Algorithmen in (Sozialen) Medien können sogenannte Filterblasen entstehen, in denen nur bestimmte Themen und Meinungen stattfinden. Bildrechte: picture alliance/dpa
Ein Reporter steht in kniehohem Wasser und spricht in ein Mikrofon. Eine Person mit Kamera filmt ihn.
Der Klimawandel beeinflusst alle Lebensbereiche. Die Herausforderung für Journalisten ist es, das Thema als Teil ihrer Berichterstattung anzusehen und lösungsorientiert zu berichten. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | dpa
Kinder arbeiten im Unterricht auf ihren Tablets.
Ab dem nächsten Schuljahr werden Schulkinder in Thüringen im neuen Fach Medienbildung und Informatik unterrichtet. Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services

Sicher in der digitalen Welt

Ein Politiker steht vor Mikrofonen, lächelt in die Kamera und reckt beide Daumen nach oben. Das Foto hat mehrere digitale Bildfehler.
Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen meint, Desinformation gefährde die Demokratie. Manche Experten halten die Angst vor Fake News für übertrieben. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia
Ein Mann und eine Frau posieren mit ihrem Säugling für ein Selfie.
Bevor Kinder fünf Jahre alt sind, sind bereits durchschnittlich 1500 Bilder von ihnen im Netz, so eine Studie. Und einmal online, haben die Eltern keine Kontrolle mehr darüber, wie die Bilder verwendet werden. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Panthermedia

Rundfunk, Presse und Politik

Eine Europa-Karte auf der europäische Länder in drei Farben eingefärbt sind. Die Karte befindet sich unter Sonar-Kreisen, auf denen Zeitungs-, Fernseh- und Radio-Symbole platziert sind. mit Video
Rundfunkbeitrag, Steuer oder beides? Für die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt es in Europa unterschiedliche Systeme. Bildrechte: MEDIEN360G
Im Hintergrund sitzt eine Person. Sie ist nicht erkennbar. Im Vordergrund ist ein Mikrofon zu sehen.
Lokaljournalisten, die in Dörfern und Kleinstädten arbeiten, laufen Gefahr, dass sich ihr Berufsleben auch auf ihr Privatleben auswirkt. Sie haben Sorge vor Übergriffen, weil nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Wohnorte oder Autos häufig bekannt sind. Bildrechte: MDR MEDIEN360G