Meinungsaustausch Lebendige Streitkultur ohne Hass
Hauptinhalt
01. Juli 2024, 11:59 Uhr
Unterschiedliche Meinungen haben und miteinander darüber ins Gespräch zu kommen kann bereichernd sein. Häufig gerät man jedoch in Streit, fühlt sich angegriffen oder nicht gehört. Vor allem in den sozialen Netzwerken äußert sich das in aggressiven Kommentaren.
Vom rauhen Umgangston bis zur virtuellen Gewalt
Migration, Gendern, der Rundfunkbeitrag, Klima: In den sozialen Netzwerken herrscht bei kontroversen Themen oft ein rauer Umgangston. Anfeindungen bis hin zur Anstiftung von Gewalt, rassistische Beleidigungen und ausfällige Kommentare präsentieren sich in den Kommentarspalten längst in einer neuen Dimension: der virtuellen Gewalt.
Der einst lebendigen Streitkultur scheinen Streit und Lebendigkeit abhanden gekommen. Aus Angst vor Anfeindungen und Beleidigungen trauen sich viele Menschen nicht mehr, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Steht die Gesellschaft vor der Spaltung – in diejenigen, die respekt- und emotionslos stets im Angriffsmodus auf Konfrontation gehen und in die, die sich aus den Diskussionen zurückziehen ?
"Das ist sehr negativ geworden. Und es wird auch immer negativer", äußert sich eine Passantin im Gespräch mit MDR MEDIEN360G. "Es ist weiter weg von diesem Zusammenhalt – immer mehr hin zu dieser Einzelmeinung von jedem."
Sachliche Argumentation wird oft überhört
Doch woher kommt dieser Trend, der für viele eine Wand aus Negativität, Respektlosigkeit und manifestierte Gewalt in den sozialen Netzwerken darstellt?
Diese Stimmungslage erforscht Marc Ziegele, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er sagt: "Man redet ja letztendlich in den letzten Jahren vor allem über Hass und Hetze, über Beleidigungen und Co. und schenkt den konstruktiven und den sachlichen Elementen in solchen Diskussionen wenig Aufmerksamkeit. Die gibt es aber." Nur würden sie oftmals überhört.
Das ist [...] ein Problem für unsere Demokratie.
Und "das ist [...] ein Problem für unsere Demokratie, was man angehen sollte", betont der Kommunikationswissenschaftler und verdeutlicht: "Es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass das Lesen von [...] respektlosen Beiträgen, Meinungen polarisieren kann. Also Leute, die davor eine Meinung haben, die werden in ihren Meinungen noch verhärteter, nachdem sie solche Kommentare gelesen haben und quasi noch kompromissloser gegenüber dem anderen Lager. Und das ist natürlich in einer Gesellschaft, die eigentlich auf Kompromisse und Debatte ausgelegt ist, schon problematisch."
Pressefreiheit bedroht
Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Medienbranche. Deren Glaubwürdigkeit wird vor allem in Kommentaren häufig in Frage gestellt. Kritik an Beiträgen, die nicht die eigene Meinung betreffen, wird lauter und findet oft nicht mehr nur im digitalen Raum statt.
"Zunehmende Medienfeindlichkeit: Zahl der Angriffe auf Journalisten erneut gestiegen" titelt der MDR in einem Beitrag, der die aktuellen Zahlen zur "Feindbildstudie" des European Centre for Press and Media Freedom von gewalttätigen Übergriffen gegen Medienschaffende veröffentlicht. So gab es 2023 deutschlandweit 41 Angriffe auf Medienvertreter und -redaktionen, die Dunkelziffer ist um einiges höher.
"Eine große Zäsur für die Lage der Pressefreiheit in Deutschland war auf jeden Fall die Pandemie", bestätigt Katharina Weiß, Pressesprecherin von Reporter ohne Grenzen, das gegenwärtige Bild vom stetig wachsenden Frust über die aktuelle Politik, der sich immer häufiger an Medienschaffenden entlädt. "Seitdem beobachten wir, wie stark sich pressefeindliche Tendenzen hierzulande und gerade auch in ländlichen Milieus verfestigt haben", erzählt sie.
Wir müssen (anders) reden?!
Mangelnde Diskussionsbereitschaft und verhärtete Fronten sind nicht förderlich, um zu einer angemessenen, bereichernden und konstruktiven Streitkultur zurückzufinden. Dafür bräuchte es neue Impulse – und vielleicht sogar öfter mal ein anderes Satzzeichen:
Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke analysiert im Gespräch mit dem NDR Kultur, dass viele in der Politik – aber auch im Netz – getätigte Äußerungen häufig und teils sogar mit mehreren Ausrufezeichen versehen seien, was oft allein "eine Absolutsetzung der eigenen Meinung" unterstreiche. Albrecht von Lucke wertet dies als Form "einer gewissen hermetischen Abriegelung der eigenen Argumentation" und meint außerdem: Es signalisiert unter anderem, "dass man nicht mehr bereit sei, andere Meinungen überhaupt noch anzuhören und in den Diskurs oder in die Debatte zu gehen."
Dahingehen schlussfolgert von Lucke: "Wir müssen ungeheuer aufpassen, dass diese Kultur des Ausrufezeichens nicht zu manifester Gewalt wird. Dann geht jede Demokratie zugrunde." Eine erste Lösung, die er dafür sieht: "Das Fragezeichen wäre ein großer Gewinn. Fragen stellen, um das eigene Argument zur Sprache zu bringen, wäre ein Gewinn."
Die Zivilgesellschaft selbst muss irgendwie lernen, zu streiten – ohne sich zu hassen.
Auch Kommunikationswissenschaftler Marc Ziegele spricht sich dafür aus, dass wir lernen sollten, die Argumente des anderen wieder zu hören. Er wünscht sich: "Die Zivilgesellschaft selbst muss irgendwie lernen, zu streiten – ohne sich zu hassen."