Hintergrund Regierungskrise in der Ukraine: Was hinter den Kulissen läuft

17. Januar 2020, 14:54 Uhr

Der ukrainische Ministerpräsident Hontscharuk hat seinen Rücktritt angekündigt, weil seine abfälligen Äußerungen über Präsident Selenskyj geleakt wurden. Krisenstimmung in der Ukraine. Für unseren Ostblogger kommt das nicht überraschend.

Oleksij Hontscharuk
Der ukrainische Ministerpräsident Olexij Hontscharuk Bildrechte: imago images / Ukrinform

Der ukrainische Ministerpräsident Olexij Hontscharuk hat seinen Rücktritt eingereicht, weil seine despektierlichen Äußerungen über Präsident Selenskyj geleakt worden sind. Wo wurden die Infos veröffentlicht?

Das Gespräch des ukrainischen Ministerpräsidenten - u.a. mit der Finanzministerin sowie mit dem Nationalbankchef - wurde auf einem anonymen YouTube-Channel veröffentlicht. Der Name des Channels: "Wie man den Präsidenten betrügt."

Weiß man schon, wer die Informationen veröffentlich hat?

Die Veröffentlichung kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem eher übersichtlichen Lager des mächtigen Oligarchen Ihor Kolomojskyj innerhalb der Regierungspartei "Diener des Volkes". Dieses Lager hat die aktuelle Regierung bereits wiederholt laut kritisiert, u.a. wegen der erhöhten Gehälter.

Schlittert die Ukraine damit in eine Regierungskrise?

Ja. Und es ist aus meiner Sicht eine Krise, die schon länger dauert. Hontscharuk ist bisher kein besonders erfolgreicher Ministerpräsident, für viele in der Bevölkerung ist er längst eine Lachnummer. Aber Hontscharuk hat in der Ukraine vorher eine EU-finanzierte Organisation zur Unterstützung der Reformen geleitet. Er ist quasi der Mann der EU bzw. des Westens in der Regierung und steht eindeutig für einen prowestlichen Kurs. Dieses prowestliche Lager besetzt in der ukrainischen Regierung die wichtigsten Positionen. Kolomojskyj ist damit unzufrieden. Er hätte gerne mehr Einfluss auf die Regierung. Schließlich hat sein Medienimperium, zu dem auch die wichtigste Nachrichtensendung des Landes "TSN" im Sender 1+1 gehört, massiv dazu beitragen, dass Selenskyj überhaupt zum Präsidenten wurde. Dieses Imperium schießt nun gegen die Regierung, aber nicht gegen Selenskyj selbst. Wichtig ist dabei auch, dass Kolomojskyj inzwischen einen Konflikt mit dem Westen hat, denn in den USA wird gegen ihn angeblich wegen Geldwäsche ermittelt.

Es heißt, dass über das Rücktrittgesuch Hontscharuks nun das Parlament entscheiden muss. Wann wird das geschehen?

Hontscharuk ist heute im ukrainischen Parlament im Rahmen der sogenannten "Stunde der Regierung" aufgetreten. Der Tenor seiner Ausführungen: Wir haben viel für das Land getan, würden aber gerne noch mehr leisten. Er wartet nun auf die grundsätzliche Entscheidung von Präsident  Selenskyj. Über den Rücktritt des Ministerpräsidenten müsste aber in der Tat das Parlament entscheiden. Ob das noch heute passiert ist nicht ganz klar, denn das Rücktrittsangebot ist beim Parlament noch nicht offiziell angekommen. Sollte es nicht heute passieren, wird sich die Sache wohl noch etwas hinziehen, denn offiziell tagt das Parlament erst wieder im Februar.

Wie stehen die Chancen, dass Hontscharuk tatsächlich seinen Posten verliert?

Hontscharuk setzt Selenskyj mit seinem Rücktrittsangebot unter Druck. Für Selenskyj wäre es sicher eher ein Fehler, den Rücktritt des Ministerpräsidenten zu unterstützen, weil es dann so aussehen würde, als hätte das Kolomojskyj-Lager gewonnen. Das wird Selenskyj eventuell vermeiden wollen. Ein Bekenntnis zu Hontscharuk würde es ihm dagegen unmöglich machen, Hontscharuk dann in einem Monat doch noch zu entlassen. Aber ich denke, hier wird sowieso höchstens das vertagt, was ohnehin in der Zukunft passieren wird. Denn auch die ukrainische Zivilgesellschaft ist mit Hontscharuks Arbeit nicht besonders zufrieden. Und egal, ob er nun noch heute oder erst in einem halben Jahr seinen Stuhl räumen muss, das Ganze zeigt, wie zerbrechlich die Machtstrukturen um Selenskyj und seine Partei "Diener des Volkes" sind. 

Wie reagiert die Öffentlichkeit in der Ukraine auf diese Vorgänge?

Es herrscht schon seit Tagen eine etwas aufgeregte Stimmung, weil Information über erhöhte Gehälter vieler Regierungsmitglieder bzw. deren Stellvertreter die Runde gemacht haben. Dann kam am Mittwochabend das geleakte Gespräch, über dass gestern viel gesprochen wurde. Man nimmt das schon wahr. Man muss aber auch sagen, dass die Bekanntheit des Ministerpräsidenten Hontscharuk im Vergleich zu Selenskyj gering ist. Das heißt, die Menschen auf der Straße reden eher generell über die schlechte Regierung als über Hontscharuk selbst. Selenskyj selbst steht aus meiner Sicht in der öffentlichen Wahrnehmung jedenfalls ganz gut da, nach dem Motto: Er mag keine Ahnung haben, aber er kümmert sich. Also guter Präsident, schlechte Regierung, so lässt sich das wohl zusammenfassen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Januar 2020 | 10:00 Uhr

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